FREMDSPRACHENTEXTE Tango, Bolero, Copla … Canciones populares modernas de España y de Hispanoamérica Ausgewählt und herausgegeben von Hartmut Nonnenmacher Philipp Reclam jun. Stuttgart Diese Ausgabe darf nur in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und in der Schweiz vertrieben werden. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 19726 Alle Rechte vorbehalten Copyright für diese Ausgabe © 2009 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Das Umschlagfoto zeigt den argentinischen Tango-Sänger und -Komponisten Carlos Gardel (1890–1935), einen der ersten Popstars des 20. Jahrhunderts Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2009 RECLAM , UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN 978-3-15-019726-4 www.reclam.de Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I Tango . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tango argentino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . El choclo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mi Buenos Aires querido . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bandoneón arrabalero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cafetín de Buenos Aires . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Margot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Si soy así . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Malevaje . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carnaval . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cuesta abajo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sus ojos se cerraron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cambalache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volver . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 20 21 23 25 26 28 30 32 34 36 38 40 43 II Bolero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dos gardenias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Contigo en la distancia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Puro teatro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Me voy pa’l pueblo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La nave del olvido . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Piensa en mí . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . El reloj . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Obsesión . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La Macorina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . El último trago . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flores negras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 53 54 55 56 57 59 60 61 62 63 65 4 Inhalt Envidia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolero de Mastropiero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 67 III Corrido . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Corrido del General Felipe Ángeles . . . . . . . . . . . Gabino Barrera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La tumba de Villa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Los dos hermanos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Juan Charrasqueado . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . El gato Félix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La banda del carro rojo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Contrabando y traición . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somos más americanos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . América . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La tumba de un mojado . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jaula de oro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 75 77 79 80 82 84 86 88 90 92 94 96 IV Copla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ojos verdes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tatuaje . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . No te mires en el río . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La Zarzamora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Las cositas del querer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . María la portuguesa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Habanera de Cádiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 105 107 109 112 115 116 119 V Canción de autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Te recuerdo Amanda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cita con ángeles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mediterráneo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rosas en el mar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Las cuatro y diez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La Puerta de Alcalá . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A quién le importa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 128 129 133 135 137 138 141 Inhalt 5 Veneno en la piel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pongamos que hablo de Madrid . . . . . . . . . . . . . . Una de romanos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La casa por la ventana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 144 145 148 Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Register der Liedtitel und -anfänge . . . . . . . . . . . . . . . 157 Vorwort Keine andere Spielart von Dichtung entfaltet in der modernen Gesellschaft eine solche Massenwirkung wie die Texte der Populärmusik. Während Lyrik im eigentlichen literarischen Sinn ein Schattendasein in Ausgaben mit geringer Auflage fristet, werden die Verse der erfolgreichsten Lieder populärer Musik zum Gemeingut von Millionen von Hörern und prägen deren Vorstellungswelt. In besonderem Maße gilt dies für die spanischsprachigen Länder. Denn im deutschsprachigen Raum etwa ist die Wirkung der Texte dadurch eingeschränkt, dass ein Großteil von ihnen englisch und damit für viele Hörer nicht unmittelbar zugänglich ist. Hingegen nehmen in fast allen spanischsprachigen Ländern in der eigenen Sprache abgefasste Liedtexte einen weit größeren Raum ein. Natürlich kann sich das Verhältnis von Text und Instrumentalmusik in verschiedenen Stilrichtungen ganz unterschiedlich gestalten. So dienen in manchen Formen etwa der karibischen Musik oder auch des Flamenco oftmals sehr kurze und in der Darbietung mitunter kaum verständliche Texte eher als schmückendes Beiwerk für Melodie und Rhythmus, wohingegen Liedformen wie etwa der mexikanische Corrido oder die »Canción de autor« (Autorenlied) das Schwergewicht auf den Text legen und die Instrumentalmusik nur als begleitende Untermalung verwenden. Andere Gattungen sind zwischen diesen beiden Extremen angesiedelt, so etwa der Tango, der als gesanglose Instrumental- und Tanzmusik, aber auch als sparsam instrumentierter Tango-Canción mit ausgefeiltem und oft hintergründigem Text oder auch als Mischung aus beidem dargeboten werden kann. Ähnliches 8 Vorwort gilt für den aus dem karibischen Raum stammenden Bolero, der auch als Tanzmusik gespielt wird. Vor dem Ende des 19. Jahrhunderts konnte jegliche Art von Musik nur durch das verbreitet werden, was wir heute Live-Auftritte nennen. Während für ernste Musik früh schon Notenschriften entwickelt wurden, die eine schriftliche Weitergabe von Melodie und Text erlaubten, blieb Populär- oder Volksmusik lange Zeit im Wesentlichen auf mündliche Überlieferung angewiesen. Ihre zumeist anonym bleibenden Interpreten hatten einen Status, der sich eher mit dem von Handwerkern als von Künstlern vergleichen lässt: Sie wurden für Auftritte zu besonderen Ereignissen wie Familienfeiern und anderen Festlichkeiten engagiert, wie es heute noch etwa in Mexiko mit den sogenannten Mariachis üblich ist. Doch ab dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden zunehmend Techniken entwickelt, die es möglich machten, Musik nicht mehr nur in der unmittelbaren Darbietung durch Musiker zu konsumieren, sondern auch in mittelbarer oder mediatisierter Form: Zunächst verschiedene Arten von Tonträgern – darunter als zukunftsträchtigster die Schallplatte –, dann zu Beginn der 1920er Jahre der Rundfunk und gegen 1930 schließlich der Tonfilm. Diese neuen Medien veränderten nicht nur die Art und Weise des Musikkonsums, sondern auch die Reichweite von Musik und den Status ihrer Produzenten. Waren die frühen Tonträger noch so teuer, dass sie bis zum ersten Weltkrieg ein Luxusgut blieben, so sorgten Rundfunk und Tonfilm dafür, dass bestimmte Musikstücke und auch ihre Interpreten Zugang zu Menschenmassen von zuvor nicht gekanntem Ausmaß fanden. Dadurch entstanden für die moderne Populärmusik so charakteristische Phänomene wie der Hit und der Star: Nicht nur die Melodien, sondern auch die Texte erfolgrei- Vorwort 9 cher Lieder prägten sich ganzen Gesellschaften ein und die Interpreten dieser Lieder, deren Stimmen und Gesichter man vorwiegend aus Medien – Schallplatten, Rundfunk, Film, Illustrierte – kannte, wurden wie Sterne an einen Himmel der Berühmtheit entrückt und bei ihren seltenen Ausflügen aus diesen Höhen in das irdische Leben der Massen enthusiastisch umjubelt. Zu einem der ersten Stars dieses neuen Zeitalters der medialen Populärmusik wurde der argentinische Sänger Carlos Gardel, der 1917 seinen ersten Tango aufnahm, danach durch Rundfunk, Tourneen und zahlreiche Auftritte in Filmen zum Star und 1935 durch seinen frühen und tragischen Unfalltod endgültig zur Legende wurde. In den Gesellschaften der spanischsprachigen Länder fiel die mediale Revolution der Populärmusik mit einem enormen Wachstum der städtischen Bevölkerung zusammen. Unter diesen Vorzeichen entstanden Liedgattungen wie der argentinische Tango, der kubanisch-mexikanische Bolero und die spanische Copla, die allesamt zwar Vorläufer in der Volksmusik des vormedialen Zeitalters hatten, jedoch erst durch die Möglichkeiten der neuen Medien und die Ausrichtung auf ein städtisches Massenpublikum ihre endgültige Form annahmen. Bemerkenswert ist dabei, dass die Populärmusik aus den verschiedenen Teilen der spanischsprachigen Welt nicht auf ihre Herkunftsländer beschränkt blieb, sondern oft schnell quasi panhispanischen Charakter annahm: Carlos Gardel war und ist in praktisch allen spanischsprachigen Ländern berühmt, Boleros wurden bald nicht mehr nur in Kuba und Mexiko, sondern auch in Argentinien, Peru, Spanien usw. geschrieben und gesungen und spanische Liedermacher wie Joan Manuel Serrat und Joaquín Sabina werden heute auch fast überall im spanischsprachigen Amerika gehört. Die allen Mitgliedern der 10 Vorwort spanischen Sprachgemeinschaft zugänglichen Texte der Populärmusik bilden somit im 20. und wohl auch im 21. Jahrhundert eine der wichtigsten Klammern, die den in zwanzig Staaten unterteilten hispanischen Kulturraum zusammenhalten. Um so wichtiger ist es für Spanischlerner, die sich mit diesem Kulturraum vertraut machen wollen, auch Texte der Populärmusik kennenzulernen, die für Mexikaner, Argentinier, Kolumbianer und Spanier zum selbstverständlichen – wenn auch oft unbewussten – Bestand ihres kulturellen Wissens gehören. Die vorliegende Auswahl von Liedtexten versucht, einen solchen Zugang zu erleichtern. Als Kriterien für die Auswahl dienten einerseits der Bekanntheitsgrad der Liedtexte, andererseits auch die Qualität und die landeskundliche Relevanz der Texte sowie ihre Verwendbarkeit für den Spanischunterricht. Von vielen Liedtexten sind verschiedene Versionen im Umlauf, wobei hier nur jeweils eine Fassung berücksichtigt werden konnte. Natürlich werden Kenner der spanischsprachigen Populärmusik wichtige Titel vermissen. Bei der Überfülle an Texten und der Kürze dieser Anthologie kann dies nicht anders sein. Auch die Einteilung in die fünf Kapitel »Tango«, »Bolero«, »Corrido«, »Copla« und »Canción de autor« mag man kritisieren: Bei manchen Liedern und Interpreten ist keine klare Zuordnung möglich – die Mexikanerin Chavela Vargas etwa singt sowohl Boleros als auch Corridos – und es fehlen auf der anderen Seite Liedformen wie die mexikanische »Canción ranchera« (die allerdings eng mit »Corrido« und »Bolero ranchero« verwandt ist) oder der spanische Flamenco (der jedoch durch das Kapitel über die aus ihm hervorgegangene Copla indirekt vertreten ist) oder neue Liedformen wie Rap und Hiphop. Immerhin sind in die meisten der fünf genannten Kapitel auch Liedtexte auf- Vorwort 11 genommen worden, die erst in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, um so ein Panorama der spanischsprachigen Populärmusik des gesamten 20. Jahrhunderts entstehen zu lassen. I Tango Herkunftsregion: Argentinien / Uruguay Außerhalb der spanischsprachigen Welt, so auch in Deutschland, denkt man beim Wort »Tango« zuallererst an einen Tanz: In seiner Entstehungszeit um 1900 war er dies tatsächlich auch in erster Linie in seinen Ursprungsstädten Buenos Aires und Montevideo. Ab 1895 entstand in den beiden Hafenstädten am Río de la Plata, in denen damals Massen von Einwanderern aus Italien, Spanien und anderen europäischen Ländern ankamen, der neue Musik- und Tanzstil des Tango. Einflüsse aus den unterschiedlichsten Himmelsrichtungen flossen im Tango zusammen: Der Candombe genannte Tanz afrikanischer Sklaven und ihrer Nachkommen, das aus dem Landesinneren Argentiniens und Uruguays stammende Tanzlied der Milonga, der aus Kuba eingeführte Rhythmus der Habanera sowie der seinerseits bereits von der Habanera beeinflusste Tango andaluz, der Mitte des 19. Jahrhunderts in der andalusischen Hafenstadt Cádiz entstanden war – alle diese Stile flossen im neuen »Tango argentino« zusammen. Diesem haftete in seinem Entstehungsland zunächst der Ruf an, er sei der Tanz der Bordelle, der Unterwelt und der »conventillos«, also der aus allen Nähten platzenden Mietskasernen, in denen sich die großteils aus Einwanderern bestehenden Massen der Vorstädte von Buenos Aires drängten. Erst als kurz vor dem ersten Weltkrieg der Tango zum Modetanz der feinen Gesellschaft in Paris wurde, begann auch die argentinische Elite sich für das kulturelle Phänomen zu interessieren, das in der Fol- 14 Tango ge zum internationalen Markenzeichen ihres Landes werden sollte. Der bekannteste Tango aus dieser Anfangszeit ist der 1905 von Ángel Gregorio Villoldo (1868/69–1919) komponierte El choclo. Villoldo selbst, der auf ein abenteuerliches Leben als Schlachthofarbeiter, Hilfskutscher, Zirkusclown, Journalist und Schauspieler zurückblicken konnte, schrieb auch einen Text auf die Melodie seiner erfolgreichsten Komposition. Doch die berühmteste Textfassung für El choclo schuf erst in den 1940er Jahren der große Tangotextdichter Enrique Santos Discépolo (1901– 1951), Sohn eines aus Neapel stammenden Musikers. In Discépolos Version des Textes von El choclo wird die Geburt des Tango aus dem Geist des »suburbio«, der Vorstadt von Buenos Aires, sowie seine anschließende »Reise nach Paris« heraufbeschworen. Villoldo war der wichtigste Exponent der ersten Generation von Tangomusikern und -komponisten, der sogenannten »alten Garde« (1895–1917). Um 1917 vollzog sich mit der Entstehung des »Tango-Canción«, also des Tangoliedes, der Übergang zur »neuen Garde«: In diesem Jahr spielte der berühmteste aller Tangosänger, Carlos Gardel (1890–1935), seine erste Schallplattenaufnahme eines Tangolieds ein. Gardel soll als Charles Romuald Gardés im Jahr 1890 im französischen Toulouse geboren sein und war in jungen Jahren unter nicht mehr genau rekonstruierbaren Umständen mit seiner Mutter nach Buenos Aires gekommen. Dass Gardel es in den 1920er und 1930er Jahren zu einem enormen internationalen Bekanntheitsgrad und Erfolg bringen konnte, hatte viel mit der Entwicklung neuer technischer Möglichkeiten der Verbreitung von Musik zu tun: Waren Schallplatten teuer und für ein Massenpublikum zunächst kaum zugänglich, so ermöglichte in den 1920er Jahren das Radio und ab 1930 dann der Tonfilm, dass Gardels Stimme von Aber- Tango 15 millionen Menschen gehört werden konnte. 1923 reiste Gardel zum ersten Mal nach Europa, debütierte dort zunächst in Madrid, 1925 dann in Paris und ab 1931 drehte er für die Paramount in Hollywood eine ganze Reihe von Musikfilmen, die teilweise die gleichen Titel wie die berühmtesten der von ihm interpretierten Tangos trugen. Um von einem der ersten Popstars des 20. Jahrhunderts zur Kultfigur zu werden, fehlte Gardel nur noch der frühe und spektakuläre Tod: Im Jahr 1935 ereilte ihn ein solcher beim verunglückten Start seines Flugzeugs im kolumbianischen Medellín. Der Mythos Gardel, der damit geboren war, lebt bis heute fort. Nicht nur die dem Besucher von Buenos Aires ins Auge springende Präsenz von Porträts des lächelnden Gardel belegt dies, sondern auch die Vielzahl kultureller Hervorbringungen über den Tangostar bis in die jüngste Zeit hinein: So stellt etwa der spanische Regisseur Jaime Chávarri in seinem nach einem der größten Erfolge Gardels benannten Biopic Sus ojos se cerraron (1997) wichtige Stationen im Leben Gardels dar und strickt dabei – ebenso wie dies bereits die Argentinier Jorge Zentner und Rubén Pellejero in einem 1991 unter dem Titel Dolce Vita auf Deutsch erschienenen Comic (Originaltitel: Caribe) getan hatten – an der Legende weiter, Gardel habe 1935 gar nicht in dem verunglückten Flugzeug gesessen und sei folglich danach noch am Leben gewesen. Mit den Mythen, die sich um Gardels Biographie ranken, setzt sich auch der argentinische Schriftsteller Horacio Vázquez-Rial in dem 2006 auf Deutsch erschienenen Roman Der Mann, der sich Carlos Gardel nannte (Originaltitel: Las dos muertes de Gardel) auseinander. Carlos Gardel war nicht nur Sänger, sondern auch Komponist, doch die Texte zu seinen Melodien schrieb zumeist sein Freund Alfredo Le Pera (1904–35). Vier 16 Tango Tangotexte von Le Pera, der 1935 zusammen mit Gardel bei dem Flugzeugunglück in Kolumbien ums Leben kam, finden sich in der vorliegenden Anthologie: Mi Buenos Aires querido, Cuesta abajo, Sus ojos se cerraron und Volver. Der Leser dieser Texte bemerkt schnell, dass sie in einem eher klassischen Spanisch mit relativ wenig Argentinismen geschrieben sind. Le Pera verwendet eine bilderreiche Sprache und greift oft auf traditionelle Metaphern der Lyrik zurück, so etwa in Volver, wo der »höhnische Blick der Sterne« auf den romantischen Topos der Zwiesprache zwischen Individuum und Sternen anspielt und wo im Refrain mit Formulierungen wie »das Leben ist ein Windhauch« und »zwanzig Jahre sind nichts« das alte Motiv des »tempus fugit«, der Kürze des Lebens also, aufgegriffen wird. Besonders beeindruckend ist die Bilderfülle, mit der in Sus ojos se cerraron der Tod eines geliebten Menschen dargestellt wird. Bisweilen sind in den Texten Le Peras aber auch Kitsch und Sentimentalität nicht mehr allzu fern: so etwa in Mi Buenos Aires querido, dem wohl berühmtesten Tangolied Gardels. Im Gegensatz dazu verwendet der bereits erwähnte Enrique Santos Discépolo, der in den 1930er und 1940er Jahren zum wichtigsten Textdichter des Tango wurde und dessen Produktion hier ebenfalls mit vier Titeln (El choclo, Cafetín de Buenos Aires, Malevaje, Cambalache) vertreten ist, ein sehr stark lokal gefärbtes Spanisch mit vielen Elementen des Lunfardo, des Unterweltargots von Buenos Aires, sowie des Cocoliche, einer spanisch-italienischen Mischsprache, die sich unter den Einwanderern herausgebildet hatte. Auch der für das argentinische Spanisch typische »voseo«, also die Verwendung von »vos« statt »tú« für »du« sowie vom Standardspanischen abweichender Verbformen in der 2. Person Singular und im Imperativ, finden sich in Discépolos Texten häufig. Im Un- Tango 17 terschied zu der eher sentimentalen Wehmut der Texte von Le Pera sind diejenigen Discépolos von bösem Sarkasmus, ja Zynismus geprägt. Besonders deutlich wird dies in Cambalache, dem wohl bekanntesten Tangotext, der bis heute immer wieder zitiert wird, so etwa wenn ein Journalist im Jahr 2007 seine Polemik gegen den »neosocialismo« des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez mit der Überschrift »Cambalache del siglo XXI« versieht.1 Natürlich gibt es außer den hier genannten noch zahlreiche weitere bemerkenswerte Tangosänger und -textdichter. Um 1950 endet zwar die Hochzeit des klassischen »Tango-Canción«, doch die Tradition nicht nur des Tangotanzes, sondern auch des Tangoliedes ist bis heute lebendig geblieben und hat auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so fruchtbare Künstler wie den Komponisten Astor Piazzola (1921–92) oder den Textdichter Horacio Ferrer (geb. 1933) hervorgebracht. Wie präsent Tangotexte bis heute in der ganzen spanischsprachigen Welt sind, zeigt sich auch daran, dass der spanische Filmregisseur und Oscarpreisträger Pedro Almodóvar im Jahr 2006 den Tango Volver nicht nur zum Leitmotiv, sondern auch zum Titel eines seiner Filme gemacht hat, für den er bei den Filmfestspielen von Cannes die Goldene Palme erhielt. Was die Thematik der hier versammelten 13 Texte aus der Zeit des klassischen »Tango-Canción« betrifft, so fällt auf, dass sich darin sehr häufig ein männliches Ich in zumeist klagendem bis anklagendem Tonfall an eine Frau richtet: In Margot und Carnaval wirft der anständige, aber arme junge Mann aus der Vorstadt seiner Geliebten 1 Porfirio Cristaldo Ayala auf http://revista.libertaddigital.com/articulo.php/ 1276233833. 18 Tango vor, sich der Prostitution ergeben zu haben, in Cuesta abajo haben die »Hexenaugen« einer femme fatale das männliche Ich ins Unglück gestürzt und in Malevaje wird ein verliebter Messerheld zum Gespött der Unterwelt. Eine Variante dieser Grundkonstellation findet sich in dem hier nicht abgedruckten Mocosita, wo zumindest der Rahmen des Liedtextes allerdings nicht in der 1., sondern in der 3. Person gehalten ist. Tragische Hauptfigur dieses Liedes ist ein »payador«, eine Art argentinischer Bänkelsänger, der als Vorläufer der Tangosänger gilt. Unter umgekehrten Vorzeichen präsentiert sich das Mann-FrauSchema schließlich in Si soy así: Ein Frauenheld, der sich selbst ausdrücklich in die Tradition des spanischen Don Juan stellt, warnt darin mit auftrumpfender Chuzpe die ihn liebende Frau vor sich selbst. Thema des Tangotextes kann aber auch der Tango selbst sein: so etwa in Discépolos Textfassung von El choclo oder in Tango Argentino, wo eine ganze Reihe von berühmten Tangos aus der Zeit der »alten Garde« aufgelistet wird, und in gewisser Weise auch in Bandoneón arrabalero, einer Hommage an das emblematische Instrument der Tangomusik.2 Zentrales Thema in Mi Buenos Aires querido und in Cafetín de Buenos Aires ist das Heraufbeschwören des typischen Ambientes der argentinischen Hauptstadt. Schließlich behandeln eine Reihe von Tangos existenzielle Themen: den Schmerz über den Tod eines geliebten Menschen in Sus ojos se cerraron, Scheitern und Vergänglichkeit in Volver, und die grundsätzliche Ungerechtigkeit und Verkehrtheit der Welt in Cambalache. Und wenn im letztgenannten Titel der Topos der 2 Das Bandoneon wird in einer ganzen Reihe von Tangotexten besungen: außer in Bandoneón arrabalero auch z. B. in Alma de bandoneón, Che bandoneón und La última curda. Tango 19 »verkehrten Welt«, der sich in der Literaturgeschichte bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt, wieder aufgegriffen wird, so zeigt dies einmal mehr, dass Tangotexte in der Kontinuität einer langen abendländischen Dichtungstradition stehen. 20 Tango Tango argentino 5 10 15 20 Es hijo malevo, tristón y sentido; nació en la miseria del viejo arrabal. Su primer amigo fue un hombre temido … Su novia primera vistió de percal … Recibió el bautismo en una cortada, y fue su padrino un hombre de acción. Se ganó el cariño de la muchacha, que en una quebrada le dio el corazón. Tango argentino sos el himno del suburbio, y en jaranas o disturbios siempre supiste triunfar. Y allá en los patios, que a querosén alumbraron, los de ayer te proclamaron el alma del arrabal. De tus viejos tiempos aún hoy palpitan «El choclo», «Pelele», «Pampa» y «Caburé», «La morocha», «El Marne» y «la cumparsita», aquel «Entrerriano» y el «Sábado inglés». 2 malevo/a (Arg.): (1) aus den Vorstädten von Buenos Aires; (2) böswillig, kriminell. tristón, -ona (fam.): trübsinnig, traurig. sentido/a: reizbar; wehmütig. 3 el arrabal: Vorstadt. 5 el percal: Perkal (billiger Baumwollstoff). 6 el bautismo: Taufe. la cortada (Arg.): Seitengasse. 7 el padrino: Pate (la madrina: Patin). 9 la quebrada (Arg.): Körperbiegung beim Tango. 11 sos (Arg.): (du) bist. 12 la jarana (fam.): lärmendes Vergnügen, Spaß. los disturbios (pl.): Unruhen, Störungen. 15 el querosén: hier: Petroleum. alumbrar: beleuchten. 18 palpitar: schlagen (Herz), zucken; hier (fig.): lebendig sein. 19 ff. El choclo … Sábado inglés: Titel bekannter Tangos. El choclo 21 Bebiendo distancias por largos caminos, detrás de los mares anclaste triunfal. Y con tu prestancia de tango argentino, sembraste motivos del viejo arrabal. Letra: Alfredo Bigeschi Música: Juan Maglio 5 El choclo 10 15 Con este tango que es burlón y compadrito se ató dos alas la ambición de mi suburbio; con este tango nació el tango y, como un grito, salió del sórdido barrial buscando el cielo. Conjuro extraño de un amor hecho cadencia que abrió caminos sin más ley que la esperanza, mezcla de rabia, de dolor, de fe, de ausencia llorando en la inocencia de un ritmo juguetón. Por tu milagro de notas agoreras nacieron, sin pensarlo, las paicas y las grelas, 2 detrás de los mares: hier: in Übersee. anclar: vor Anker gehen. 3 la prestancia: prächtige Erscheinung, stattliches Aussehen. 4 sembrar: säen; hier: verbreiten. 7 el choclo: junger Maiskolben. 8 burlón, -ona: spöttisch (el burlón / la burlona: Spaßvogel, Spötter[in]). el compadrito (Arg.): Geck, Angeber, Gauner. 9 atarse dos alas (fig.): etwa: Flügel bekommen. la ambición: Ehrgeiz. el suburbio: Vorstadt. 11 sórdido/a: schäbig, schmutzig. el barrial (Arg.): Lehmboden. 12 el conjuro: Beschwörung. extraño/a: fremd; sonderbar. la cadencia: Rhythmus. 14 la mezcla: Mischung. la rabia: Wut. la ausencia: Abwesenheit; Mangel. 15 la inocencia: Unschuld. juguetón, -ona: verspielt. 16 agorero/a: unheilvoll; hier: melancholisch. 17 la paica (Arg.): Mädchen. la grela (Arg.): Frau. 22 Tango luna de charcos, canyengue en las caderas y un ansia fiera en la manera de querer. 5 Al evocarte, tango querido, siento que tiemblan las baldosas de un bailongo y oigo el rezongo de mi pasado … Hoy, que no tengo más que a mi madre, siento que llega en punta’e pies para besarme cuando tu tango nace al son de un bandoneón. 10 Carancanfunfa partió al mar con tu bandera y en un pernod mezcló a París con Puente Alsina. Fuiste compadre del gavión y de la mina y hasta comadre del bacán y la pebeta. Por vos, shusheta, cana, reo y mishiadura se hicieron voces al nacer con tu destino … 1 el charco: Pfütze. canyengue (Arg.): sinnlich. la cadera: Hüfte. 2 el ansia (f.): hier: Begierde, Sehnsucht. fiero/a: wild. 3 evocar algo: etwas wachrufen, heraufbeschwören. 4 la baldosa: Fliese. el bailongo (fam.): (billiges) Tanzlokal. 5 el rezongo: Brummen. 7 en punta’e pies: en punta de pie: auf Zehenspitzen. 8 el son: Klang. el bandoneón: Bandoneon (Handzuginstrument ähnlich dem Akkordeon). 9 Carancanfunfa (Arg.): bestimmter Stil des Tangotanzes; außerdem: der Tänzer, der sich darauf versteht. la bandera: Fahne, Flagge. 10 Puente Alsina: Brücke in Buenos Aires. 11 el compadre / la comadre: hier: Kumpan(in). el gavión (Arg.): Frauenheld, Don Juan. la mina (Arg.): Mädchen; Geliebte. 12 el bacán: (Arg.): reicher Mann, Bonze. la pebeta (Arg.): Mädchen. 13 vos (Arg.): du, dich, dir. shusheta (Arg.): (1) Schönling; (2) Polizeispitzel. la cana (Arg.): (1) Bulle; (2) Knast. el reo / la rea: Beschuldigte(r); hier: Nichtsnutz. la mishiadura (Arg.): Elend. 14 se hicieron voces: wurden zu (allgemein verbreiteten) Wörtern. Mi Buenos Aires querido 23 ¡Misa de faldas, querosén, tajo y cuchillo, que ardió en los conventillos y ardió en mi corazón! Por tu milagro de notas agoreras … 5 Letra: Enrique Santos Discépolo Música: Ángel Villoldo Mi Buenos Aires querido 10 15 Mi Buenos Aires querido, cuando yo te vuelva a ver no habrá más pena ni olvido. El farolito de la calle en que nací fue el centinela de mis promesas de amor, bajo su inquieta lucecita yo la vi a mi pebeta luminosa como un sol. Hoy que la suerte quiere que te vuelva a ver, ciudad porteña de mi único querer y oigo la queja de un bandoneón dentro del pecho pide rienda el corazón. Mi Buenos Aires, tierra florida, donde mi vida terminaré. 1 el querosén: hier: Petroleum. el tajo: hier: Wunde oder Narbe von einem Messerstich. 2 arder: (ent)brennen. el conventillo (Arg.): Mietskaserne mit Innenhof. 10 el farolito (dim.): el farol: Laterne. 11 el centinela: Wachposten; hier: Zeuge. 12 inquieto/a: unruhig; ängstlich. 13 la pebeta (Arg.): Mädchen. 15 la ciudad porteña: Umschreibung für Buenos Aires. 16 la queja: Klage. el bandoneón: Bandoneon (Handzuginstrument ähnlich dem Akkordeon). 17 pide rienda el corazón: etwa: das Herz wird weich (la rienda: Zügel). 18 florido/a: blühend. 24 5 10 15 Tango Bajo tu amparo no hay desengaños vuelan los años, se olvida el dolor. En caravana, los recuerdos pasan, como una estela dulce de emoción. Quiero que sepas que al evocarte se van las penas del corazón. La ventanita de mis calles de arrabal donde sonríe una muchachita en flor; quiero de nuevo hoy volver a contemplar aquellos ojos que acarician al mirar. En la cortada más maleva una canción dice su ruego de coraje y de pasión; una promesa y un suspirar borró una lágrima de pena aquel cantar. Mi Buenos Aires querido … Letra: Alfredo Le Pera Música: Carlos Gardel 1 el amparo: Schutz. el desengaño: Enttäuschung, Ernüchterung. 4 la estela: Spur; hier: Sog. 5 evocar a alg.: sich jdn. ins Gedächtnis zurückrufen, sich an jdn. erinnern. 7 el arrabal: Vorstadt. 8 en flor: blühend. 10 acariciar: streicheln, liebkosen. 11 la cortada (Arg.): Seitengasse. malevo/a (Arg.): (1) aus den Vorstädten von Buenos Aires; (2) böswillig, kriminell. 12 el ruego: Bitte, Gebet, Fürbitte. el coraje: (1) Mut; (2) Zorn, Wut. 13 suspirar: seufzen (el suspiro: Seufzer). 14 borrar: durchstreichen; hier: wegwischen.