Subido por José Pablo Schmidt

(Kultur - Philosophie - Geschichte 10.) Rudolph, Enno Steinfeld, Thomas - Machtwechsel der Bilder Bild und Bildverstehen im Wandel-Orell Füssli (2012)

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Machtwechsel der Bilder. Bild und Bildverstehen im Wandel
Herausgegeben von Enno Rudolph und Thomas Steinfeld
Kultur – Philosophie – Geschichte
Reihe des Kulturwissenschaftlichen Instituts Luzern
Herausgegeben von Enno Rudolph und Thomas Steinfeld
Band 10
Machtwechsel der Bilder
Bild und Bildverstehen im Wandel
© 2012 Orell Füssli Verlag AG, Zürich
www.ofv.ch
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der
Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen,
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Umschlagabbildung: La fenêtre bleue, Henri Matisse. © 2011, Succession H. Matisse /
ProLitteris, Zürich.
Umschlaggestaltung: Nadja Zela, Zürich
Lektorat, Layout und Bildbearbeitung: Tobias Brücker, Luzern
Korrektorat: Tobias Brücker und Alessandro Lazzari, Luzern
Druck: fgb • freiburger graphische betriebe, Freiburg
ISBN 978-3-280-06024-7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort ................................................................................................. 7
Alles ist Bild.
Statt einer Einleitung
Enno Rudolph ............................................................................................. 9
Verlorene Meisterwerke. Über einen Mythos
Bernd Roeck .............................................................................................. 15
Bildverkehr.
Über Bilder von Bildern und den Verlust des Originals.
Oder: Wie man weiß, wo man ist
Thomas Steinfeld ....................................................................................... 45
Komplexe Bilder: Kommunizierte Wahrnehmung
Dirk Baecker ............................................................................................. 61
Die Evidenz des Bildes.
Einige Anmerkungen zu den semiologischen und
epistemologischen Voraussetzungen der Bildsemantik
Ludwig Jäger ............................................................................................. 95
Die Physis des Bildes
Ludger Schwarte ...................................................................................... 127
Bilderschwund.
Forschen mit optischen Datenquellen
Christoph Hoffmann ................................................................................ 143
5
Die Identität des Andern.
Henri Bergson und die Pariser Weltausstellung 1889
Beat Wyss ................................................................................................ 161
Mediale Konfigurierung eines Ereignisses.
Der Terroranschlag auf das World Trade Center in
New York am 11. September 2001
Dietrich Erben ........................................................................................ 179
Narration und (De-)Legitimation: Der zweite Irak-Krieg im Kino
Martin Seel ............................................................................................. 213
«Se non è vero, è ben trovato». Geschichtsklitterung in
italienischen Doku-Soaps
Aram Mattioli ......................................................................................... 229
Der «Hintersinn» der Bilder.
Embleme barocker Klosterbibliotheken: Rätsel und Argument
Hans-Otto Mühleisen .............................................................................. 245
6
Geleitwort
Dieses Buch dokumentiert einen Tagungszyklus, den die Stiftung Lucerna
und das Kulturwissenschaftliche Institut der Universität Luzern gemeinsam
durchgeführt haben. Die Stiftung hat das Projekt finanziert, begleitet und
mitverantwortet. Solche Kooperation ist eher unüblich. Aber sie entspricht
den Bestimmungen der Stiftung Lucerna und der Arbeitsweise des Stiftungsrates: Die Stiftung «pflegt den interdisziplinären Diskurs – insbesondere im
Bereich der Wissenschaften und Künste – und dessen Vermittlung an eine
interessierte Öffentlichkeit». Damit gibt sie sich einen Auftrag, der eigentlich
allgemein für die Wissenschaften gilt, nämlich gegebenenfalls die Grenzen
der einzelnen Disziplinen zu überschreiten, sei es in der Forschung, in der
Lehre oder in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit.
In diesem Sinn wirkt die Stiftung Lucerna durch jährliche Tagungen
oder Workshops in Luzern. Dabei beschließen die Stiftungsräte nicht nur
die Themen, sondern unterstützen und begleiten auch den Arbeitsprozess des
jeweiligen Projektleiters. Man könnte die Stiftung Lucerna ein kleines, aber
wissenschaftlich anspruchsvolles Bildungsinstitut nennen, wie es schon dem
Luzerner Bankier Emil Sidler-Brunner vorschwebte, der 1927 die Stiftung
gründete, als eine Luzerner Universität noch in ferner Zukunft lag.
Heute «hat» Luzern eine Universität. Und die Stiftung hat es sich nicht
nehmen lassen, mit ihr Beziehungen anzuknüpfen. Fürs Erste mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut, dem sie in mancher Hinsicht nahe steht. Seit
2002 gehört dessen Leiter, Enno Rudolph, auch dem Stiftungsrat an. Aus
dieser günstigen Konstellation hat sich das dreijährige Tagungsprojekt ergeben. Im Auftrag des Stiftungsrates hat er es geleitet und zugleich in den Studienbetrieb seines Instituts einbezogen. Es führt mitten in den heute ebenso
notwendigen wie lohnenden Diskurs zum Thema «Bild».
Ein besonderer Dank gilt Herrn Tobias Brücker und Dr. Alessandro
Lazzari für die ebenso kompetente wie geduldige Herstellung des druckfähigen Manuskripts, ohne die der Band nicht hätte zustande kommen können.
Für den Stiftungsrat:
Rudolf Meyer
7
Alles ist Bild.
Statt einer Einleitung
Enno Rudolph
Im Zeitalter der perfekten Visualisierungstechniken ist es zur totalen Erfassung der Lebensverläufe durch das Bild gekommen. Was im Bild erfasst ist,
gilt als wirklich, tatsächlich oder gar wahr. Die Welt ist ihre Visualisierung.
«Die Welt ist es, die mittels des Bildes ihr eigenes Selbstporträt macht».1 Dem
Bild wird vertraut im Wissen um seine Nachträglichkeit, seine Abhängigkeit
und seine Abbildhaftigkeit – gerade letzteres gilt als Authentizitätsbeweis.
Ihm wird vertraut wegen seiner über allen Zweifel erhabenen Repräsentationsperfektion – garantiert durch den optimalen Standard der Visualisierungstechniken. Das Bild ist zwar mehr denn je abhängig vom Original, das
es bloß vermittelt, aber es ist mehr denn je in der Lage, die Abwesenheit des
Originals zu kompensieren, obwohl es dieses nur vermittelt. «Wir schalten
jetzt direkt zu….»: die folgenden Bilder «sind» die Welt – in der Wohnstube.
Ontologie und Repräsentation fallen zusammen – ein alter Philosophenkonflikt wurde ebenso elegant wie zeitgemäß gelöst, das Trauma von der Unerreichbarkeit der fernen Welt ist überwunden. Die Ambivalenz, dass für jedes
Bild schon semantisch seine Defizienz mitgesagt und mitgegeben ist, dass
es, wie getreu die Wiedergabe auch immer sein mag, immer «nur» ein Bild
bleibt, wird nicht erlebt. Im Gegenteil: das Bild vertritt nicht nur auf authentische Weise das Original – es verdrängt es wie sein Über-Ich.
Was Helmuth Plessner einmal generell von jeder Übersetzung behauptete – jede Übersetzung sei ein «Verrat am Original»2 – gilt natürlich gleichermaßen von der bildlichen «Übersetzung» des Originals in sein Abbild: das
Original wird um seine Unvertretbarkeit geprellt. Es wird kopiert, es wird
1
2
Baudrillard (2010), 88.
Vgl. Plessner (2003), 316.
9
multipliziert, es wird in den Schatten gestellt, sobald die Reproduktionen das
erste «Blitzlicht der Welt» erblickt haben, ähnlich wie eine Originalmedizin
ersetzt wird durch sein Generikum, das billiger ist, obwohl ihm stets irgendeine wesentliche Eigenschaft fehlt. Niemand merkt es: das ist das Geheimnis
des Markterfolgs der nachgeahmten Welt, so wie das des Schattenspiels in
Platons Höhle: solange niemand weiß, dass die Figuren Schatten sind, ist die
Welt «in Ordnung». Und – ebenfalls wie bei Platon – niemand will es wissen.
Darauf setzt die Bilderproduktion: niemand fragt nach dem Original, weil
niemand es vermisst. Von dieser Manipulierbarkeit, von jenem Verrat zehrt
jede Bildpolitik. Nota bene: es kommt hinzu, dass Platons im besagten Gleichnis erzielte Wirkung einer Sehnsucht nach dem Original, dem ursprünglichen
Licht als Symbol des Guten, im Kontext unverständlich scheint: Platons Welt
ist nach seinem eigenen Bekunden nämlich ein Bild, erstellt nach einem Original, das überhaupt erst als Bild die Wirkung erhält, die sein Zweck ist: bei
Platon ist also das Original abhängig von seinem Abbild; ohne dieses bleibt
es defizitär. Nur – dieser philosophische Mythos weiß es sogar: wenn die Welt
ein authentischer Lebensraum sein soll, dann darf sie nicht second hand sein.
In Platons Bildwelt fallen Original und Bild zusammen.
Der Befund von der modernen Welt, die ihre eigene Visualisierung ist,
bleibt vor diesem Hintergrund zwiespältig: als Ergebnis der Gegenwartsdiagnose ergibt sich, dass Visualisierung, verstanden als die mit ihrem Bild identisch gewordene Welt, zu einer Methode der Vergleichzeitigung geworden
ist. Visualisierung schafft Partizipation aller an allen und allem – Akteure
an jedem Teil der Welt können sich ihrer Zuschauer an jedem anderen Teil
gewiss sein: frei nach Kant kann ein Unrecht, das an irgendeinem Teil der
Welt begangen wird, nunmehr an jedem anderen Teil der Welt gesehen werden – Kant musste noch auf die Solidarität des Gefühls setzen, während im
Zeitalter der totalen Visualisierung auf die Augenzeugenschaft gesetzt werden
kann: die Welt ist ein panoptisches Subjekt und Objekt in einem.
Und noch etwas: nie wurde – philosophisch gesprochen – die Gegenwart
so wenig zwischen Vergangenheit und Zukunft zerrieben, wie «gegenwärtig».
Das dem Auge vermittelte Geschehen bedarf nicht nachträglicher Beglaubigung ungebrochener Gültigkeit; als Nachricht über das Jetzige im Jetzt kennt
es kein Verfallsdatum. Geschichte wird vor ihrer Vergänglichkeit bewahrt,
10
Vergangenheit von der Gegenwart überboten, Zukunft von der Gegenwart
eingeholt. «Visionen» sind nicht mehr Sache prophetischer Spezialkompetenzen, sondern Alltagsbeschäftigung von jedermann. Wer in der Gegenwart
lebt, ist sorglos; Sorgen rechnen mit Zukunft.
Alles bis hierhin Gesagte gilt allerdings nur von einem einzigen Bildtyp und
beansprucht von daher lediglich eine eingeschränkte Bedeutung: es gilt vom
Bild als Zeichen für eine bildlich externe Wirklichkeit, nach der allerdings, der
raffinierten Vergleichzeitigungstechnik wegen, nicht mehr gefragt wird. Dennoch: diese versteckte und verdrängte Abhängigkeit sorgt dafür, dass diese Bilder die Welt niemals um Ereignisse bereichern, die nicht schon die Welt sind.
Sie sind weder innovativ, noch – als Bilder – überraschend, mögen die Ereignisse, für die sie stehen, es noch so sehr sein. Es bleibt dabei – sie zeigen immer
nur auf etwas, was origineller ist als sie, auch wenn ihre Betrachter das Medium mit dem Mediatisierten identifizieren. In der Konkurrenz mit Bildern, die
kein Ereignis «illustrieren», sondern die «selbst» ein Ereignis herstellen,3 besser:
ein Ereignis «sind», können sie nicht bestehen. Ihnen bleibt auch hier nur der
eher peinliche Versuch, sich als das wohlfeilere Double zu empfehlen.
Bilder, angesichts derer niemand auf den Gedanken käme, zu fragen, was
sie darstellen, sind solche, die die Frage nach einem Original kraft ihrer Originalität obsolet machen. Wer immer ein solches Bild schafft, ist ein Künstler; wann immer sich einer Künstler nennt, verpflichtet er sich, ein solches
Werk zu schaffen. Ein Bild, das die Frage nach seiner Legitimation durch ein
Original erübrigt, ist autonom. Es zeigt auf sich, nicht auf anderes,4 es ist in
diesem Sinne intransparent,5 vor allem aber ist es ein «Ereignis» im strengen
Sinne des Wortes: keines nämlich lediglich «in» der Welt, wie diejenigen, die
die Welt sind, indem sie auf sie zeigen, sondern Ereignis «von» Welt.
Man hat aufgehört, zu definieren, was Kunst ist, lange bevor durch Hegel
oder Danto deren «Ende» ausgerufen wurde. Kant, unentbehrlich für alle
diejenigen, die, wie Adorno oder Heidegger, einen Projektionsschirm benötigen, um zu sagen, was sie ablehnen, hat das Kunstwerk definiert als eines,
3
4
5
Vgl. Baudrillard (2010), 85.
Vgl. Boehm (1995), 16, 30.
Vgl. Wiesing (1996), 269.
11
das durch seine Existenz neue Maßstäbe setzt für… die Kunst.6 Aber wer war
der erste Künstler? Und – Maßstäbe nur für die Kunst und ihre Produzenten?
Oder auch für ihre Betrachter und Konsumenten? Wenn ja, wer entscheidet,
wann und durch wen die alten Maßstäbe durch die neuen annulliert werden?
Diese Fragen lassen sich nicht befriedigend beantworten. Kant hat sie im
Übrigen selbst wieder dementiert, indem er eine Hermeneutik des Kunstwerks mitgeliefert hat, die verdeutlicht, wie ein Kunstwerk, gerade auch ein
Bild, sich als Kunst erweist, nämlich durch eine unnachahmliche Wirkung:
Kunst befreit. Sie befreit von der Welt durch Schaffung einer neuen, die sie
ist. Das können keine transparenten Bilder, das können nur Bilder ohne Referenz – und Legitimationsbedarf. Das können nur die Bilder, deren Betrachtung einer Entdeckungsreise gleichkommt, die das ganze Leben kostet.
Ein solches Bild ist von der Evidenzqualität einer Metapher, deren Originalität nicht in dem Bild zu suchen ist, das sie versprachlicht, sondern in der
Verknüpfung mit einer Bedeutung, die sie visualisiert. Die Metapher gibt ein
Exempel für das, was ein autonomes Bild leistet: Erzeugung von Faszination
davon, wie mit Bekanntem, nämlich Farben, Flächen, Figuren, Unbekanntes
sichtbar geschaffen werden kann, keine sekundäre Visualisierung, sondern
visualisierte Originalität. Goyas schlafende Vernunft zum Beispiel demonstriert pars pro toto, wie die vertrauten Dimensionen des Lebens um unvertraute komplementiert werden.
Der Blick auf das Bild perzipiert dies im Nu: wie die Metapher im Allgemeinen, sofern sie nicht zum Arsenal der «toten Metaphern» gehört, so
wirken die autonomen Bilder im Besonderen durch Evidenz des Neuen,
Unerhörten, Unnachahmlichen und Unerschöpflichen. Jedes solcher Bilder
ist sich selbst genug; jedes solcher Bilder kann nur über die Sicht zur Einsicht
führen; jedes solcher Bilder wird von keiner Einsicht endgültig erschlossen.
Es gibt sie noch, die autonomen Bilder, nicht nur in den eigens für sie reservierten Ghettos. Es gibt sie immer wieder und überall. Anders als die Weltvisualisierungen müssen sie sich ihre Räume immer wieder neu erobern. Seit
dem definitiven «Machtwechsel» vom Bild zum «Bild von» – und um seinen
6
12
Vgl. Kant (2009), § 46.
Nachvollzug geht es in diesem Band – von der Kunst zur technischen Reproduktion, sind die Chancen dafür allerdings nur noch minimal: weil die Welt
satt ist von Bildern, satt von der permanent selbst produzierten Konfrontation mit ihrem Selbstporträt, und sie ist deren ebenso überdrüssig, wie ihr
verfallen. Der Blick für die Sicht auf ein autonomes Bild ist verstellt, nicht,
wie es Adornos Gebetsmühle seinen Lesern unaufhörlich einhämmert, weil
«die Gesellschaft» in Form tragischer Selbstverleugnung ihre Autonomie verrät – «die Gesellschaft» als Akteur gibt es nicht –, sondern weil wir neidisch
sind auf das Genie, auf seine Energie und seine Freiheit, und weil wir ihm
deshalb unter dem Schein der Großzügigkeit lediglich das Menschenrecht
auf die Ausnahme zubilligen.
Das Bild im «Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit»7 triumphiert nachhaltig über das Bild aus den Zeitaltern seiner künstlerischen Produzierbarkeit. Das erstere will etwas bedeuten, indem es auf etwas deutet;
das letztere will nichts bedeuten müssen – «es will etwas sein»: Autonome
Bilder «wollen nicht Gebrauchsanweisungen für Illusionen, Eröffnungen der
Sichtbarkeit für anderes sein; sie wollen selbst das und nichts weiter als das
sein, als was sie ‹sich› darstellen»8 – und nicht «was» sie darstellen. «Damit
uns sein Inhalt anspricht, muss das Bild durch sich selbst existieren, uns seine
ursprüngliche Sprache auferlegen».9
Es sind die Maler selbst, die entscheiden, was sie machen. Magrittes Ceci
n’est pas une pipe pfeift den Betrachter zurück, ehe er versucht ist, das Bild
mit einem Photo zu verwechseln: dies ist keine Pfeife, «dies ist ein Magritte»
(Stoichita). Und noch einer musste es wissen: Henri Matisse, der berichtet,
wie er zum ersten Mal ein Fresko Giottos sah, ohne zu wissen, um welche
Szene aus dem Leben Christi es sich handelte: «Une œuvre doit porter en
elle-même sa signification entière et l’imposer au spectateur avant même qu’il
en connaisse le sujet. (...) tout de suite, je comprends le sentiment qui s’en
dégage, car il est dans les lignes, dans la composition, dans la couleur, et le
titre ne fera que confirmer mon impression».10
7
8
9
10
Benjamin (1963).
Blumenberg (2001), 117.
Baudrillard (2010), 80.
Matisse (1972), 49f.
13
Das Luzerner Projekt war von der Diastase zwischen autonomen und
heteronomen Bildern ausgegangen, ohne diesen Befund als Kulturdefizit
zu diagnostizieren. Im Gegenteil: Das fröhliche Durcheinander von Kunst,
Technik und affektiver Improvisation ist ein Spiel der Zeit mit sich selbst,
nach dessen Freiheit sich spätere Generationen noch einmal zurücksehnen
könnten. Das Buch spiegelt diese Lage wieder – bewusst. Es bietet allen
etwas – den Autonomen, den Konformisten, den Pluralisten. Es ist das
unzensierte Dokument einer vorläufigen Bilanz aus der diskursiven Perspektive betroffener und weniger betroffener Disziplinen.
Literatur
Baudrillard, Jean. Die Intelligenz des Bösen, Wien 2010.
Benjamin, Walter. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1963.
Blumenberg, Hans. Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt
a.M. 2001.
Boehm, Gottfried. «Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache». In: Ders. / Helmut Pfotenhauer. Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung, München 1995, S. 11–38.
Kant, Immanuel. Kritik der Urteilskraft, Hamburg 2009.
Matisse, Henri. Écrits et propos sur l’art, Paris 1972.
Plessner, Helmuth. «Der Mensch als Lebewesen. Adolf Portmann zum
70. Geburtstag (1967)». In: Ders. Conditio Humana. Gesammelte Schriften VIII, Frankfurt a.M. 2003, S. 314–327.
Wiesing, Lambert. «Phänomenologie des Bildes nach Husserl und Sartre».
In: Phänomenologische Forschungen 30 (1996), S. 255–281.
14
Verlorene Meisterwerke. Über einen Mythos1
Bernd Roeck
I. Holzer
1738 bemalte der junge Tiroler Johann Evangelist Holzer die Fassade eines
Wirtshauses in Augsburgs Altstadt, damals einem Handwerkerviertel, mit
Fresken, die Bauernburschen und ihre Mädchen beim Tanz zeigten.2 Die Bilder, schon im 18. Jahrhundert verblasst und heute ganz verschwunden, machten den unscheinbaren Bau zum Anziehungspunkt für kunstliebende Reisende wie den in bayerischen Diensten stehenden Arzt Bianconi.3 Auch nachmals
berühmte Leute waren darunter, etwa der italienische Aufklärer Francesco
Algarotti und Goethe. Letzterer – er war auf der Durchreise nach Italien –
meinte 1790, Holzers verloschene Bilder seien ihm lieber «als ein ganzes Lokal
mit wohlkonservierten Gemälden, außerdem die Fröhlichkeit und Freiheit
vergleicht sich mit nichts und um ein Haar, so könnte ein reiner Geschmack
dennoch dadurch befriedigt und der Teufel hole den Geschmack, der ernst
und traurig ist». Und er schloss: «Augsburg dagegen im Sonnenschein».4
Holzers Ruhm strahlte hell schon kurz nach seinem frühen Tod, der ihn
1740, als erst 31jährigen, ereilte.5 Mit Johann Georg Christoph Kilian fand er
einen Biographen; der Spross einer renommierten Kupferstechersippe widmete ihm 1765 ein «Kunst- und Ehrengedächtnis».6 Die Kunstkritik rühmte den
1
2
3
4
5
6
Eine Kurzfassung dieses Beitrages erschien unter dem Titel «Das verlorene Meisterwerk.
Übermalt, gestohlen, versunken: Kunst wird interessant, wenn sie verschwindet. Über die
Magie des blinden Flecks» in der Süddeutschen Zeitung vom 20.08.2011, S. 14.
Das Folgende nach Roeck (2010a).
Vgl. Bianconi (1964), 82f.
Goethe (1900), Abt. 1, 49, 277.
Eine Übersicht über den Nachruhm Holzers: Lamb (1955); Mick (1984), 7; Wagner
(1991), 45–54, 372f.
Kilian (1756). Vgl. Herre (1951), 45.
15
Abb. 1: Johann Evangelist Holzer, Entwurf für die Freskenbemalung der Fassade des
Gasthauses «Zum Bauerntanz» © Städtische Kunstsammlungen Augsburg
1709 geborenen Sohn eines wohlhabenden Vintschgauer Müllers als «groß»,
als «genialen Maler», «pictor ingeniosus»,7 «Genie»,8 «frühvollendetes Malergenie» oder – das passt zu Goethes Sonnenschein – als «helles Licht der Barock­
malerei».9 Noch die neuere Kunstgeschichte stilisiert ihn zur Ausnahmegestalt.
So steht Holzer in der Geschichte der Spätbarockmalerei ziemlich einzigartig da. Die Gründe sind allerdings nicht einfach zu erklären. Holzer war
zwar tatsächlich ein hervorragender Freskant. Selbst Johann Joachim Winckelmann hat ihn als «würdigen Künstler» akzeptiert.10
Holzers bedeutendstes erhaltenes Werk ist ein um 1736 entstandenes
Deckenfresko in der Wallfahrtskirche St. Anna in Partenkirchen. Der größte
Teil seines Werks ist aber verloren oder, wie eine Arbeit in der Sommerresidenz der Eichstätter Fürstbischöfe, schlecht erhalten. Sonst ist nur wenig seiner Hand überkommen, vergangen wie die Fassadenfresken am «Bauerntanz».
7
8
9
10
16
Hascher (1996), 95.
Vgl. Lamb (1955).
Wagner (1991).
Lamb (1955), 382; Krämer (1998), 515.
Auch andere Fassadenmalereien sind zerstört, ebenso Holzers Hauptwerk, die Kuppelfresken der Klosterkirche Münsterschwarzach am Main, die
1821 abgerissen wurde.11 Auch sie, «Holzer’s masterpiece», wie ein englischer
Zeitgenosse beklagte,12 inzwischen eben ein Nichts, wurden zu mythischen
Meisterwerken: Keinem anderen barocken Freskenzyklus sei, wie Bruno
Bushart urteilt, ein «so lebhafter Nachruhm» beschieden gewesen wie dieser
1737 – 1739 geschaffenen Ausmalung. So haben sich die Urteile auf einige
Zeichnungen, Stiche und Ölbilder zu gründen; auch von den BauerntanzFresken sind nur Nachstiche und eine aquarellierte Zeichnung (Abb. 1) überkommen. Die fragmentarische Überlieferung zeigt Holzer zweifellos als Könner; doch kann seine Malerei mit den Werken der internationalen Elite von
Watteau und Chardin bis zu Tiepolo nicht mithalten. Die Vermutung liegt
daher nahe, dass Holzers außerordentlicher Nachruhm Gründe hat, die nicht
allein in der Qualität der Werke zu suchen sind. Die Suche danach führt auf
die Geschichte des «verlorenen Meisterwerks».
II. Verblasst, verschwunden, vernichtet
Das unsichtbare Meisterwerk ist der Spezialfall unsichtbarer Kunst und ein
Paradox.13 Ihr Gegenstand ist etwas Fehlendes, ein Nichts. Texte und Abbildungen feiern einen Gegenstand, der sich gleichsam ins Transzendente verflüchtigt hat. Das konkrete Ding ist zur Idee geworden. Der Verlust mag ein
Grund zur Trauer sein; Jacob Burckhardt weist darauf hin, dass Verluste auch
positive Wirkungen zeitigen könnten:
Wenn z.B. im 15. Jahrhundert plötzlich große Massen wohlerhaltener griechischer Skulpturen und Malereien wären gefunden
worden, so hätten Lionardo, Michelangelo, Raffael, Tizian und
Correggio nicht schaffen können, was sie geschaffen haben, während sie mit dem von den Römern ererbten wetteifern konnten.
11 Vgl. Lamb (1955), 373; Schütz (1986), 94.
12 Bushart (1967), 102.
13 Vgl. Belting (1998).
17
(…) Freilich würde wohl nach einigen Jahrzehnten der Störung,
nach dem ersten Erstaunen das massenhaft vorgefundene Alte mit
dem Neuen sich auseinandergesetzt und das Neue seine eigenen
Wege gefunden haben, – allein der entscheidende Augenblick des
Vermögens der Blüte, welcher nicht mehr in seiner vollen Höhe
wiederkehrt, wäre vorüber gewesen.14
So aber sei genug Altes vorhanden gewesen, «um anzuregen, und nicht so
viel, um zu erdrücken».15 Die Sehnsucht nach dem Untergegangenen habe,
so resümiert er, auch Vorteile: «Ihr allein verdankt man es, dass noch so viele
Bruchstücke gerettet und durch eine rastlose Wissenschaft in Zusammenhang gesetzt worden sind; ja Verehrung der Reste der Kunst und unermüdliche Kombination der Reste der Überlieferung machen einen Teil der heutigen Religion aus».16
In der Tat, die Kunstgeschichte hat mit jenem Vakuum ein weites Forschungsfeld. Die Menge verlorener Werke übertrifft das Erhaltene um ein
Vielfaches. Materie ist eben vergänglich; Mensch und Natur neigen gelegentlich dazu, ihren Untergang noch zu beschleunigen. Ein imaginäres Museum
unsichtbarer Meisterwerke bewahrte Schätze ohnegleichen, Unmengen übermalter, verbrannter, im Meer versunkener oder zerbombter Kunst, angefangen mit dem Tempel Salomons und sechs der sieben Weltwunder der Antike.
Zu sehen wären Bilder der legendären griechischen Maler Zeuxis, Parrhasios
und Apelles, von denen kein Pinselstrich überkommen ist, die gleichwohl –
oder gerade deshalb – den Meistern der Renaissance als unerreichbare Ideale
vor Augen schwebten. Antike, mit den Galeeren, die sie transportierten, im
Meer versunkene oder in Roms Kalkmühlen zermahlene Figuren wären zu
sehen, dazu auch unzählige mittelalterliche, von Bilderstürmern der Reformationszeit oder während der Französischen Revolution zerstückelte Plastiken und Altarbilder. Wir sähen vielleicht Piero della Francescas Fresken in
Ferrara oder im Vatikan, dazu gestohlene Kunstwerke; Raffaels einst in Warschau befindliches Porträt eines jungen Mannes, Vermeers Bostoner Konzert,
14 Burckhardt (1929), 207.
15 Ebd.
16 Ebd., 206.
18
Abb. 2: Leerstelle der gestohlenen Mona Lisa, Fotografie, 22. August 1911
© Süddeutsche Zeitung Foto / Rue des Archives
19
Caravaggios Geburt Christi. Die Abteilung «18. Jahrhundert» hätte im Bernsteinzimmer ein Glanzlicht, die Moderne erhielte mit Tracey Emins Lotterbett, das 2004 durch Brand zerstört wurde, ihren sensationellen Schlusspunkt.
Die blinden Flecken, die gestohlene oder vernichtete Kunst hinterlässt,
können sehr augenfällig sein – etwa im Fall der Nischen, die bis 2001 die von
den Taliban in die Luft gesprengten Buddhas von Bunjian beherbergt hatten oder der leeren Vitrine in Wiens Kunsthistorischem Museum, in der das
2003 gestohlene (inzwischen wiedergefundene) Salzfass Cellinis aufbewahrt
wurde. Durch den dreisten Raub wurde die Salina noch berühmter, als sie
ohnedies schon gewesen war.
Die berühmteste Leerstelle der Kunstgeschichte öffnete sich vor einem
Jahrhundert, am frühen Nachmittag des 21. August 1911, nachdem der
Anstreicher Vincenzo Peruggia und zwei Komplizen die Mona Lisa aus dem
Salon Carré des Louvre entführt hatten.17 Bald drängte sich das Publikum vor
dem blinden Fleck der nackten Wand, aus der vier verwaiste Nägel ragten
(Abb. 2). Damals erklomm die Gioconda den Gipfel ihres Ruhmes. Erst 1913
wurde sie in einem Florentiner Hotel aufgespürt, als ihr Dieb sie zu Geld
machen wollte.
Der eigentliche Grund für den einzigartigen Ruhm der Gioconda liegt
erneut in blinden Flecken. Diesmal klaffen sie im Kontext. Die Menge Erörterungen, die über das Bild geschüttet wurden, ist der Ausdehnung der Leerstellen in der Überlieferung zu seinen Entstehungsumständen indirekt proportional. Das Schweigen der Quellen und die Zweideutigkeiten der Kunst
werden vielfach zum Stimulans für die Genese und Häufung von «Kontexten». Das Fehlen von Dokumenten befreit die Flüge der Phantasie. Die blinden Flecken gewährleisten, dass das Mysterium des Meisterwerks unbeschädigt bleibt. Spektakuläre Episoden in der «Biografie» eines Kunstwerks – der
Raub der Saliera oder der Mona Lisa, der Diebstahl von Piero della Francescas
Flagellazione – bereichern jene semantischen Passepartouts, die wesentlich
für jedes Kunstwerk sind, es oft als Kunstwerk überhaupt erst wahrnehmbar
machen.
17 Vgl. Reit (1981); Sassoon (2006).
20
III. Kunstwerke und Kontexte
Was ein «Meisterwerk» sein soll, lässt sich notwendig nur aus historischen
Bezügen bestimmen. Alle Kunst hat ja ihren Ort in Traditionen und Genea­
logien; nur die Rekonstruktion größerer historischer Zusammenhänge kann
zeigen, dass, was seine Autorin oder sein Autor schuf, zuvor noch nie dagewesen war. Lassen wir diesen Punkt als Selbstverständlichkeit beiseite; jedes wirklich bedeutende Kunstwerk bietet etwas Neues, ist originelle intellektuelle oder
wenigstens innovative technische Leistung. «Nachfolgen», erst recht Kopien
haben natürlich keine Chance, den Olymp der Kunstgeschichte zu erklimmen.
Aber was macht das «mythische» Meisterwerk aus? Jede Epoche, jede
Kultur hat ihren eigenen Begriff davon, hat ihre eigene Galerie mythischer
Kunstwerke. Im Wort klingen Vorstellungen an von Ruhm, von Legende;
ein Element des Vagen, Unbestimmten auch und somit ein Geheimnis, das
fasziniert, herausfordert und zur Entschlüsselung anhält. Sie wird, ja sie darf
niemals ganz gelingen, weil mit der Auflösung auch der Mythos zerstört wäre:
Der dingfest gemachte Gott verliert seinen überirdischen Nimbus und ist kein
Gott mehr. Sind die Ursprünge eines Kunstwerks mit Dokumenten rekon­
struiert, verschwindet im grellen Scheinwerferlicht der Hermeneutik das märchenhafte Zwielicht, in dem er bis dahin verborgen war. Die «ganze Wahrheit»
ist womöglich banal und sie wird, sobald man sie kennt, langweilig.
Die Leerstelle,18 womöglich das Nichts ist deshalb überhaupt konstitutiv
für das mythische Meisterwerk. Es dürfte allerdings kein Kunstwerk geben,
das solche Zonen des Unbestimmten, ja des Unbestimmbaren nicht aufweist.
Nicht alles zu sagen, die Dinge nicht 1:1 mitzuteilen, gehört im Zeitalter der
Kunst zu deren Wesen – spätestens in dem Moment, in dem das mimetische
Ideal seine absolute Geltung einbüßt. Das ist mit den ersten kunsttheoretischen Reflexionen der Neuzeit der Fall. Cennino Cennini konzediert am
Ende des 14. Jahrhunderts, die Malerei könne Dinge, die nicht sind, zeigen,
als wären sie wirklich; das heißt, er gewährt der Einbildungskraft eine Funktion bei der Entstehung des Kunstwerks, das eben nicht einfach die Dinge so
18 Literaturtheoretische Parallele: Vgl. Stierle (1997), 312.
21
widerzuspiegeln hat, wie sie sich dem Auge darstellen.19 Alberti konstatiert
zwar trocken, das Unsichtbare ginge den Maler nichts an; gleichwohl verlangt
er in seinem Malereitraktat vom Maler beispielsweise, Figuren gemäß ästhetischen Kriterien zu arrangieren oder auf harmonisches Kolorit zu achten;
seine Ästhetik folgt im Übrigen rhetorischen Kategorien.20
Im 15. Jahrhundert ist selbst das fromme Kunstwerk, im Speziellen das
Bild, längst nicht mehr Reliquie. Doch soll es auch nicht einfach Replik der
Wirklichkeit sein und damit ein Gegenstand, dessen Herstellung allein handwerkliches Geschick erfordert. Es wird geistige Leistung; die Phantasie mit
ihren Unwägbarkeiten schiebt sich zwischen Natur und realisiertes Werk. Die
Imagination gewinnt an Bedeutung, was sich auch in der Theorie niederschlägt.
Wiederum schon Cennini hat diesen Gedanken.21 Dürer meint, der Maler bilde Neues aus den Bildern, die er im Herzen gesammelt habe; ein guter Maler ist
denn auch, wie es in seiner berühmten Formulierung heißt, «jndwendig voller
vigur».22 Würde er ewig leben, «so het er aws den jnneren ideen, do van Plato
schreibt, albeg etwas news durch die werck aws tzwgissen».23 Damit wird auch
der Concetto immer wichtiger. Michelangelo bringt den Gedanken um 1544
in einem berühmten Sonett zum Ausdruck: «Non ha l’ottimo artista alcun
concetto / c’un marmo solo in sé non circonscriva / col suo superchio, e solo a
quello arriva / la man che ubbidisce all’intelletto» (Der beste Künstler selbst hat
niemals einen Plan, / den nicht der Marmor schon in seiner Fülle schlösse ein; /
und hin zum Werk gelangt allein / die Hand, die seinem Geist ist untertan).24
Damit gewinnt die Zeichnung als sein materieller Niederschlag immer größere
Dignität; bald avanciert sie zum als Preziose geschätzten Sammlerstück.
Parallel zur neuzeitlichen Säkularisierung vollziehen sich merkwürdige
Inversionen. Selbst das religiöse Kunstwerk ist immer weniger nur Andachtsinstrument, Accessoire der Liturgie oder gar magischer Fetisch; es kann
19 Pfisterer (2001), 315.
20 Vgl. Baxandall (1977), 129f.; Hulse (1990), 60–65; Hope (2000); Rosand (1987),
153–157.
21 Cennini (2001), 15.
22 Dürer (1969), 287.
23 Vgl. Panofsky (1982), 69–71.
24 Buonarroti (1960), 151.
22
Sammlungsgegenstand werden, seit dem späteren 17. Jahrhundert selbst in
calvinistischen Gesellschaften.25 Früher schon wird der Verlust an Sakralität
durch eine Metamorphose der magischen Aura um das große, wenn man will:
mythische Kunstwerk substituiert. Es wird zur Reliquie eines neuen Heiligen, des Künstlers. Schon im 15. Jahrhundert, bei Alberti, wird er, der sein
Werk nicht einfach mit dem Geschick seiner Hände schafft, sondern kraft des
Logos, zum göttergleichen Demiurgen.26 Michelangelo ist der erste, dem das
Epitheton des divino beigegeben wird; Ariost verleiht es ihm in der dritten
Ausgabe seines Orlando furioso (1532).27 Andere, namentlich Vasari und im
Norden dann Karel van Mander spinnen am Gewebe des Künstler-Mythos
weiter; dass die Einsicht in die intellektuellen Voraussetzungen von Kunst für
diese Konstruktion von wesentlicher Bedeutung ist, liegt auf der Hand.
Ist das Kunstwerk nicht mehr einfach Handwerksprodukt, sondern geistige Leistung, gewinnen sein Autor oder seine Autorin an Bedeutung; diese Entwicklung vollzieht sich zwischen dem ausgehenden Mittelalter und der Gegenwart. Indem das Kunstwerk Bedeutung vor allem als Hervorbringung eines
bestimmten Individuums gewinnt, werden sein historischer Ort und damit
überhaupt seine Geschichte wichtig, auch für seine Ästhetik. Kontexte, Paratexte – Signaturen, Etiketten, Dokumente, auch Anekdoten, mithin Geschichten
und Geschichte – gewinnen an Relevanz; der Ort, an dem sich ein Kunstwerk befindet, der Sockel, auf dem es steht, die Vitrine, die es birgt, gewinnen
entscheidende Bedeutung in jenem semantischen Komplex, weil dadurch sein
Status, seine Position in der Zeit auch, definiert werden. Duchamps Readymades, Beuys’ Fettecke oder ein Haufen aus Videogeräten, wie ihn Nam June Paik
aufzutürmen liebt, werden allein durch ihre Platzierung in der Galerie und ihre
Paratexte zu Kunst. Ihre Ästhetik hat ihren Grund darin und in ihrer Geschichte. Sie sind Kunstwerke, weil sie eben von Marcel Duchamp, Joseph Beuys und
Nam June Paik sind, Produkte ihres Geistes; in vielen Fällen – man denke an
Jeff Koons’ Plastik-Arrangements – spielt die Hand des Meisters nur noch eine
Rolle, wenn das Projekt zu skizzieren ist; die Ausführung übernehmen versierte
Techniker. Das Objekt ist primär eine intellektuelle Schöpfung; seine Materi25 Vgl. Loughman / Michael (2000), 48f.
26 Mit der Quellenangabe Roeck (2010b), 156.
27 Soussloff (1997), 34–37.
23
alisierung dient allein der Kommunikation des unsichtbaren Gedankens. Nun
braucht der Künstler wirklich keine Hände mehr.28
Was sich geändert hat, mag ein Bild wie Klimts Goldene Adele im Vergleich mit Malerei der Renaissance demonstrieren: Während erstere im Juni
2006 für 135 Millionen US-Dollar versteigert wurde, machte das für Altarbilder der Zeit zwischen 1400 und 1475 verwendete Blattgold gewöhnlich
zwischen 30 und 40 Prozent der Gesamtkosten aus;29 der entsprechende Kostenanteil des von Klimt verwendeten Edelmetalls lässt sich vermutlich nicht
einmal in Promillewerten beziffern.
Erst recht unbedeutend sind die Kosten von Material und die Relevanz
der Handwerkskunst an Werken von «Renaissance-Superstars» wie Leonardo,
auch wenn man staunend die Unzahl der Lasuren registrieren wird, vermittels
derer es dem Mann aus Vinci gelang, das Inkarnat seiner Mona Lisa zu modellieren, zarte Schattierungen und Übergänge zu schaffen, den Hintergrund
mit seinem berühmten Sfumato zu zelebrieren. Eine Digitalkamera bringt
dergleichen heute in Sekundenbruchteilen zustande. Zudem entspricht das
Aussehen der geheimnisvollen Florentinerin einem modernen Schönheitsideal nur in Maßen. Nein, die Mona Lisa wird als Werk des beginnenden 16.
Jahrhunderts und als «Reliquie» des nicht minder geheimnisvollen Leonardo
da Vinci zum Bild aller Bilder. Es ist gleichsam von einem doppelten Mysterium umgebener Überrest eines modernen Ersatzgottes.
Ähnlich verhält es sich, mutatis mutandis, bei anderen Kunstwerken.
Immer gilt: Kein Kunstwerk ist jenseits seiner Zeit, jenseits der Geschichte, erfahrbar. Die furiose Attacke, die Susan Sontag gegen das «Geschwätz
der Interpreten» vorträgt,30 gründet allein in der romantischen Illusion, die
Begegnung mit Kunst könne den Charakter einer unio mystica haben, die
sich in reinem Schweigen vollzieht, wie Sontag in ihrem Essay The Aesthetics of Silence meint. Reine Kunsterfahrung, ohne Historie, ohne Kontexte, zu gewinnen in «ästhetischer Unschuld»31 ist, wenn, dann nur für den
28
29
30
31
24
Zur Geschichte dieses Topos: Beyer (1996).
Kubersky-Piredda (2005), 105.
Vgl. Sontag (1968); Wohlfahrt (1995).
Kuhn (1960), 35.
Augenblick denkbar: Da mag sich der Realitätsbruch vollziehen,32 das, was
die Medientheorie presence nennt. Aber selbst jener Moment unmittelbarer
Evidenz erfolgt nicht ohne Vorgeschichte, ohne Wissen um Ort, Zeit, um
Etiketten, Signaturen und andere Texte.
Dass Bestimmungen historischer Umstände für das ästhetische Erlebnis –
und den materiellen Wert eines Kunstwerks – von zentraler Bedeutung sind,
ist klar; Kunst wird ja immer primär als Produkt einer bestimmten Zeit und
eines bestimmten Künstlers oder einer Künstlerin erfahrbar. Im Museum gilt
der zweite Blick nach der Wahrnehmung des Werks gewöhnlich dem Etikett,
der dritte Signatur und Jahreszahl, mithin dem unmittelbarsten Kontext.
Wie sehr Lücken darin die Werke verändern können, deutet das Schicksal
des Mannes mit dem Goldhelm an, der inzwischen vom gefeierten «Rembrandt» zum mutmaßlichen Werk eines Augsburger Malers, der ausgerechnet
den Allerweltsnamen «Mayr» trägt, mutiert ist. Ebenso wurde die Madonna Litta der Petersburger Ermitage zu einem anderen Bild, seit ihr Schöpfer
nicht mehr der mythische Leonardo ist, sondern Angelo Boltraffio, der vielleicht nach einem Entwurf des Giganten arbeitete. Ein schlechteres Bild ist
sie deshalb ebensowenig wie Mayrs Behelmter; beiläufig bemerkt, schlägt sie
ihr Gegenüber, die Madonna Benoit – die zweifelsfrei von Leonardos Hand
ist – um Längen: das Frühwerk des Meisters zeigt ein Baby mit übergroßem,
unförmigem Schädel, Maria ist außerdem für eine Mutter reichlich jung.
Das Werk ist aber, obwohl einer ordentlichen Madonna, etwa Correggios,
weit unterlegen, eben von Leonardo und deshalb der Rede wert. Im Bestreben, «das Phänomen zu retten», führt die Kunstgeschichte in diesem und
ähnlichen Fällen dann alle möglichen Hilfshypothesen ein, etwa, dass die
Jugend der Madonna auf deren Jungfräulichkeit anspiele und dergleichen
mehr. Wäre die Madonna Benoit nicht von Leonardo – es gäbe wohl wenig
Lärm um sie zu machen.
Die Mitteilung von Zeit, Ort und Schicksalen eines Werkes umfasst Aufschlüsse über seine Zeugenschaften: zunächst das Wissen um seine Präsenz in
der längst zerfallenen Welt, der es entstammt,33 auch den ebenso zerfallenen
32 Vgl. Gehlen (1986), 11f.; aus ontologischer Sicht: Brandt (1999), 126f.
33 Vgl. Heidegger (1997), 36.
25
Welten, die es im Lauf seiner Biographie umgaben. Wäre Cellinis Saliera,
kennten wir nicht die abenteuerliche Autobiographie ihres eitlen Schöpfers,
ein rechtes Mantel- und Degenstück?34 Wären Velázquez’ Meninas dieselben,
hätte nicht Foucault eine der berühmtesten Ekphraseis des 20. Jahrhunderts
vor ihnen niedergeschrieben?35 Auch die Mona Lisa erklomm in der Zeit ihrer
Abwesenheit einen Gipfel ihres Ruhmes. Der Öffentlichkeit scheint jetzt erst
wirklich bewusst geworden zu sein, was da verloren schien: die wohl teuersten Quadratzentimeter der Welt. Ein schöner Beleg aus neuerer Zeit ist ein
Siebdruck Andy Warhols, der sich im Nachlass des Schauspielers und Regisseurs Dennis Hopper befand, ein Porträt Mao Zedongs: Das Werk weist Einschusslöcher von Pistolenschüssen auf, die sein Besitzer Anfang der Siebziger
Jahre aus welchen Gründen auch immer auf die Ikone abfeuerte; Warhol
selbst kritzelte daraufhin die Worte warning shot und bullet hole neben die
Beschädigungen (Abb. 3). In der Auktion bei Christie’s am 11. Januar 2011
kletterte das Bild von ursprünglich veranschlagten 30.000 Dollar auf über
das Zehnfache seines Schätzpreises. Es war jetzt sozusagen ein verdoppelter
Warhol und zudem ein Hopper, in jedem Fall ein Unikat. Und es war zum
Zeugen einer Geschichte geworden, die sich über Internet und Nachrichtenagenturen samt Reproduktionen in alle Welt verbreitete.
Reden, Schreiben, übrigens auch Rechnen – Essays, kunsthistorische Texte, die signifikanten Zahlen der Auktionskataloge – kurz, das große, niemals
verstummende Geräusch innerhalb der Art world,36 sind entscheidend für
die Bestimmung der Qualität eines Werkes. Einen absoluten Maßstab dafür
gibt es nicht; es ist der Diskurs, der, womöglich nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten, darüber befindet, der auch die Pforten zum Walhall des Kanons
«unsterblicher» Werke öffnet. Die Mona Lisa lässt sich ebensowenig als zeitlose Schönheit erfahren wie die Fettecke von Beuys oder eine Installation von
Matthew Barney. Besondere Bedeutung auch für die Genese mythischer Werke kommt dabei der Reproduktion zu. Ist es wirklich so, dass die technische
Reproduktion das Hier und Jetzt des «echten» Kunstwerks entwertet? Walter
34 Über Cellini: Cole (2002).
35 Vgl. Foucault (1997), Kap. 2.
36 Danto (1964).
26
Abb. 3: Andy Warhol, Mao Zedong © The Andy Warhol Foundation for the Visual
Arts, Inc. / 2011, ProLitteris, Zurich
Benjamin argumentiert, was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmere, sei seine Aura.37 Insofern das Foto einigermaßen zuverlässige Vorstellungen selbst vom zerstörten, verlorenen Werk
vermittelt – man denke nur an Mantegnas Fresken in der Eremitani-Kapelle
zu Padua – kann es tatsächlich zum «Mythenkiller» werden; schon Ruskin
und Burckhardt übrigens erkannten jene bewahrende Funktion der Daguerreotypie und der Fotografie.38 Meist aber gleicht der Mechanismus dem, der
37 Vgl. Benjamin (1970), 16.
38 Vgl. Kemp (1983), 148; Burckhardt (1967), 23, Nr. 670, Brief vom 5.4.1875 an Max
Alioth.
27
den Star generiert. Auch sein Bild wird wieder und wieder reproduziert, daraus
kommt sein Ruhm. Der brennende Wunsch, ihm in Fleisch und Blut gegenüberzustehen, womöglich gar eine flüchtige Berührung gewährt zu erhalten,
wird zur Obsession des Publikums; die Begegnung mit dem Original des
zuvor schon tausendfach über Reproduktionen vertrauten Werkes mag in
weniger ekstatischer Form vonstattengehen und gleicht doch jener weltlichen Epiphanie.
Der Gedanke ließe sich mit einem Blick auf das Original der Mona
Lisa illustrieren, falls er denn möglich ist: Geschützt von Panzerglas, aufs
Angenehmste klimatisiert und von Bodyguards bewacht, wird sie in ihrem
Gemach im Louvre gewöhnlich von einer blitzlichtfeuernden Menschenmenge umstanden und ist so dem Auge nahezu entzogen. Ähnliche Pulks bildeten
sich, zeigten sich Angelina Jolie oder George Clooney an ihrer Stelle. Wie die
Stars, über deren Affären und Schicksale die Regenbogenpresse orientiert,
mehren die Schicksale der Meisterwerke ihren Ruhm; im Fall der Gioconda
zählt etwa der Umstand dazu, dass Franz I.’ Blick auf ihr ruhte und dass sie
mit Herrn Peruggia ein Florentiner Hotelzimmer teilte. Marcel Duchamp
malte einer «Postkarten-Mona Lisa» einen Bart auf, nahm ihr so Geschlecht,
Schönheit und Jugend und signierte das Ganze: So persiflierte das Bild die
bizarre Vielfalt der Deutungsangebote und warf, wie Hans Belting zeigt, die
Frage nach der Idee auf, die hinter Leonardos Bild stand.39 Andy Warhol
dann machte durch seine bunten Siebdrucke die Gioconda zum Popstar.40 Sie
wurde als Mediengestalt gezeigt, die als Abziehbild und damit Ware für jedermann verfügbar wurde. Die ungewollte Kehrseite dieser Dekuvrierung war,
dass sie dazu beitrug, die magische Wirkung des Originals weiter zu steigern.
Die subversiven Kommentare Duchamps und Warhols sind ihrerseits längst
zu Meisterwerken mit erheblichem Marktwert geworden. Durch die Fülle
der Texte, Reproduktionen und Persiflagen, die sie anregte, gewann Mona
Lisas Ruhm einen festen Grund, bis heute. Die fünfhundertjährige Florentinerin ist längst zur globalen Ikone geworden.
39 Vgl. Belting (1998), 324–332.
40 Ebd., 331.
28
Als Fazit bleibt so erneut ein widersprüchlicher Befund. Einerseits trifft
wohl zu: Je üppiger und ausführlicher die «Kontexte» sind, je prunkvoller die
Leerstelle, die sie umspinnt, so größer bläht sich das Vakuum, das sie umgibt,
wird immer herrlicher, zu einem geheimnisvoll funkelnden, unsagbar schönen
Gebilde. Sie machen, was an Materie da ist, dramatisch sichtbar, und sie füllen
die Leere mit Möglichkeiten. Es sind aber vor allem die Leerstellen im «primären» Kontext des Werkes, den Resten seiner – mit Heidegger – insgesamt irreversibel «zerfallenen»41 Ursprungswelt, die eine Vermehrung der «sekundären»
Kontexte zur Folge haben: nämlich die Lösungsversuche des Rätsels. Beides,
das Mysterium und der gerade daraus herrührende Überschuss an Erörterungen und, en passant, Reproduktionen, werden zu Motoren des Mythos.
IV. Leerstellen im Kontext
Worauf es uns ankommt ist hier: Kunst ist ohne Kontexte nicht erfahrbar;
sie zum Verschwinden zu bringen, ist praktisch unmöglich. Sie ziehen Autor
oder Autorin zurück ins Werk und seine Geschichtlichkeit. Sie mischen sich
in den schöpferischen Prozess, der bei der Betrachtung dem Werk im Kopf zu
seiner einzig «realen» Gestalt verhilft.
Eine «strenge Kunstgeschichte» mag sich noch so schmallippig um
Analysen der Form bemühen, nie und nimmer wird sie die Geschichte, in
der ein Werk steht, eliminieren können; die Urheber, die Autorinnen des
Werks sind ungeachtet postmodernen Exorzismen zähe Revenants. Ihre Spuren und die Kontexte sind mit dem Werk gleich welcher Gattung untrennbar verschmolzen wie bei Ölgemälden die Pigmente mit dem Bindemittel
oder der Firnis. Die Erfahrung des Werks und das Wissen um seine Kontexte bestimmen gleichermaßen das ästhetische Erlebnis, wobei es weniger
darauf ankommt, wie «richtig» oder «falsch» die das Objekt der Bewunderung umspinnenden Bedeutungsgewebe sind. Sich ihnen zu entwinden,
das «Geschwätz der Interpreten» zu ignorieren, sich hinwegzusetzen über
das Geplapper der Reiseführer, die Erwägungen der Kunsthistorikerinnen
41 Vgl. Herrmann (1994), 148–150.
29
und Kunsthistoriker, die Prosa und Poesie der Feuilletons ist unmöglich. Sie
haben bezwingende Macht.
Aus jener Einheit von Werk und Kontext folgt, dass die Suche nach Leerstellen beides, Geist und Materie, zu berücksichtigen hat: das fehlende, zerstörte Werk oder auch die «blinden Flecken» ebenso wie die verlorene Überlieferung, die zerfallenen Welten des Werkes. Gleichermaßen nähren sie den
Mythos, da der Mythos notwendig mit dem Unbekannten zu tun hat. Piero
della Francescas Geißelung in der Nationalgalerie der Marken in Urbino war
allein in den letzten Jahren Gegenstand mehrerer Monographien. Die Suche
nach den zerfallenen Ursprungswelten von Giorgiones geheimnisvoller Tempesta, oder von Botticellis Primavera (oder wie immer man das berühmte
Gemälde nennen soll) haben nicht minder zahlreiche Federn inspiriert. Wäre
Genaues über die Entstehungsbedingungen der Mona Lisa bekannt, womöglich eine Zahlungsanweisung ihres Auftraggebers oder ein Briefwechsel mit
Leonardo, wären niemals Hekatomben von Papier mit Spekulationen darüber bedruckt worden. Und gäbe es zu Leben und Denken Leonardo da Vincis
wohlgeordnete, ausführliche Quellenbestände, wäre er zwar immer noch ein
Maler der Extraklasse; sein Mythos aber hätte sich niemals zu ähnlich sagenhafter Dimension entwickelt. Die Auflösungen des Rätsels wären womöglich
banal. Angesichts der Leerstellen im Kontext bleiben Fragen über Fragen.
Wer ist die Dargestellte, warum lächelt die schöne Frau, worüber und gegenüber wem? Warum gelangte das Bild in den Besitz Franz I.’ von Frankreich
und verblieb nicht beim Auftraggeber? Auch dank der riesigen Lücken, die
in der Überlieferung klaffen, vervielfachte Mona Lisa ihre Identität. An der
Konstruktion ihrer multiplen Identitäten waren berühmte Autoren beteiligt,
die damit zu Mitschöpfern ebenso zahlreicher Giocondas wurden: Theophile
Gautier, Sigmund Freud oder, zuletzt, Roberto Zapperi.42 Walter Pater lieferte die bis dato wohl monströseste und zugleich poetischste Deutung des Porträts, die sich gerade deshalb tief ins Unbewusste wenigstens eines gebildeten
Publikums einprägte; es ist eine Passage der Renaissance, die zugleich erklärt,
wie Pater zum Gott des modernitätsmüden, nach Mythen dürstenden viktorianischen Publikums werden konnte:
42 Vgl. Zapperi (2010).
30
Alle Gedanken und Erfahrungen der Welt haben sich hier eingegraben, eingeschrieben (…), die Sinnlichkeit Griechenlands, die
Wollust Roms, der Mystizismus des Mittelalters, die Rückkehr
der heidnischen Welt, die Sünden der Borgia. Sie ist älter als die
Felsen zwischen denen sie sitzt; wie der Vampir, ist sie viele Male
tot gewesen und hat die Geheimnisse des Grabes erlernt; sie war
ein Taucher in tiefen Seen, und bewahrt ihren versunkenen Tag
um sich, und handelt um seltsame Gespinste mit Kaufleuten aus
dem Osten; und, als Leda, war sie die Mutter Helenas von Troia,
und, als St. Anna, die Mutter Marias; und all das war um sie nur
als der Klang von Leiern und Flöten, und lebt nur in der Zartheit,
mit der die wechselnden Gesichtszüge geformt, die Augenlider
und die Hände geformt sind. Die Phantasie eines ewigen Lebens,
die hier zehntausend Erfahrungen zusammenfegt, ist alt; und die
moderne Philosophie hat die Idee der Menschheit erdacht, wie sie
eingegraben ist in sie, und sie fasst in sich alle Arten des Denkens
und des Lebens. Gewiss könnte Lady Lisa für die Verkörperung
der alten Träumerei und der modernen Idee stehen.43
Die Liste der mythischen Rätselbilder ist unendlich lang, und die Texte über
sie füllen Bibliotheken: Boschs Garten der Lüste und Tizians Irdische und
himmlische Liebe wäre darauf zu finden, Savoldos Gaston de Foix oder Velázquez’ Meninas oder Watteaus Einschiffung nach – oder Abfahrt von? – Kythera.
Und wie wohl würden wir Cy Twomblys Kunst erfahren, hätte der notorische Schweiger sich wortreich dazu geäußert; es war nicht seine Art. Dass
er es bei kryptischen Hinweisen – Lepanto, Hero und Leander – beließ, war
Absicht, von ästhetischen Erwägungen bestimmt. In einem Interview hat er
kurz vor seinem Tod ausdrücklich bekannt, er wolle damit den Gedanken der
Betrachterinnen und Betrachter die Chance zum Spiel eröffnen, sie keineswegs dazu bringen, den Code eines fest stringenten Systems zu erschließen.44
Twomblys Rätsel, auch die Leonardos, Giorgiones, Piero della Francescas
43 Vom Autor übersetzt nach Pater (1986), 80.
44 Vgl. Roeck (2008).
31
und anderer bleiben ungeachtet der Heerscharen von Exegeten, die sich an
ihrer Auflösung abmühten, unbeschädigt.
Der Effekt der Mythenbildung aus der Leere zeigt sich besonders spektakulär, wenn das Werk selbst ganz verloren ist, die Diskurse um eine leere
Mitte kreisen; mehr noch, wenn ein Nichts im Verdacht steht, bedeutend
gewesen zu sein, es einst eine berühmte Autorschaft gab. Das Mysterium
verdoppelt sich gewissermaßen, wenn sich zum Vakuum, den das Verlorene
hinterlassen hat, Leerstellen in der Dokumentation gesellen. Die Bilder der
Zeuxis, Parrhasios oder Apelles geben die wirkungsmächtigsten Exempel:
Weder gibt es die Werke, noch Dokumente aus ihrer Entstehungszeit, die ihr
Aussehen verrieten. So avancierten sie zu faszinierenden «Überkunstwerken»
von sagenhafter Vollkommenheit; wenigstens das Aussehen der Verleumdung
des Apelles schien nach einer Lukian-Stelle rekonstruierbar. Botticelli hat sich
an einer Umsetzung versucht.45
Aber wie sahen die verwitterten Malereien des rätselhaften Giorgione und
des nicht minder mythischen Tizian auf der Fassade des Fondaco dei Tedeschi in
Venedig aus?46 Welches Bild boten die Fresken, die von Leonardo und Michelangelo auf die Wände der Sala dei Cinquecento des Florentiner Palazzo Vecchio
gebracht wurden – die Schlachten von Cascina und, vor allem, die legendenumwobene Anghiari-Schlacht, auch sie Hauptstücke im Museum verlorener Kunst?
Sie begann ihre Reise ins Unsichtbare bereits während des Entstehungsprozesses,
zwischen 1504 und 1506; erst verzweifelt, dann zunehmend mut- oder lustlos
scheint Leonardo, von der Signoria immer wieder gedrängt und gemahnt, mit
technischen Problemen gekämpft zu haben.47 Vermutlich hat Vasari bei allem
Respekt vor dem berühmten Meister dann das, was davon übrig war, mit seinen
monumentalen Fresken übermalt. Zeichnungen und spätere Kopien, darunter
eine von Rubens, überliefern Details und ein grobes Konzept der Gesamtkomposition. Kurioserweise machte jenes Nichts aus einem belanglosen Gefecht
im Jahr 1440 eine der bekanntesten Schlachten der Renaissance. Das Tref­fen
zwischen Söldnerhaufen Mailands und Florenz’ wäre längst vergessen, gäbe es
nicht den Mythos eines Bildes, das nicht einmal erhalten ist.
45 Vgl. Cast (1981); auch Gombrich (1976).
46 Vgl. Schweikhart (1993).
47 Zuletzt Zöllner (2007), 162–174; Ders. (1998).
32
Ähnlich verhält es sich mit Leonardos Entwürfen für Reiterstandbildnisse für Ludovico Sforza und Giangiacomo Trivulzio; von ersterem, einem dramatisch, «barock» sich aufbäumendem Pferd samt Reiter, wurde ein sieben
Meter hohes Tonmodell Wirklichkeit.48 Während der Guss an technischen
Problemen (und wohl auch an Geldmangel) scheiterte, war das Modell noch
bis 1499 zu sehen. Nach dem Einmarsch der französischen Armee in Mailand diente es Landsknechten als Zielscheibe für Schießübungen mit Pfeil
und Bogen; die Reste wanderten wohl auf den Schuttplatz.
V. Ungeschaffene Meisterwerke
Leonardos Pferd blieb also im Arsenal des Ungeschaffenen, der geplanten,
aber nicht ausgeführten Werke, wenngleich findige Tourismus-Manager
inzwischen eine Ausführung in der Nähe eines Mailänder Stadions aufstellten (Abb. 4). Es ist ebenso wie das Museum des Verlorenen mit erstrangiger
Kunst bestückt, wobei von den Kopfgebilden der Maler, Bildhauer und
Architekten, die keine Spuren in den Schriftquellen hinterließen, notgedrungen zu schweigen ist: Michelangelos Grabmal Julius II.’ ragt darin ebenso
hervor wie der größte Teil der Kathedrale von Beauvais oder Sienas Neuer
Dom, über den Jacob Burckhardt angesichts der erhaltenen Teile urteilte, er
wäre im Fall der Fertigstellung das bei weitem schönste gotische Gebäude
Italiens geworden und ein Wunder der Welt.49 Merkwürdig, wie gerade nicht
oder nur unvollständig realisierte Projekte die Phantasie der Nachgeborenen stimulieren und zu enthusiastischen Urteilen bringen, etwa Balthasar
Neumanns nur in «Knechtsgestalt» in die Wirklichkeit getretene Abteikirche
von Neresheim, die, mit Georg Dehio, gleichwohl ein Raumerlebnis von
«erschütternder Großartigkeit» gewährt.50
Bleiben wir noch einen Moment bei dem Meisterbaumeister aus Eger,
der 1746/47 – es wäre der Gipfel seiner Karriere gewesen – mit Planungen
für einen Umbau der Wiener Hofburg beschäftigt war. Wegen der «verderb48 Vgl. Zöllner (2007), 85–93, 194f. mit weiterer Literatur.
49 Vgl. Burckhardt (1878), 130.
50 Dehio (1925), 337.
33
Abb. 4: Nina Akamu, Kolossalpferd für ein Reiterstandbild Francesco Sforzas nach
Zeichnungen Leonardo da Vincis, 1999. Bronzeguss, Mailand, Hippodrom San Siro
© 2011 Trista B., Creative Commons
lichen Kriegszeithen», so sein Patron Graf Silva Tarouca in einem Brief an
Neumann, musste auf die Umsetzung der Pläne verzichtet werden. Die Regel,
dass dergleichen Luftgebilde ungebremste Begeisterung stimulieren, gilt auch
für diesen Fall. Der Kunsthistoriker macht sich auf eine geistige Wanderung
durch die Pläne, durchschreitet das Treppenhaus («Neumann fasste hier seine ganze Gestaltungskraft zu höchster Wirkung zusammen») und findet zu
einem begeisterten Gesamturteil: Beim Projekt für die kaiserliche Hofburg
habe er viele seiner früheren Lösungen zu kluger Synthese gebracht, alles früher Dagewesene übersteigert «zu einer so gewaltigen Macht der Erscheinung,
dass die Hofburg weltweit als das absolut Höchste erscheinen musste, das der
Schloßbau hervorbringen konnte, als der unüberbietbare Zenit einer langen
Entwicklung».51
51 Schütz (1986), 79f.
34
Noch mehr ins Imaginäre verflüchtigen sich Werke, die nicht entstanden,
weil ihr potentieller Schöpfer «vor der Zeit» starb. Junge Tote von Raffael –
mit dem Holzer schon von seinem ersten Biographen verglichen wurde – bis
Mozart inspirierten von jeher die Phantasie. Welches reife Alterswerk mag
der Nachwelt entgangen sein? Der «vorzeitige» Tod (der in Wahrheit ja alles
andere als frühe «Vollendung» sein kann), versieht das, was die Dahingeschiedenen hinterlassen haben, mit dem Siegel der Endgültigkeit: Kein Spätwerk
kann das Frühere relativieren, alles ist letztes Wort; dazu kommt die ungewisse Vermutung, die Menschheit sei so um einige große, absolute Meisterwerke gebracht worden. Man stelle sich vor, Mozart wäre so alt geworden wie
Haydn und hätte noch fünfzig Symphonien und ein paar Opern schreiben
können – oder Raffael hätte den Auftrag erhalten, den Petersdom auszumalen, und ihn ausgeführt!
Das Staunen vor dem, was am Ende vom schmalen Œuvre eines jung
Gestorbenen erhalten blieb, wird so durch das Wissen verstärkt, dass man
eben vor Unvollendetem steht. Es fehlt das Zerstörte ebenso wie das Ungeschaffene. Muss nicht die Klosterkirche von Münsterschwarzach, ein Bau
des bedeutendsten deutschen Architekten der Epoche, ausgemalt von ihrem
grössten Freskanten, ein Wunder gewesen sein, das sich der Vorstellungskraft entzieht? Die Entwürfe Holzers geben eine Idee, nicht mehr; es verhält
sich ähnlich wie mit anderen zerstörten oder unvollendeten Meisterwerken.
Allenfalls vorhandene Bozzetti, die Nachstiche, die Kommentare sind bloße
Umschreibungen einer Hauptsache, die nicht mehr vorhanden ist.
Auch der Ruhm Johann Holzers hat gewiss nicht nur mit dem unglücklichen Schicksal seiner Hauptwerke, sondern auch mit seinem frühen Tod zu
tun. So konnte nicht geschaffen werden, was womöglich noch vollkommener gewesen wäre, als das, was überliefert ist. Der Umstand, dass Holzer als
Kandidat für den Auftrag, die Würzburger Residenz zu freskieren, in Aussicht
genommen worden zu sein scheint, mag in der Tat melancholisch stimmen;
die Trauer wird indes gedämpft, wenn man bedenkt, dass so Giambattista
Tiepolo zum Zuge kam.
35
Gerade das Unvollendete oder Zerstörte treibt die Phantasie an, sich
etwas unsagbar Schönes zu denken, ohne dass die Chance besteht, sich seiner ganz zu versichern. Die Faszination, die vom Torso ausgeht, überhaupt
vom Unvollendeten hat darin ihren Grund,52 auch wenn die Unvollständigkeit banale, erdennahe Ursachen hat. Der Torso von Belvedere ist gewiss ohne
Absicht ohne Gliedmaßen und Kopf überkommen; Schubert kam schlicht
wegen anderer Arbeiten nicht dazu, seine «Unvollendete» – die ja keineswegs
sein letztes Werk war, vielmehr einfach «in der Schublade» liegenblieb – fertigzustellen. Und Mozarts früher Tod war alles andere als ein Ausdruck von
Götterliebe; er fügt sich vielmehr vollkommen in demographische Muster
der frühen Neuzeit. Als ihm für immer die Feder entglitt, war er an der
Schwelle zum großen Ruhm und gewiss zu Aufträgen, aus denen Werke von
atemberaubender Qualität geworden wären.
VI. Orte des Absoluten
Die magische Wirkung des Verlorenen und dessen, was nicht entstehen konnte, weil der Tod oder bestimmte Umstände es verhinderten, resultiert indes
nicht nur aus dem Rätsel. Die Leerstelle öffnet sich zum Absoluten.53 Jenes
Absolute verweigert sich notwendig der Ausführung; im «blinden Fleck» hat
die Phantasie den Raum, sich dem Vollkommenen zu nähern. Die Ästhetik
des Torso hat das zum Grund,54 ebenso die Schönheit des non finito. Die
«Ränder», dort, wo die gestaltete Materie endet, deuten an, wie es weitergehen könnte, ohne dass ein letztes Wort gesprochen würde. Sie legen Spuren,
die zur Imagination des Absoluten zu führen scheinen.55
Viele Bilder Cézannes geben Ahnungen von Vollkommenheit, gerade
weil Partien der Leinwand, absichtlich oder nicht, roh blieben.56 Die Wirkung kann atemberaubend sein, jedenfalls für den am offenen Werk der
52
53
54
55
56
36
Vgl. Brückle (2001).
Vgl. Belting (1998), 324–332.
Vgl. Brückle (2001).
Vgl. Boehm (2000).
Vgl. Baumann / Bach (2000).
Moderne geschulten Blick. Ein Virtuose des unvollkommenen Vollendeten
war Auguste Rodin: Er beließ es ja oft beim Torso oder rückte gestaltete,
polierte Formen dadurch in den Blick, dass er sie mit unbearbeiteter Materie
konfrontierte. Der Fragmentarist Rodin lehrt, den Marmor zu sehen. Er regt
dazu an, Unfertiges weiterzudenken, und er schärft unser modernes Auge,
das nun beispielsweise in Michelangelos Matthäus oder seinem Atlas-Sklaven
zwei der großartigsten Skulpturen der Neuzeit erkennt. Im non finito begegnet keine defizitäre, sondern eine vollkommene Ausdrucksform.57 So kann
die Phantasie aus dem völlig verlorenen Werk Vollkommenes zusammenfügen. Es wird schemenhafte Wirklichkeit dort, wo jedes Kunstwerk seinen
letzten Ort hat: im Körpermedium.58
Die Stanzen des Vatikan kann die Phantasie in Piero della Francescas
kaltes Licht tauchen; auf Venedigs Fondaco dei Tedeschi vermag sie Tizians
glühendes Kolorit zu bringen, und aus Holzers verlorenen Fresken werden
Wunderwerke der Malerei. Die Phantasie versteht, aus den verwehten Spuren der Anghiari-Schlacht die herrlichste Reiterbataille des 16. Jahrhunderts
zu fertigen, ein Bild ohnegleichen. «Die beiden (…) Bilder», so schreibt
ein moderner Kunsthistoriker über die verlorenen Fresken Leonardos und
Michelangelos in der Sala dei Cinquecento, «wären die beeindruckendste
malerische Gestaltung eines öffentlichen Innenraums des frühen 16. Jahrhunderts gewesen».59 Leonardos Pferde-Modell wird durch den Mailänder
Hofdichter Baldassarre Taccone ein Werk, das sich in höchsten Tönen rühmen lässt. Das Talent des Künstlers erschien als vom Himmel gesandt, Griechenland und Rom hätten nie ein größeres Kunstwerk gesehen: Wenn man
ihn mit Phidias vergleiche, «mit Myron, Skopas und Praxiteles», schreibt er,
«muss man sagen: Nie war ein Werk auf Erden schöner».60
Das Verlorene wird ebenso zum Ort des imaginären Absoluten wie
die Leerstelle – oder Malevitchs Schwarzes Quadrat, das vollkommen dem
schwarzen Quadrat gleicht, mit dem der spleenige Naturphilosoph Robert
Fludd im 17. Jahrhundert das Nichts, wie es sich vor der Schöpfung
57
58
59
60
Vgl. Boehm (2000), 39.
Vgl. Belting (2011).
Zöllner (2007), 164.
Ebd., 90f.
37
Abb. 5: Robert Fludd, Nihil ad infinitum,61 Holzschnitt © Wellcome Photo
Li­b­rary, London
«zeigte», darstellte (Abb. 5 und 6).62 Sie erfüllt jene Sehnsucht nach etwas
nicht Definierbarem, die Wolfgang Hildesheimers melancholischen Ästhetiker Sir Andrew Marbot beim Blick auf das Land Raffaels, auf die im Dunst
verschwimmenden Hügel um Urbino, auf Konturen und Überschneidungen,
befällt.63 Ist die Sache bestimmt, hat sie feste Umrisse und erzählt wortreich
von sich selbst, bleibt dem Traum vom Vollkommenen nur wenig Platz. Die
Landschaft im scharfen Sonnenlicht des Spätherbsts ist etwas für Klassiker,
61 In: Fludd (1617–21).
62 Vgl. Westman (1984), 194–196.
63 Vgl. Hildesheimer (1984), 229.
38
Abb. 6: Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat auf weissem Grund, 1915. Öl auf
Leinwand, 79 x 79 cm; Moskau, Tretjakow-Galerie
nicht für Romantiker. Die Kunst der Moderne, die von der Leerstelle im
Werk und im Kontext lebt, ist in dieser Hinsicht romantisch. Das «Fehlende,
das nicht fehlt», das «Verlorene, das niemals da war», erscheint als ihr Prinzip.64 Der blinde Fleck wird zur Öffnung ins Ich; die Suche nach dem absoluten Schönen ist ja immer eine Seelenreise, die den, der sie unternimmt, verwandelt. Indem wir Kunst betrachten, etwas «schön» nennen, finden wir ja
immer ein Stück unserer selbst. Dabei entfaltet sich eine schwer beschreib­bare
Gefühlsbeziehung zwischen Farben, Formen und Erinnerungen an Texte.
64 Dazu Moser-Ernst (2010); auch Gehring (2011).
39
Das Problem der Unmöglichkeit, das Absolute zu realisieren, hat Henry James in seiner Erzählung The Madonna of the Future – dem weniger
bekannten Pendant zu Balzacs Das unbekannte Meisterwerk – in eine Parabel
gefasst.65 Der Maler Theobald will die schönste aller Madonnen malen, ein
Meisterwerk, das alle bisherigen Porträts der Gottesmutter einschließlich der
Madonna della sedia Raffaels, übertreffen soll; ihr Vorbild steht ihm schon
lange vor Augen. Es ist die schönste Frau Italiens, die zugleich von innerer
Schönheit leuchtet. Sie mag jener Kunstfigur gleichen, von der schon Alberti
in seinem Malereitraktat und auch in De statua redet: Zeuxis soll, nach der
bekannten, von Cicero überlieferten Anekdote, die fünf schönsten Mädchen
Krotons ausgewählt und aus ihnen die Schönheit der Frau gebildet haben.66
Das Verfahren, auf diese Weise Wirklichkeit zu arrangieren und zur Idee vorzudringen, wird dann immer wieder propagiert, so von Raffael, Michelangelo, Dürer, Pino und Cellini.67 Was James’ Maler betrifft, so zeigt er dem
gespannten Besucher am Ende nur weiße Leinwand. Das schönste aller Bilder entzieht sich der Umsetzung in Materie. Es bleibt reine Idee, aufgehoben
im Denken. Deshalb auch hat das verlorene Werk seine besondere Chance,
zum mythischen Werk zu werden – in einer Zeit, die, mit Barnett Newman,
eine Zeit «ohne Legenden oder Mythos» ist.68
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Belting, Hans. Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst,
München 1998.
65
66
67
68
40
Vgl. Belting (1998), 164–166.
Vgl. Alberti (2000), 56.
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Vgl. Moser-Ernst (2010), 120.
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44
Bildverkehr.
Über Bilder von Bildern und den Verlust des Originals.
Oder: Wie man weiß, wo man ist
Thomas Steinfeld
I. Gehen
Der Titel dieser Konferenz ist geliehen: Der Bildverlust ist der Name eines
Romans von Peter Handke,1 und es mag angelegen sein, im Rahmen dieser Veranstaltung auch danach zu fragen, was es mit Titel und Inhalt dieses
Buches auf sich hat. Erschienen im Januar 2002, nimmt dieses Werk die
Motive eines anderen Buchs auf, das fast vierhundert Jahre zuvor veröffentlicht wurde. Denn von Bildern und vom Verlust dieser Bilder erzählt auch
der Don Quijote von der Mancha von Miguel de Cervantes.2 Dieses Werk ist
ein komisches Buch über Ritter und Knappen, vor allem aber ein Roman
über andere Romane, eine Abrechnung nicht nur mit den Windmühlen der
Rittergeschichten, sondern auch mit den Wetterfähnchen der Schelmendichtung und der Schäferpoesie. Miguel de Cervantes war ein Meister nicht nur
im Schaffen, sondern vor allem im Niederreißen von Bildern. Wenn aber sein
Buch heute noch gelesen wird, dann hat dieser Erfolg weniger mit der prosaischen Absicht seines Autors, sondern mit dem bunten Glanz eben dieser
Bilder zu tun, die er in seinem Zerstörungswerk schafft.
Peter Handkes Werk nimmt den Don Quijote in sich auf wie einen alten
Weggefährten. Dabei ist sein Buch, dem Umfang von über siebenhundert
Seiten zum Trotz, eben keine epische Erzählung, sondern ein literarisches
Pamphlet, ein Mittelding zwischen Roman und Manifest. Peter Handke
dreht allerdings die Laufrichtung seiner Vorlage um. Er liest den Roman des
1
2
Handke (2003).
Cervantes (2008).
45
frühen spanischen Barock rückwärts, gegen dessen Impetus. Er zieht aus zur
Wiedereroberung der Windmühlenflügel als Gebilde der Phantasie. Oft ist
in diesem Buch von der «langen Dauer» die Rede. Auf Marc Bloch wird
ausdrücklich verwiesen, auf den französischen Historiker, der dieses Wort für
die langen Rhythmen der Geschichte, für die Welt unterhalb der Ereignisgeschichte prägte.3 So wie er, möchte auch Peter Handke die Welt betrachten,
aber nicht um Ruhe und Gelassenheit zu finden. Sondern vor allem, weil an
der langen Dauer, am langsam schwingenden Rhythmus der Jahrhunderte,
die Banalität des stilisierten, inszenierten Ereignishaften zuschanden gehen
soll. Deswegen auch will Peter Handke die Absicht des Miguel de Cervantes,
seine Zeitgenossen um ihre poetischen Illusionen zu bringen, nicht teilen.
Peter Handkes Roman Der Bildverlust ist auch eine Streitschrift. Er hat
also einen Gegner. Dieser Gegner heißt Aktualität – ein Wort, das in diesem
Buch nicht vorkommt, das aber genau bezeichnet, worauf es hier ankommt:
auf das plötzliche Gerinnen der Wirklichkeit in einem Ereignis, in einem
Bild nämlich – das dem Menschen mit einer unabweisbaren Dringlichkeit
entgegentritt. Das Wort «Aktualität» tut einem dabei den Gefallen, mit dem
actus seinen scholastischen, theologischen Ursprung nicht zu verschweigen.
Es geht darin um das «Tätige», «Erscheinende», im Unterschied zum Evidenten. Das englische Adjektiv actual oder das Adverb actually sind dieser
Herkunft näher als das deutsche «aktuell». Peter Handke nun besteht darauf,
dass Aktualität und Wirklichkeit nicht dasselbe sind, und für die fortlaufende
Verwechslung dieser Blickweisen macht er eine aktualistische Sicht der Dinge
verantwortlich. Die Aktualität, meint er, sei die wahre Illusion, wahnhafter
noch als die Hirngespinste der Traumritter. Denn Aktualität bedeutet Nähe,
räumliche wie zeitliche, und sie kassiert alle Reflexion. Aktualität bezeichnet Distanzverlust und ist daher Ausdruck eines grundsätzlichen Einverständnisses mit der Welt durch eine immer größer werdende Nähe, an deren
äußerstem Punkt man die sogenannten sozialen Medien vermuten kann. Wie
durch die Linse eines Kamerazooms betrachtet der Aktualismus, was er für
die Wirklichkeit hält. Sein Repräsentant ist der Journalist, der Live-Reporter,
der eine brandaktuelle, möglichst spektakuläre Chronik der laufenden Ereig3
46
Handke (1994), 244f.
nisse schreiben will. Dieses im Sinn, ließe sich sagen, dass Der Bildverlust im
Werk von Peter Handke eine ähnliche Rolle spielt wie die Ästhetik des Widerstands im Œuvre von Peter Weiss.4
Der Bildverlust ist ein utopischer Roman, verlegt in eine nicht allzu ferne Zukunft, in der ein Krieg zu einer latent allgegenwärtigen Angelegenheit geworden ist. Das Buch hat eine eher vage gezeichnete Geschichte, eine
Heldin und ein paar Nebenfiguren. Eine schöne Frau ohne Alter, Herrin
über ein gigantisches Finanzimperium, verlässt ihren Beruf und ihr Haus
in einer «nordwestlichen Flusshafenstadt»5 und fliegt nach Valladolid, um
von dort aus die Sierra de Gredos zu überqueren, geografisch ein Gebirge in
Kastilien, poetisch ein Ort der Wahrheit, eine Risikozone für Seele und Verstand. Manchmal reist sie per Autobus, manchmal zu Fuß. Erwartet wird sie
jenseits des Gebirges, in der Mancha, also der Heimat des Don Quijote, von
einem Autor, der mit ihr und über sie – und über den Rest der Welt – ein
Buch schreiben soll. Denn nicht anders als bei Miguel de Cervantes sind das
Erzählen und das Erzählenkönnen das eigentliche Ziel des Buches: Es geht,
bei beiden, am Ende um einen poetischen Frieden, der darin liegt, dass der
eine etwas zu berichten weiß, was der andere nicht kennt. Weswegen der
andere zuhört.
Auf die Art der Fortbewegung kommt es hier durchaus an, und auch auf
den Beruf der Protagonistin. Eine «Finanzweltmeisterin»6 sei sie, sagt der Autor,
und wenn der Leser auch wenig darüber zu wissen bekommt, was genau ihre
Tätigkeit ist, so erfährt er doch einiges über die Sphären, die mit ihrer Arbeit
verknüpft sind – es sind so gut wie alle. Anders gesagt: Sie repräsentiert das
Geld in seiner radikal vergesellschaftenden Kraft, und je näher sie dem Autor
kommt, desto weiter lässt sie die Kommunion von allem mit allem durch das
Geld zurück. In der Sierra de Gredos angekommen, beginnt sie zu gehen, und
auch in der Art der Fortbewegung ist das Allegorische nicht zu übersehen.
Denn das Gehen hält die Mitte zwischen dem Schreiten der Götter und dem
Rennen der Flüchtlinge, es setzt die Abwesenheit von Bedrohung voraus, die
4
5
6
Vgl. Weiss (2005).
Handke (2003), 8.
Ebd., 63.
47
Anwesenheit von Muße und die Gewissheit, dass sich alles, was man braucht,
in behaglicher Nähe befindet. Das Gehen gehört zu den mittleren Verhältnissen im menschlichen Leben, es ist der Enge der mittelalterlichen Stadt ebensowenig angemessen wie den ausufernden Metropolen unserer Zeit. Und vor
allem: Wer geht, erlebt die Welt im dauernden Wechsel. Dabei gerinnt sie
vielleicht, bestenfalls, zur Zeichnung, keineswegs aber zum großen Bild.
Der spezifische Blick des Abendlandes auf die Welt ist mit dem Geld entstanden, genauer, mit der Zentralperspektive, in der die Vergesellschaftung
der Welt durch die sich entfaltende Finanzökonomie ihrer selbst innewurde.
Der sich in der Geschichte und der Geschichte der Malerei entfaltende Begriff
der Perspektive ist dabei nicht nur ein Resultat, sondern auch eine Form von
Vergesellschaftung. Der westliche Glaube, das Ich, genauer: ein jedes Ich,
am Bild repräsentiert durch Fluchtpunkt, Sehpunkt und Rahmen, bilde je
für sich einen gleichsam herrschaftlichen Mittelpunkt der Welt, fand also
mehr als seinen künstlerischen Ausdruck: er fand sich selbst in eben der Zentralperspektive (deren Repräsentant in der Literatur übrigens der Held des
Romans ist). Man muss also abstrahieren, um die Bestimmung einer Grenze
wie einer Mitte zu treffen, und diese Abstraktion ist nicht ohne Widerspruch
zu gewinnen: Zum einen gelingt es nur durch das Herauslösen eines Fragments – also einer Verfertigung von Unvollständigkeit – den Anspruch auf
Geschlossenheit und Ganzheit oder die Vision von Vollständigkeit zu erzeugen; das ist nichts weniger als sein Gegenteil. Zum anderen begründet – und
das ist gleichfalls widersprüchlich – nur das Ausschneiden die Illusion von
endloser Kontinuität, die sich auf einen Fluchtpunkt konzentriert. Alles, was
sich nicht in diese partikulare Allgemeinheit fügt, gehört zu einem unmarked
space, dessen Negativität ein uneingelöstes Versprechen in sich birgt. Deswegen zieht es Peter Handke ja so in die Bildlosigkeit der Sierra de Gredos.
Im Gehen hingegen ist zwar auch das Ich als Bezugspunkt gegeben,
aber seine Perspektiven sind dem dauernden Wandel, also der Zeitlichkeit
unterworfen. Das Gehen und die Zentralperspektive gehen nicht zusammen,
weil der Betrachter in der Zentralperspektive steht und die Welt als seine
betrachtet. Er ist die Nabe, der Drehpunkt einer subjektiven Weltsicht, die
nur deshalb funktioniert, weil sie allem und jedem einen Ort zugewiesen hat,
und ihre Bedeutung reicht deshalb weit über die Kunst hinaus: Es gibt kein
48
Selbst ohne Selbstdarstellung, und der Ausdruck dieses Verhältnisses ist das
Bild. Denn der Fluchtpunkt eines Bildes, für den Körper selbst unfassbar,
weil völlig abstrakt, ermöglicht es dem Betrachter, sich selbst als ein Subjekt
wahrzunehmen, das sieht.
Die zentrale Bedeutung des Ich, der Glaube an das Subjekt als an den
Mittelpunkt der Welt, und die scheinbar objektive Zentralperspektive sind
die beiden, sich jeweils gegenläufig bewegenden Momente nur eines Verhältnisses. Denn das Ich tritt erst in dem Augenblick in seiner ganzen Einzigartigkeit und Erhabenheit hervor, in dem kein Ich mehr außerhalb der
Gesellschaft steht. Leicht lässt sich dieser Gedanke in die Gegenwart wenden:
Globalisierung und Mobilisierung scheinen demselben Bewegungsgesetz zu
gehorchen wie Individuum und Gesellschaft. Spätestens seit der kommerziellen Durchsetzung der Fotografie gibt es eine Globalisierung der Bildkunst,
und in ihr eine Globalisierung eines Ichs, das Anspruch auf Autonomie
erhebt. Diese Bilder meint Peter Handke, wenn er den Erzähler sagen lässt:
«Vor allem im noch nicht so lang vergangenen Jahrhundert wurde ein Raubbau an den Bildergründen und -schichten betrieben, welcher zuletzt mörderisch war. Der Naturschatz ist aufgebraucht, und man zappelt als Anhängsel
an den gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern, welche die
mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen, sie vortäuschen und
den falschen Eindruck sogar noch steigern wie Drogen, als Drogen».7 Diesen
Bildern entgegen gibt es selbstverständlich die wahren, gleichsam natürlichen
Bilder jenseits des Bildverlusts.
Warum aber heißt Peter Handkes Buch nicht «Das wiedergefundene Bild», sondern «Der Bildverlust»? Über fünf Stationen geht die Reise
der Heldin durch die Sierra de Gredos. Auf der vorletzten gerät sie in die
«Finsterlichtung»8 Hondareda, eine Art Exil für «todhässliche»,9 zu gebückten Sammlern regredierten Menschen, denen die Bilder – und das heißt vor
allem: die inneren Bilder – abhanden gekommen sind: «Wen solch ein Verlust trifft, der kann nur noch einen einzigen Gedanken denken: Ausgespielt!
7
8
9
Ebd., 744.
Ebd., 557.
Ebd., 570.
49
Es ist zu Ende mit mir und mit der Welt. Bloß haben diese Betroffenen, statt
sich zu ertränken, zu erhängen und Amok zu laufen gegen die Reste der Welt,
sich hierher auf den Weg gemacht».10 Und nun werden die finsteren Gestalten flächendeckend mit Bildern beschossen, «zehn bis vierzehnmal häufiger
als in Frankfurt, Paris, New York oder Hongkong die Verkehrsampeln».11
Auch die Heldin wird am Ende ihren Bildersturz erleben. Den ersten Teil
dieser Allegorie aufzulösen, ist eine einfache Sache: Sie ist Medienkritik. So
wie Cervantes’ Roman dem Zerfall der mittelalterlichen Welt den Zerfall
ihrer Nachbilder, ihres Scheinlebens im Buch folgen lässt, so spiegelt Peter
Handke den vermeintlichen Niedergang der modernen Gesellschaften in
ihren Scheinbildern. Und auch bei der Auflösung des zweiten Teils der Allegorie hilft Don Quijote: Denn als dieser im Kreis seiner Angehörigen stirbt,
befreit von seinem literarischen Wahn, ergreift der große Historiker «Cide
Hamete Benengeli»12 das Wort, um den Lesern mitzuteilen, er habe die ganze
Geschichte nur erfunden, um «Abscheu gegen all die ersonnenen und wirren
Ritterbücher zu erwecken»13 – tatsächlich aber hat sich der Leser längst und
mit Begeisterung durch das wirrste aller Ritterbücher gearbeitet.
Noch einmal: Schon in Don Quijote geht es nicht um den angeblichen
Widerspruch von Kunst und Leben, sondern um eine Erlösung vom Bilderwahn durch das wahrhaftige – und das heißt immer auch: das nicht-zentrierte, rahmenlose – Bild. Es geht um Lebensformen, von denen einige sehr
fantastisch sind. In höherem Maße gilt das auch für den Bildverlust von Peter
Handke: «Ein Gefährt hielt an seinem Ziel», heißt es auf der letzten Seite,
«am Ende nach einer langen Fahrt, und schwankte im Stehen noch nach.
Und dieses Schwanken hörte so bald nicht auf; wird nicht so bald aufgehört
haben».14 Das ist ein Bild, und nach ihm werden, zumindest für Peter Handke, noch unendlich viele andere kommen, nur werden sie dem Gehen verpflichtet sein, dem Schwanken, der fortlaufenden Veränderung. Sie werden
nicht mehr selbständig sein. Und keines wird einen Rahmen haben.
10
11
12
13
14
50
Ebd., 532.
Ebd., 570.
Cervantes (2008), 87.
Ebd., 628f.
Handke (2003), 759.
II. Sehen
Es hat etwas Vermessenes, in einer Welt und in einer Zeit, deren auffälligstes
Signum, neben der Allgegenwart der populären Musik, die Allgegenwart von
Bildern ist, von einem «Bildverlust» zu reden und gar von einem «Bildverlust» als solchem. Tatsächlich, wohin man schaut – man sieht Bilder, und
die digitale Datenverarbeitung fügt, als rasende Reproduktionsmaschine in
milliardenfacher Ausfertigung, dem vorhandenen überwältigenden Überfluss
zu jeder Sekunde noch ein paar Überflüsse hinzu. Scheint es da nicht absurd
vernünftig, auf verrückte Weise haushälterisch, wenn die Sphäre, der das Bild
eigentlich zuzugehören scheint, sich von ihm zurückzieht? Denn weitgehend
verloren ist das Bild in der Bildenden Kunst, zumindest insofern, als das
traditionelle Tafelbild darin nur noch eine untergeordnete – und wenn: dann
eine reichlich komplizierte – Rolle spielt.
Vor einiger Zeit, anlässlich der vorvergangenen Biennale der Kunst in
Venedig, war im Rundfunk ein eher missglücktes Interview mit Isa Genzken
zu hören. Warum sie ihre Installation auf der Biennale Oil genannt habe,
wollte der Journalist wissen. Die Künstlerin reagierte unwirsch. «Das ist es
doch, worum es auf der Welt geht», herrschte sie den Fragenden an, «ob
Krieg, ob nicht, darum geht’s. Um Energie und um Öl».15 In ihrem Kunstwerk im deutschen Pavillon sah man herrenlose Koffer und Trolleys, die in
der Ausstellung herumstanden, als wäre diese eine verlassene Bahnhofshalle, Astronauten, die als Gliederpuppen von der Decke hingen, ausgestopfte
Tiere, Totenköpfe und viele andere Dinge, die sie irgendwo gefunden hatte.
Nichts und alles davon war mit dem Titel Öl erfasst, nichts fügte sich zum
Bild. Aber es lag ein dunkler Reiz in diesem Namen – ein diffuser Appell
an eine zum Gemeinplatz gewordene Weltbedrohungslage, deren Größe und
Bedeutung die Künstlerin auf ihr Werk übertragen sehen wollte.
Oil ist ein schwacher Titel, aber es ist immerhin noch einer. Die meisten Kunstwerke dürften hingegen heute «O.T.» heißen, «ohne Titel». Das ist
nicht nur so, weil der Künstler vielleicht davor zurückscheute, seine Werke
mit einem Hinweis auf eine Bedeutung zu versehen, weil er das Deuten ande15 Siehe vergleichend das Interview in Genzken (2007).
51
ren, vielleicht Berufeneren, den Kunstwissenschaftlern und Kritikern möglicherweise, überlassen möchte. Vielmehr ist eine benennbare Bedeutung
hier selbst zu etwas Fremdem und Unwillkommenem geworden. Denn die
Kunst ist ins Leben selbst eingezogen, hat sich in ihm niedergelassen, ist mit
ihm gemein geworden. Man betrat die Ausstellung Isa Genzkens in Venedig,
schritt durch eine orangefarbene Absperrung, die nicht Rahmen, sondern
schon Teil des Dargebotenen war – aber im Pavillon war nichts wesentlich
anderes zu erfahren, als was man außerhalb auch schon hätte wahrnehmen
können: eine bricolage mehr oder minder banaler Dinge, ein buntes Sortiment aus halb wie bloß gefunden wirkenden, halb arrangierten Gegenständen, deren eigentliche Herkunft irgendwo tief im Alltag liegt. Um was es
bei diesem Kunstwerk eigentlich ging, benannte Isa Genzken in ihrer barschen Antwort also, auf eine etwas verdrehte Weise, durchaus richtig: nicht
um etwas Greifbares, fest in Raum und Zeit Ruhendes, sondern um eine
Art von Energie – und das ist auch die Energie eines Menschen, der einem
das gewöhnliche Leben als außergewöhnliche Veranstaltung nahebringt, in
Gestalt einer Art Assoziationskette, zu der eine potentiell unendliche Zahl
von alltäglichen Gegenständen gehört, die zu Kunst werden, wenn die Hand
des Künstlers sie ergreift und in diese Räume stellt.
Die moderne Kunst war einmal Aufbruch. Über mehr als zweihundert
Jahre hinweg hatte sie gegen die Institutionen des Kunstbetriebes revoltiert,
hatte sich ihre Autonomie immer wieder neu erfunden und erworben, hatte
gegen die Akademien und das Akademische aufbegehrt und war unablässig vorangedrängt, stets zunächst gegen den Markt. Jetzt inszeniert sie ihre
Großereignisse selbst – und siehe da: Sie wird getragen von einem so breiten
Konsens zwischen Mäzenen, Auftraggebern, Betrachtern und künstlerischer
Praxis, dass dazwischen nicht einmal mehr Platz für den geringsten Widerstand wäre. Viele hundert Jahre hat die Kunst gebraucht, bis sie diesen Stand
erreichte – oder genauer: bis sie wieder zu ihm zurückkehren durfte. Denn
der Aufbruch aus dem Normativen, aus dem (wie auch immer gearteten)
handwerklichen Einverständnis zwischen Auftraggeber und Künstler war an
eine Intellektualisierung gebunden: schon weil diese Ablösung begründet, die
Freiheit als bestimmte motiviert werden musste.
52
Von der frühen Neuzeit bis noch in unsere Zeit war daher die Kunst vom
Gedanken getragen, es liege ihr etwas Geistiges zugrunde, das sie darstelle und
symbolisch überhöhe. Noch in den gigantischen Werken von Anselm Kiefer
findet sich dieses Reklamieren von Bedeutung, in der wütenden Monomanie
eines Mannes, der Materialberge auftürmt, um in deren Masse und Stofflichkeit ein Indiz dafür zu finden, woraus Welt und Leben eigentlich bestehen.
Die Konzeptkunst, immer noch nicht vergangen, ist seit Jahrzehnten damit
beschäftigt, mit einem Minimum an Gegenständlichem Anlässe zu schaffen,
um sich dann, zuweilen auf höchst aufwendige Weise, selbst zu erläutern und
aller fremden Deutung den Weg zu weisen. Und schließlich ist die Pointe,
auf die viele zeitgenössische Kunstwerke hin konzipiert sind – Lars Rambergs
Aufschrift «Zweifel» auf dem nun längst untergegangenen Palast der Republik, um nur ein Beispiel zu nennen – eine letzte (und oft alberne) Erinnerung
an das Symbolische, eine auf einen minimalen Zeitraum und auf einen geographischen Punkt zusammengedrängte Idee.
Vermutlich ist die Kunst nur in einer relativ kurzen Periode ihrer langen
Geschichte nicht sakral gewesen, von ihrem Eintritt in bürgerliche Verhältnisse bis zum Ende des Realismus. Die ästhetische Moderne zeichnet seit
ihren Anfängen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eine Rückkehr zu
sakralen Motiven aus – und mit ihr beginnt die Abkehr vom Bild. Denn
begonnen hatte sie, wie Wassily Kandinsky im Jahr 1912 erklärte, mit dem
Bedürfnis, «aus einer Teetasse ein beseeltes Wesen zu schaffen oder richtiger
gesagt, in dieser Tasse ein Wesen zu erkennen».16 Aus diesem Verlangen heraus
ließ die Malerei das Figurative und Figürliche hinter sich, wurde abstrakt, zog
aus in die unkünstlerische Welt, griff nach beliebigen Gegenständen, suchte
den zufälligen Augenblick und das reduziert Typische zu gestalten und in
allem ein Wesen, das Wesen schlechthin, zu ergreifen. «Feinere Emotionen»,
«die mit unseren Worten nicht zu fassen sind»,17 nannte Wassily Kandinsky
diese Wahrheit, der man einen esoterischen Zug nicht absprechen kann. Was
aber ist, wenn die Wahrheit sich nicht einstellt, aus dem Werk der Geist nicht
spricht? Seit hundert Jahren regiert nun die ästhetische Moderne, und ihre
16 Kandinsky (1965), 50.
17 Ebd., 23.
53
Geschichte ist eine fortlaufende Radikalisierung, eine lange Kette von Überbietungen und immer wieder neu und immer wieder anders gebrochenen
Konventionen. Es ist, als müsse die Kunst durch stets verschärfte Maßnahmen dazu gezwungen werden, sich endlich unmittelbar der Seele zu zeigen.
Jetzt zeigt sie sich, indem sie nichts mehr zeigt.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel hatte für die ihm völlig selbstverständliche Überzeugung, in aller Kunst liege eine Bedeutung, die prägnante Formulierung vom «sinnlichen Scheinen der Idee»18 gefunden – sie sei nicht
reiner Geist, hatte er gemeint, denn dieser drücke sich in Theorie aus, sondern unauflöslich ins Sinnliche gewobener Intellekt. Umgekehrt ist die Existenz von Kunst- oder Kulturwissenschaft, gleich welcher Art, Ausdruck der
Gewissheit, hinter dem «sinnlichen Scheinen» gebe es tatsächlich eine Bedeutung, die sich ermitteln lasse. In einer Kunst hingegen, die auf pure Präsenz
setzt, ist diese Vorstellung wenigstens scheinbar aufgehoben. An der Stelle
des «sinnlichen Scheinens der Idee» steht nun das sinnliche Scheinen einer
Energie. Das aber gab es schon einmal: in der religiösen Kunst, und zwar so
lange, wie man daran glaubte, bis sie also in den Status von Bildern rückte.
Auch sie bedurfte keiner Erklärung und schon gar keiner Deutung, war sie
doch unmittelbarer Ausdruck einer höheren Macht. Man begegnete ihr mit
Frömmigkeit, und das heißt: im reinen Vertrauen, in den Gegenständen der
Verehrung auf Gott, auf Vermittlung, auf die spirituelle Mitte aller Verhältnisse selbst treffen zu können.
Jetzt aber ist es die Kunst, die offen daliegt, nicht-bildlich, in schlichter
Gegenwärtigkeit, und alles Deuten scheint ihr unangemessen zu sein. Distanzlos, aber aktuell. Oder genauer: Distanzlos, weil aktuell. Sie ist selbst der
gesellschaftliche Mittelpunkt geworden, den sie bislang allenfalls zur Darstellung brachte. Deswegen hat sich die zeitgenössische Kunst so heftig mit dem
Profanen assoziiert. Das aber heißt auch: Deswegen ist sie so sakral geworden. Der Verzicht auf einen bestimmbaren Inhalt, der Einzug ins Banale und
Alltägliche ist der Preis, den die Kunst für ihren Aufstieg zur höheren Macht
zahlt. Denn weit mehr als um alles Einzelne geht es hier um die Kunst selbst.
18 Hegel (1986), 151.
54
III. Kaufen
Warum fotografieren die Menschen, wenn sie einen Ort erreicht haben, den
sie wenigstens für halbwegs sehenswert halten? Was treibt sie dazu, sich zu
Hunderttausenden in Luzern vor den Wasserturm zu stellen, zu Millionen in
New York auf den Times Square oder in Venedig auf den Markusplatz, um
sich ein Bild von sich selbst zu machen – oder sich eines machen zu lassen?
Es reicht ihnen offenbar nicht aus, zu dieser Zeit an diesem Ort zu sein. Es
ist ihnen nicht genug, wenn sie sehen, hören, riechen, dass sie sich hier und
nicht irgendwo anders aufhalten. Nein, beides bedarf der Bestätigung, der
Mensch und der Ort, man muss sich ihrer symbolisch bemächtigen. Das ist
so, weil weder das eine noch das andere gewiss ist. Denn es ist ja nicht wahr,
dass der Tourist von einem Ort zum anderen fährt, um etwas Neues zu sehen.
Tatsächlich reist er, um zu sehen, was er schon kennt, und die Menschen, die
sich selbst vor den Sehenswürdigkeiten der Welt fotografieren, bringen ihre
Bilder dieser Sehenswürdigkeit schon mit, wonach die selbstgemachten Bilder dann Belege der vollzogenen Gleichheit sind. Daraus ist zu schließen, vor
allem anderen, dass sinnliche Gewissheit überhaupt erst durch ihre mediale
Vermittlung entsteht.
Zur Bilderflut, zur hemmungslosen Vervielfältigung der Bilder gehört,
dass alles im Bild festgehalten wird, und Bild heißt hier vor allem Fotografie,
und zum anderen, dass sich die Bilder auf immer weniger Gegenstände konzentrieren. Wollte man diese Verteilung illustrieren, müsste man zum Bild
einer amerikanischen Stadt greifen, also etwa zum Bild von den Metropolen
Shanghai oder Los Angeles, die eine gewaltige Fläche bedecken, um, sehr
konzentriert, in der Mitte extreme Hochhäuser hervorzubringen. Die Zahl
der Motive wird tatsächlich umso endlicher, je mehr technische Reproduktionen es von ihnen gibt. Und je weiter diese Entwicklung geht, desto mehr
verwandelt sich jedes Motiv in ein Zeichen – um mit Georg Simmel zu reden,
in eine reale Abstraktion, in etwas Sakrales, in die sinnliche Gegenwart einer
Unterscheidungsleistung des Verstandes.19 Die Fotografie, die der Tourist
von seiner eigenen Anwesenheit vor einer Sehenswürdigkeit macht, ist Beleg
19 Vgl. Simmel (1989), 57.
55
dieser Metamorphose, in der Bildkult und Gegenstand verschmelzen. In der
Marke, im zum Logo gewordenen Auftritt finden beide zusammen.
Und Bild bedeutet nicht nur, dass da etwas gemalt oder fotografiert oder
aus anderen Bildnissen montiert ist. Die Wahrnehmung verläuft umgekehrt.
Denn die Welt ist bebildert: die öffentlichen Abfalleimer sind es, die Griffe
der Benzinschläuche von Tankstellen, die mit einem flimmernden Monitor
unterlegten Wechselgeldschalen, die Flächen der öffentlichen Verkehrsmittel, jede Oberfläche ist dem Bild erschlossen und schließlich die Architektur
selbst: Hochhäuser, die mit Billboards bedeckt zu Zeichenträgern mutieren.
Und auch, ja, leider, die klassischen Buchstabenmedien, allen voran die Zeitung, sind, in erheblichem Maße, zu Bildmedien mutiert. Was Arbeit und
Gesellschaft, was Privatleben und Interessen sind, wie man sich darin einfügt
und welche Vorstellungen es davon gibt – all diese Ansichten, im buchstäblichen Sinne, werden heute in einem hohen Maße ikonisch distribuiert. Sie
erscheinen als unwidersprechliche, nicht mehr dem Diskurs zu Verfügung
stehende Anschauungen, die ihre Autorität aus der Unmittelbarkeit des Bildes beziehen. Das Bild erscheint als nicht mediales Fenster zur Realität.
Im Bild lag, indessen, lange Zeit etwas ganz anderes, nämlich eine Hoffnung auf Rettung, und manchmal ist es gewiss auch heute noch so. Dass etwas
zum Bild wird, dass ein Gegenstand, oder ein Ensemble von Gegenständen,
aus allen anderen möglichen Gegenständen herausgehoben und im Bild festgehalten wird, diese Anstrengung hebt den Gegenstand unter allen anderen Anstrengungen heraus. Unter feudalen Voraussetzungen ist diese Mühe
überschaubar, und man muss nicht zum Geschichtsphilosophen werden, um
zu sagen, dass eine auf manueller Arbeit beruhende, aber gesellschaftlichen
Surplus hervorbringende, ständisch organisierte, aber sich nach Akten der
Souveränität auf­fächernde Gesellschaft ihre Entsprechung in den unerhört
aufwendigen, langwierigen und auch teuren Techniken des klassischen, meist
in Öl gemalten Tafelbildes ihre Entsprechung findet. Die Fotografie hingegen tritt nicht nur im selben Augenblick in die Welt, in der die industrielle
Produktion einsetzt, sondern auch im Augenblick der Entstehung einer entfalteten Warenwelt. Sie entspricht darüber hinaus, in ihrer Gleichgültigkeit
gegenüber ihren Gegenständen, im Umstand, dass jeder fotografiert werden
kann, in ihrer Kontingenz einer demokratischen Weltordnung – die sich dar56
in bestätigt, dass das Fotografieren (und, unter digitalen Voraussetzungen,
auch das Filmen) zum technischen Repertoire einer überwältigenden Mehrheit in der Bevölkerung gehören. Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem
Zusammenhang, dass sich das Hineindrängen von Bildapparaten in die privaten Wohnungen für die meisten Menschen als größerer Wandel darstellt
als der Übergang von der analogen zur digitalen Reproduktion (damit eng
verbunden die erstaunliche Beständigkeit des Rahmens).
Doch zurück zum Zusammenhang zwischen Bild und Ware: Man kann
einen Gegenstand nicht als Ware wahrnehmen, ohne ihm die Eigenschaft
des Ware-Seins zu übertragen. Diese Reflexion schlägt sich an der Ware nieder als deren Merkmal, gekauft werden zu wollen. «Hier bin ich», ruft die
Ware, «nimm mich wahr», «nimm mich mit». Wenn dem Bild – und besonders: dem Bild unter den Voraussetzungen der technischen Reproduktion –
grundsätzlich eine Sehnsucht immanent ist, dann wäre es zuerst diese. Und
wehe, dieses Begehren wird nicht eingelöst. Zu den großen ungeschriebenen Büchern des bürgerlichen Zeitalters gehört der Roman der verstoßenen,
der nicht erwählten Ware, das Buch vom kapitalen Unglück des erfolglosen
Angepriesen-Seins, vom Ramsch und vom vorzeitig entstehenden Müll. Es
ist dieser Punkt, an dem die Rettung durch das Bild eintreten soll, an dem
also die Reklame beginnt. Wobei sich das Bild dann in einen Anwalt des
Ideellen verwandelt, als der optische Befreier des Zufälligen und potentiell
zur Wertlosigkeit verdammten. Das zieht Konsequenzen nach sich, unübersehbare: Denn die rasende Vervielfältigung der Bilder beginnt in dem Augenblick, in dem Bild und Markt miteinander verschmelzen. Das geschieht in
der Reklame. Im selben Maße, wie Waren nicht nur Gegenstände sind, sondern Arbeitsleistungen, Lebensläufe, Menschen, wie also alles und jeder sich
in eine Ressource verwandelt, die verkauft werden und sich verkaufen muss.
Das hat nicht nur zur Folge, dass besondere Lebensformen entstehen, die
einem existentiellen Surrealismus unterworfen zu sein scheinen. Sondern
auch einen permanenten Wettbewerb auf dem Gebiet der Bilder, in dem
Bilder sich verdrängen, kopieren, überlagern, vernichten, übertrumpfen
und gegenseitig verjagen. Anders gesagt: Jedes Bild kämpft um seine eigene
Gegenwart. Und kaum ist es da, ist es schon wieder fort. Jenseits der Bilder
aber ist unmarked-space, Nicht-Ich, Nicht-Ort, die Hölle des Kapitalismus.
57
Dieser Wettbewerb wird ausgetragen nach dem Gesetz des schärferen
Reizes. Die äußerste Konsequenz ist das Bild als dauerhafte praktizierte sinnliche Gewissheit, oder anders gesagt: die Organwerdung des Bildes, etwa
in der Tätowierung. Sie wird vorangetrieben von einem Moment, das dem
Bild von vornherein zugewiesen ist, aus mehr oder minder guten Gründen,
nämlich vom Moment der Vergewisserung oder Bemächtigung – das Organ
gewordene Bild ist also ein äußerster Akt der Selbstbemächtigung. Man kann
das auch anders sagen: Das Bild wird Original. Was natürlich umgekehrt
nicht nur heißt, dass es womöglich bald gar keine Originale mehr gibt, sondern auch, dass immer mehr Bilder auf Originale reagieren, die wiederum
Bilder sind. Der Bildverkehr ist absolut geworden.
Den Schluss aus diesem Gedanken zieht der Bildtheoretiker und Künstler Wolfgang Scheppe, indem er auf Edgar Allan Poes Gespräch zwischen
Monos und Una20 aus dem Jahr 1841 verweist.21 Darin gibt es eine apokalyptische Vision einer durch die Industrialisierung zerstörten Welt, gestaltet
als Gespräch zweier Verstorbener. Poe spricht von einer Welt der rectangular
obscenities, deren Verursacher er so kennzeichnet: «He grew infected with system, and with abstraction. He enwrapped himself in generalities».22 Edgar
Allan Poe gibt hier eine poetische Ahnung von einem Begriff, der bei Hegel
entstand und über Marx und Simmel zum Situationismus von Guy Debord
und zur kulturwissenschaftlichen Theorie des Kredits bei Joseph Vogl führt:
dem der Real-Abstraktion. Hegel entwickelte in seiner Rechtsphilosophie diesen Gedanken entlang der Geldform, die sich ihm als «existierender Begriff»
oder als «existierendes Allgemeines» erklärt.23 Marx sprach von «sachlichen
Abhängigkeitsverhältnissen», die so erscheinen, «dass die Individuen nun von
Abstraktionen beherrscht werden».24 Real-Abstraktionen sind, wie Wolfgang
Scheppe erklärt, weniger ein Produkt des Denkens, als vielmehr der gesellschaftlichen Organisation, die den Prinzipien des Waren- und Finanzverkehrs
Herrschaft über das Konkrete einräumt. Sie sind der Begriff für die Verkeh20
21
22
23
24
58
Poe (2008).
Scheppe (2011), 98.
Poe (1982), 445f.
Hegel (1974), 229f.
Marx (1974), 81.
rung, in der das Leben dort untergehen muss, wo sich Reglements des Abstrakten in der Wirklichkeit geltend machen. Im sich vergegenständlichenden
Abstrakten erscheint so das lebendige Tote in Gestalt von Menschen, Dingen
und Ereignissen, die im Bild als Abstraktionen ihrer selbst auftreten, indem
sie mit anderen Bildern agieren und auf diese reagieren.
Der radikale Bildverlust der modernen Kunst und der unendliche Bildgewinn im gesellschaftlichen Leben korrespondieren also insofern miteinander, als einer Kunst, die unbedingte Wirklichkeit zu sein beansprucht, eine
Wirklichkeit entspricht, die keine Vorstellung von ihrer bedingten Künstlichkeit hat.
IV. Schluss
Es gibt (wenn man die Revolution ausschließt) nur drei Mittel gegen den
Bildverlust, ein künstlerisches, ein akademisches und ein lebenspraktisches.
Politisch ist es das détournement im Sinne von Guy Debord, dem Kopf der
Situationisten, einer Pariser Künstlervereinigung der fünfziger und sechziger
Jahre, die am Ende nur noch aus ihm selbst bestand. Détournement bedeutet
das Umkehren, das Zweckentfremden aller Bilder. Unter Anwendung aller
Kunstrichtungen und Techniken, meinte Guy Debord, sollen revolutionäre
«Kraftfelder» entstehen, in denen die Widersprüche und Lügen, die in jedem
Bild stecken, offenbar werden. Im détournement sollen Evidenzen geschaffen –
transportable, mit allen Merkmalen des Authentischen ausgestattete Beweise,
die wie von allein einen Weltzustand offenlegen. Das détournement ist also
ein moderner Bildersturm, ein Zurücklenken des Blicks vom Bild auf das
Abgebildete, im Insistieren darauf, dass hinter oder unter der «Gesellschaft
des Spektakels»25 noch eine andere Gesellschaft liegt, ein Ort, der noch nicht
Bild seiner selbst ist. Der akademische Widerstand gegen die Instrumentalisierung durch das Bild wäre vorzüglich eine Angelegenheit der Geschichtsschreibung. Denn sie tut etwas, was aller Theodizee widerstrebt, und was
allen geschichtsphilosophischen Substraten wie dem «Ende der Geschichte»
25 Debord (1996).
59
und allen Providenztheorien von Kapital und Warenwirtschaft entgegengesetzt ist. Geschichtswissenschaft in diesem Sinne heißt: die Kontingenzen
offenlegen. Für den lebenspraktischen Widerstand gegen die Instrumentalisierung durch den entfesselten Bildverkehr schließlich empfiehlt sich Peter
Handkes Programm: Gehen.
Literatur
Cervantes, Miguel de. Don Quijote von der Mancha, München 2008.
Debord, Guy. Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996.
Genzken, Isa. Oil. German Pavilion, Venice Biennale 2007, Köln 2007.
Handke, Peter. Mein Jahr in der Niemandsbucht, Frankfurt a.M. 1994.
Handke, Peter. Der Bildverlust, Frankfurt a.M. 2003.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–
1831, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt
a.M. 1986.
Kandinsky, Wassily. Über das Geistige in der Kunst, Bern 1965.
Marx, Karl. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974.
Poe, Edgar Allan. «The Colloquy of Monos and Una». In: Ders. The Complete
Tales and Poems of Edgar Allan Poe, London 1982, S. 444–451.
Poe, Edgar Allan. «Das Gespräch zwischen Monos und Una». In: Ders.
Sämtliche Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2008, S. 82–93.
Scheppe, Wolfgang. «Lewis Baltz and the Garden of False Reality». In: Lewis
Baltz. Candlestick Point, Göttingen 2011, S. 83–107.
Simmel, Georg. Philosophie des Geldes, Frankfurt a.M. 1989.
Weiss, Peter. Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt a.M. 2005.
60
Komplexe Bilder: Kommunizierte Wahrnehmung
Dirk Baecker
I.
Bilder sind kommunizierte Wahrnehmung. Darin liegen ihre Komplexität,
ihre doppelte Reduktion, die Bedingungen ihrer Rekursivität und ihr Kalkül.
Bilder richten sich an die Wahrnehmung, sie müssen gesehen oder zumindest
vorgestellt werden, um Wirklichkeit annehmen und damit Wirkung entfalten
zu können. Und sie können sich nur an die Wahrnehmung richten, indem
sie mitgeteilt werden. Die Mitteilung durch eine Geste, einen Rahmen, eine
Beschreibung markiert sie im Unterschied zur Fülle sonstiger optischer und
anderer sinnlicher Eindrücke, die sich in der Welt finden.
Wir nehmen damit eine erhebliche Ausweitung des Bildbegriffs vor,
erfassen die Tafelbilder der Religion und der Kunst ebenso wie die Höhlenmalerei, das Totem, die Vignetten in Manuskripten und Büchern, die
Bilder auf Vasen, Münzen und Geldscheinen, Diagramme und Fotografien,
die bewegten Bilder des Films, des Fernsehens und des Videos, die grafische
Gestaltung der Tageszeitung, des Plakats und des Computerbildschirms und
nicht zuletzt auch jene Bilder, die als Weltbilder Weltanschauungen prägen,
ohne ihrerseits sichtbar werden zu müssen. Die Engführung dieses ausgeweiteten Bildbegriffs auf kommunizierte Wahrnehmung zwingt uns jedoch
zugleich zu einer Präzisierung des Bildbegriffs, die es dann auch ermöglicht,
die in der Ausweitung gestrichenen Unterschiede zwischen den Bildern der
Kunst, des Alltags, der Medien und der Welt wieder einzuführen und an
der Art und Weise festzumachen, welche Kommunikation welcher Wahrnehmung das jeweilige Bild jeweils leistet.
Bilder sind in jedem Falle daran erkennbar, dass sie Formen, Farben und
Figuren für eine Wahrnehmung präparieren. Auf einer Fläche, auf einem
Rund, im Raum und in der Zeit stellen sie Sachverhalte zusammen, die ihre
Prägnanz zunächst einmal negativ daraus gewinnen, dass sie nicht zugleich in
61
Worte gefasst, als Klang gehört oder auf eine Formel gebracht werden können. Stattdessen werden diese Sachverhalte konkreter oder abstrakter, reeller
oder fiktiver Art «gesehen». Und nicht nur das. Sie werden, wenn das Bild
gesehen wird, «zusammen» gesehen, auf welche Kontraste, Differenzen und
Bezüge auch immer der Blick dann fällt, wenn er etwas zusammen sieht, und
wie viel Zeit auch immer vergehen mag, um diesen als synchron wahrnehmbaren Zusammenhang auch als Zusammenhang zu konstruieren.
So oder so wird das Bild immer nur von einem einzelnen Bewusstsein
gesehen und wird der Zusammenhang wie immer selektiv nur von einem
einzelnen Bewusstsein gefunden und rekonstruiert. Selbst wenn man sich
die Bilder gegenseitig zeigt und erläutert, weiß man nicht, was der andere
tatsächlich «sieht», ganz abgesehen davon, dass das einzelne Bewusstsein auch
zur eigenen Wahrnehmung nur einen begrenzten und zum Prozess der Herstellung dieser Wahrnehmung im Gehirn keinen Zugang hat.
Auch dann, wenn die Bilder gezeichnet, gemalt, fotografiert oder gefilmt
werden, werden sie in ihrem Prozess der Entstehung und der Entscheidung
darüber, wann sie «fertig» sind, um «gezeigt» werden zu können, von jeweils
einem einzelnen Bewusstsein gesehen, zu dem kein anderes Bewusstsein
einen Zugang hat. Aus dieser unaufhebbaren Differenz, weil Singularität des
Bewusstseins ergibt sich die Komplikation des Bildbegriffs, der als Begriff so
tun muss, als gäbe es in dem Gesehenen eines Bildes das Allgemeine eines
Sichtbaren. In der Entfaltung dieser Komplikation, vielleicht auch in ihrem
Schnüren zu immer neuen Knoten, liegt die Faszination einer Malerei wie
jeder anderen Bildgebung, die immer wieder aufs Neue im Material erprobt,
was man sieht, wenn man sich und anderen etwas zu sehen gibt.1
II.
Bilder setzen voraus und profitieren davon, dass sich jede Kommunikation
wie minimal auch immer an Wahrnehmung richten muss. Gesten müssen
gesehen, Sätze gehört, Schrift gelesen, Stimmungen empfunden werden,
1
62
Siehe vor allem Merleau-Ponty (1964).
ohne dass das Sehen, das Hören, das Lesen und das Empfinden selber Kommunikation wären. Sie sind Wahrnehmung, die in einer verschlossenen
und ihrerseits als komplex unterstellten Einheit, einem Organismus, einem
Bewusstsein, einer Maschine, stattfindet, einer Quelle und Senke der Kommunikation, die als das mise en abîme jeder Kommunikation dieser ihre
Unmöglichkeit als Möglichkeit zur Erfahrung bringt. Weil die Wahrnehmung durch die Kommunikation nicht determiniert werden kann, ist Kommunikation als Abtasten der Wahrnehmung möglich.
Jede Kommunikation setzt diese Art von Wahrnehmung voraus, richtet
sich an sie und versucht sie in unterschiedlichem Maße zu binden. Eine Interaktion zwischen Menschen, zwischen Mensch und Tier, zwischen Mensch
und Maschine kann nur stattfinden, wenn sich Menschen, Tier und Maschine wechselseitig wahrnehmen, das heißt wahrnehmen, dass sie sich wahrnehmen. Nur so kann der eigene Beitrag zur Kommunikation ebenfalls wahrgenommen und die Wahrnehmung von der Kommunikation unterschieden
werden.2 Eine Organisation als Ordnung und Unordnung von Arbeit und
Entscheidung ist nur möglich, wenn sich die Mitglieder der Organisation
durch Akteneinträge, das Zwischenprodukt, den Fließbandtakt, die Projektdeadline oder die Besprechung im wahrsten Sinne des Wortes angesprochen
fühlen und daraufhin ihr Verhalten modifizieren. Auch die massenmediale
Kommunikation durch Bücher, Zeitungen, Film, Fernsehen und das Internet weist die Sollbruchstelle auf, dass sie Wahrnehmung rekrutieren können
muss, die auch ausbleiben kann. Die Funktionssysteme der Gesellschaft wie
die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Religion oder die Kunst
sind allesamt darauf angewiesen, dass sie an einem bestimmten Punkt der
Kommunikation Wahrnehmung in Anspruch nehmen, sei es die Androhung
von Gewalt, die Befriedigung von Bedürfnissen, die Überprüfung durch ein
Experiment, den Trost der Seele oder die Überbietung und Problematisierung aller Wahrnehmung im Schönen und Erhabenen.3
2
3
So Mead (1962).
Luhmann (1997), 378ff., spricht von «symbiotischen Mechanismen», die den Rückbezug
der Kommunikation auf den Körper nicht nur in der Interaktion, für deren Zwecke die
wechselseitige Wahrnehmung anspruchsvoll genug ist, sondern auch in der Kommunikation der Funktionssysteme sicherstellt.
63
Jede Kommunikation von der intimen und familiären bis zur alltäglichen, institutionellen und öffentlichen, so kann man im Anschluss an die
antike Rhetorik sagen, ist auf ein decorum angewiesen, das selber Kommunikation ist, jedoch zugleich Zeichen bereitstellt, die wahrnehmbar definieren,
welches Verhalten in welchen Situationen erwartet wird und als angemessen gilt. Dieses decorum definiert zugleich eine Kultur, wenn seine Zeichen
untereinander in Verbindung stehen und die verschiedenen Verhaltenserwartungen zueinander in ein auf Stichwort abrufbares Verhältnis setzen, das seinerseits durch Krisenerfahrungen geprägt sein kann.4
So undurchschaut jedoch das Verhältnis von Kommunikation und Wahrnehmung ist, so entscheidend sind die Freiheitsgrade in diesem Verhältnis.
Erst dank dieser Freiheitsgrade kann das Verhältnis konditioniert und unterschiedlich konditioniert werden. Das Ohr kann sich nicht verschließen, so
Georg Simmel in seiner Soziologie der Sinne, doch das Auge kann sich öffnen
und schließen, hinschauen und wegschauen, verweilen und weiterwandern
und damit je unterschiedlich indizieren und punktuieren, welche willkür­
lichen und unwillkürlichen Bereitschaften vorliegen, sich an welcher Kommunikation wie zu beteiligen.5
All dies, wie gesagt, setzen Bilder voraus und von all dem profitieren
Bilder. Bilder wenden sich an eine Wahrnehmung, an die sich jede andere Kommunikation ebenfalls richtet. In Frage steht daher, wie sie sich, da
sie ihrerseits kommuniziert werden müssen, um wahrgenommen werden zu
können, von jeder anderen Kommunikation unterscheiden.
III.
Bevor wir auf die Frage, wie Bilder ihren Unterschied markieren, antworten
können, müssen wir jedoch das Verhältnis von Kommunikation und Wahr4
5
64
Siehe in diesem Sinne zum alteuropäischen decorum Mühlmann (1996) und zum damals
so noch nicht genannten decorum von Eskimogesellschaften im Wechsel zwischen Winter
und Sommer Mauss (1978).
Siehe Simmel (1992), 722ff. Siehe speziell zur Bedeutung von Mimik auch Ekman
(1985).
nehmung explizieren, das für unsere Überlegungen eine offenbar entscheidende Rolle spielt. Hier einen präzisen Unterschied zu setzen, versteht sich
alles andere als von selbst, da dies nur innerhalb einer Denkfigur möglich
ist, die Kommunikation und Wahrnehmung nicht nur auf unterschiedliche
Systemreferenzen bezieht, sondern vorab Systemreferenzen überhaupt ins
Spiel bringt. Dies zu tun, ist jedoch der Ausgangspunkt, der uns ermöglichen
soll, von «komplexen» Bildern zu reden.6
Die Hypothese einer Systemreferenz ist eine Hypothese darüber, unter
welchen Bedingungen sich bestimmte Sachverhalte auszudifferenzieren und
im Zeitablauf zu erhalten vermögen. In der Biologie und in den Ingenieurwissenschaften wird auf die Explikation von Systemreferenzen oft verzichtet,
da sich Referenzen auf Organismen und Maschinen von selber zu verstehen
scheinen, doch in der Soziologie hat man es mit dem Versuch zu tun, die
Eigendynamik von Handlung und Kommunikation zu beobachten, so dass
spätestens hier die Angabe und damit auch die Unterscheidung von Systemreferenzen unabdingbar wird.7 Je tiefenschärfer jedoch die jüngere Systemtheorie auf Fragen der Grenzziehung, der Selbstreferenz, der Temporalisierung
und der Selbstorganisation zu achten versteht, desto mehr wird es interessant,
auch die Begriffe des Organismus und der Maschine, vom Bewusstsein, dem
psychischen System zu schweigen, auf die in ihnen unterstellten Modalitäten
der Ausdifferenzierung und Reproduktion hin zu untersuchen. Immerhin
stehen mit den Begriffen des Organismus und der Maschine, sobald sie als
Systeme verstanden werden, auch die Begriffe des Lebens und der Künstlichen Intelligenz zur Diskussion.
Eine Systemtheorie erkennt man daran, dass sie sich der Direktive unterwirft, für die von ihr untersuchten Phänomene eine oder mehrere Systemreferenzen anzugeben. Dabei gilt die Regel, dass ein Phänomen entweder
als Struktur der Ausdifferenzierung und Reproduktion eines Systems oder
als Objekt in der Umwelt eines bestimmten Systems untersucht werden
kann. Als Voraussetzung und weitere Komplikation dieses Vorgehens kommt
jeweils zusätzlich ins Spiel, dass auch die Beobachtung der Struktur eines
6
7
Siehe auch die Betonung eines dynamischen Zusammenhangs von «sozialer» und «symbolischer» Ordnung bei Seifert (2008), im Anschluss an Scheibler (1987).
So Parsons (1951); und Luhmann (1980).
65
Systems oder eines Objekts in der Umwelt eines Systems nur unter der
Bedingung einer weiteren Systemreferenz vorgenommen werden können,
nämlich unter der Bedingung der Inanspruchnahme der Systemreferenz der
Wissenschaft. Wir arbeiten hier im Rahmen einer bestimmten Theorie und
wenden eine bestimmte Methode an, nämlich das Ordnen von Daten mithilfe von Metadaten, die die Systemtheorie zur Verfügung stellt.8 Und wir
können nur beobachten, was wir mithilfe dieser Theorie und dieser Methode
beobachten können.
Die Theorie sozialer Systeme in den Fassungen von Talcott Parsons und
Niklas Luhmann hat nicht zuletzt deshalb Widerstand auf sich gezogen,
weil sie sich mit ihrer Unterscheidung zwischen sozialen und psychischen
Sys­temen oder zwischen Gesellschaft und Bewusstsein von der humanis­ti­
schen Prämisse verabschiedet, dass im Menschen und vielleicht sogar nur im
Menschen beides irgendwie eins sei oder zumindest eins sein können müsse.9
Die Theorie sozialer Systeme konzediert, dass Gesellschaft und Bewusstsein
beide gleichermaßen im Medium des Sinns operieren, optiert dann jedoch
mit aller Schärfe für den Versuch, die Sozialdimension des Sinns gegenüber
der sachlichen Konfusion des Sinns im Menschen und der zeitlichen Synchronizität von Gesellschaft und Bewusstsein zu isolieren und als unabhängig intervenierende Variable zu präparieren.10 Gesellschaft unterscheidet sich
darin von Bewusstsein, dass sie zu regeln versucht, welche Abhängigkeitsverhältnisse unabhängige Organismen untereinander eingehen können, ohne
den Anspruch auf Unabhängigkeit aufzugeben. Gesellschaft kann dann sogar
heißen, sich auf Abhängigkeiten einzulassen, etwa jene der Familie, der Organisation, der Politik, der Religion und der Wirtschaft, um Unabhängigkeiten
steigern zu können.
Deshalb unterscheiden wir für unseren Versuch, die Komplexität der Bilder zu bestimmen, die beiden Systemreferenzen der Kommunikation und
der Wahrnehmung, wohl wissend, dass dies ein wissenschaftliches Unterfangen ist, das außerhalb der Wissenschaft auf Unverständnis stößt und auch
8
9
Siehe dazu auch Baecker (im Erscheinen).
Siehe Luhmann (1984), 286ff.; und vgl. Koschorke / Vismann (1999); sowie Fuchs /
Göbel (1994).
10 Siehe vor allem Luhmann (1984), 92ff.
66
innerhalb der Wissenschaft umstritten ist, solange nicht deutlich ist, welche
empirischen Phänomene man im Rahmen der Annahme der Differenz von
Systemreferenzen sichtbar machen kann. Das Unverständnis außerhalb der
Wissenschaft müssen wir hinnehmen. Wir riskieren sogar, es zu steigern, da
wir im Folgenden höchst unanschaulich ausgerechnet von «Bildern», dem
Anschaulichen schlechthin, zu reden gezwungen sind. Am Streit innerhalb
der Wissenschaft können wir uns nur beteiligen. Wir beteiligen uns an ihm,
indem wir mit unserem unanschaulichen Begriff komplexer Bilder Phänomene nachzuzeichnen versuchen, die auch in den Bildwissenschaften unter den
Titeln der Technisierung und Medialisierung auffällig geworden sind.11 Beides wird zuweilen als eine Art Entfremdung des Bildes vom künstle­r­ischen
Sinn des Bildes gesehen und beklagt. Doch damit greift man zu kurz. Interessanter ist, dass die Technisierung nicht ohne eine Gestaltung und die Medialisierung nicht ohne eine Reflexion auf die unverfügbaren Voraussetzungen
jeder Formbildung zu haben sind,12 so dass Bilder im wahrsten Sinne des
Wortes zu epistemologischen Objekten werden. Im Folgenden wird es auch
darum gehen herauszufinden, welche Kognitionen, nämlich die der Gesellschaft und die des Organismus in weitgehend unklarer Interdependenz, diesen epistemologischen Objekten zugrunde liegen.
Die Systemreferenz der Kommunikation ist die Gesellschaft. Nur die
Gesellschaft kommuniziert und jede Kommunikation findet in der Gesellschaft statt. Zugleich wird damit ein nicht mehr substantieller, sondern nur
noch operationaler Begriff der Gesellschaft formuliert, der für die Existenz
einer Gesellschaft nur annimmt, dass eine Kommunikation unter jeweils
spezifizierbaren Bedingungen fortgesetzt werden kann, alle weiteren Fragen
der Verfassung, Institutionen, Strukturen und Differenzierungsmuster der
Gesellschaft jedoch offen lässt.13
11 Siehe nur Belting (2007).
12 Siehe die entsprechenden Technik- und Medienbegriffe bei Heidegger (1954); und Heider (2005). Beide Autoren verstehen Technik und Medium im besten Sinne des Wortes
medientheoretisch, das heißt nicht nur als Gegenstände, sondern auch als immer nur
partiell einholbare Voraussetzungen ihrer Überlegungen.
13 Siehe dazu Luhmann (1997); und vgl. Baecker (2007b); und zu einem gleichfalls in diesem Sinne operationalen Begriff der Gesellschaft auch Tarde (1999).
67
Und die Systemreferenz der Wahrnehmung ist der Organismus. In der
Regel gehen wir vom Organismus des Menschen aus, obwohl wir damit
nicht ausschließen wollen, dass auch Tiere in der Lage sind, Kommunikation zumindest in der Form der wechselseitigen Wahrnehmung wahrzunehmen. Mit der Systemreferenz Organismus vermeiden wir eine Festlegung auf
entweder Körper oder Bewusstsein, obwohl und weil wir nicht ausschließen
können, dass das Bewusstsein in der Wahrnehmung einen sowohl gegenüber
der Kommunikation als auch gegenüber den Empfindungen des Körpers
selektive Rolle spielt. Noch können wir ausschließen, dass das Bewusstsein
eine Erfindung der Kommunikation ist, um den Körper sowohl positionieren
als auch auf Distanz halten zu können.14 So oder so jedoch ist das Bewusstsein auf Leistungen des Gehirns angewiesen, das im Organismus angesiedelt
ist und dort in seinen prozessualen Leistungen sowohl für die Kommunikation als auch für das Bewusstsein nicht zugänglich ist.
Der Begriff der Wahrnehmung steht hier für die Eigenleistung eines
Organismus, die von der Kommunikation, wenn sie Gesten, Sätze, Schrift,
Töne und Bilder in Anspruch nimmt, vorausgesetzt werden muss und auch
angeregt, ja sogar fasziniert werden kann, in jedem Fall jedoch nicht determiniert werden kann. Der Begriff der Wahrnehmung ist seinerseits ein Begriff,
das heißt ein Produkt und Artefakt der Kommunikation, mit dessen Hilfe
wir bezeichnen zu können versuchen, was wir meinen, wenn wir von Eigenleistungen eines Organismus sprechen, ohne allerdings den Begriff mit der
Sache verwechseln zu dürfen. Wir haben zur Wahrnehmung eines Organismus nur in einem einzigen Fall, dem je individuellen, einen Zugang und
wissen auch und gerade bezogen auf diesen einen Fall spätestens seit den dankenswerterweise mitgeteilten Selbstbeobachtungen Montaignes und Meditationen Descartes’, wie zweifelhaft die Leistungen sind, die hier erbracht
werden.15 Wenn wir von uns auf andere schließen, bewegen wir uns bereits
im Rahmen einer theory of the mind,16 die als Unterstellung, dass auch das
soziale Gegenüber der Selbst- und Fremdbeobachtung fähig ist, mindestens
ebenso sehr kommunikativen wie perzeptiven Ursprungs ist.
14 Siehe etwa James (1922).
15 Siehe de Montaigne (1962); und Descartes (1986).
16 Im Sinne von Whiten (1991).
68
IV.
Der Begriff der Kommunikation ist deshalb so anspruchsvoll, weil er zwei
Systemreferenzen miteinander kombiniert. Er bezeichnet zum einen die
Operation sozialer Systeme, die kommunizieren, um sich auszudifferenzieren
und zu reproduzieren, und sich in diesem Rahmen Strukturen, Codes, Institutionen und Programme geben. Und er bezeichnet zum anderen die Notwendigkeit der Adressierung eines weiteren Systems in der Umwelt sozialer
Systeme, nämlich organische Systeme, und damit zugleich ein Objekt in der
Umwelt dieser organischen Systeme. Kommunikation gelingt nur, wenn es
ihr gelingt, Organismen zu rekrutieren, die bereit sind, sich an ihr zu beteiligen und ihr als Mindestbedingung ihrer Reproduktion so etwas wie ein
aufmerksames Bewusstsein zur Verfügung zu stellen.17 Der Begriff der Kommunikation ist eine Erfindung der Kommunikation, eine Form der Selbststrukturierung, innerhalb derer sich die Kommunikation auf diese Notwendigkeit der Adressierung hinweist und als Bedingung dieser Adressierbarkeit
die Vermutung formuliert, dass sie in der Tat Organismen auffällt, deren
unabhängige Lebensform sie jederzeit dazu befähigt, sich von Kommunikationsangeboten ab- und anderem zuzuwenden.18
Als mise en abîme ihrer selbst, als unendliche Wiederholung ihres Bezugs
auf eine Wahrnehmung, die ihrerseits auf Kommunikation Bezug nehmen
kann, aber nicht muss, ist die Kommunikation notwendigerweise ihrerseits
komplex. Sie ist Einheit einer Vielfalt,19 Zusammenführung zweier Zeitrei17 Siehe auch Luhmann (1988).
18 Heute muss man die Frage aufwerfen, ob sich neben Organismen mit ihrem Bewusstsein
möglicherweise auch andere hinreichend komplexe, gedächtnisfähige und intransparente
Systeme an der Kommunikation beteiligen können, etwa Computer. Noch ist es wohl
nicht so weit, aber eine «Unbestimmtheitsstelle» empfiehlt Luhmann schon einmal für sie
bereitzuhalten. Siehe dazu Luhmann (1997), 118.
19 So der Komplexitätsbegriff von Luhmann (1990), 59–76; vgl. ders. (1984), 45ff.; Weaver
(1948); und Morin (1974). Der Begriff der Komplexität ist der Begriff eines Beobachters, der einem Phänomen, das er weder kausal noch statistisch erklären kann, stattdessen
Selbstorganisation unterstellt. Selbstorganisation ist ihrerseits Reproduktion einer Differenz, die Selektivität zwischen den Elementen und in den Relationen des Phänomens
auf beiden Seiten der Differenz voraussetzt. Die Kombination zweier oder mehrerer Sys-
69
hen, die nicht aufeinander reduziert werden können,20 Kultivierung einer
Trope, in der das Unvereinbare miteinander kombiniert wird.21 Und vermutlich ist auch die Wahrnehmung komplex, da es ihr immer und mindestens
gelingen muss, die Eigenleistung der Wahrnehmung und das wahrgenommene Objekt voneinander zu unterscheiden, um sich so auf Halluzination
und Illusion, auf Irrtum und Korrekturmöglichkeit zumindest im jeweiligen
Nachhinein aufmerksam zu machen und je nach Bedarf auf neuronale Prozesse, phänomenologische Befunde und objektive Gegebenheiten zurechnen
zu können.22
Komplexe Bilder befinden sich daher in einer guten Gesellschaft. Als
kommunizierte Wahrnehmung und, das darf man jetzt wohl hinzufügen,
wahrgenommene Kommunikation, haben sie ihren «Grund» in komplexer
Kommunikation und komplexer Wahrnehmung. Das ist jedoch kein Grund,
jede Hoffnung auf ihre Bestimmung fahren zu lassen, sondern ganz im
Gegenteil erst die Voraussetzung für ihre Bestimmung. Denn jetzt kann die
temreferenzen, wie oben im Text, ist die Wahl und Entscheidung eines Beobachters, der
sich seinerseits als komplexes, in einer Umwelt ausdifferenziertes System reproduziert, in
unserem Fall: als Wissenschaft beziehungsweise als «Theorie» innerhalb der Wissenschaft.
Dieser Wahl und Entscheidung liegt daher der Versuch des Beobachters zugrunde, auf
Probleme zu reagieren, die er in seinem Ereignisraum registriert. Die Kybernetik und Systemtheorie unterstellt, dass dies für jeden Beobachter gilt, und geht zugleich davon aus,
dass jeder Beobachter auf andere Probleme reagiert. Wenn wir im Text an einer soziologischen Theorie arbeiten, kann das, muss jedoch nicht für Kunsthistoriker und andere Bildwissenschaftler, ganz zu schweigen von Zeichnern, Malern, Fotografen, Filmemachern
und Bildprogrammierern, interessant sein.
20 Siehe Wiener (1964), der deswegen Kommunikationsingenieuren und Statistikern den
Rückgriff auf Fouriers Transformationen empfiehlt, die mit Berechnungen komplexer
Ebenen arbeiten. Siehe zu einem dazu passenden mathematischen Begriff der Komplexität Stillwell (2002), 383f.
21 So im Sinne von Lotman (2010), 9f. und 53ff.
22 Phänomenologische Befunde sind Befunde des Bewusstsein, nicht des Sachverhalts, wenn
man der Übung Husserls folgt, am Phänomen, das sich dem Bewusstsein einprägt, das
Bewusstsein beobachtbar zu machen. Siehe Husserl (1950). Siehe zur Unmöglichkeit,
zwischen Wahrnehmung und Täuschung im Moment der Wahrnehmung selber zu unterscheiden (wohl aber: im Zuge einer Beobachtung der Beobachtung im Moment danach,
für den jedoch wiederum dasselbe gilt), Maturana (1994).
70
Komplexität eines Bildes auf eine ihrerseits irreduzible Differenz reduziert
werden, die als diese Differenz das Bild organisiert. Komplexe Bilder, kann
man dann sagen, bewegen eine einfache Differenz, die als diese Differenz auf
zwei ihrerseits komplexe Sachverhalte verweist. Man hat es mit einer fraktalen, sich selbst wiederholenden Komplexität zu tun, die jedoch, um sich
wiederholen zu können, auf Operationen der Anschlussfindung angewiesen
ist, das heißt auf Zwischenergebnisse, die als Resultate eines unabschließbaren Prozesses gerade dann definiert sein müssen, wenn diese Unabschließbarkeit gewahrt und reproduziert werden soll.
Ein komplexes Bild ist ein solches Zwischenergebnis. Was immer es zeigt,
wer auch immer es sich anschaut und wozu auch immer es Verwendung findet, es kombiniert zwei Operationen zweier Systeme in ein Ereignis, das in
beiden Systemen zu unterschiedlichen Anschlussereignissen führen kann. Es
übersetzt somit die unbestimmte Komplexität der beiden Systeme, an denen
es beteiligt ist, Gesellschaft und Organismus, in die bestimmte Komplexität
einer Differenz, die gleich anschließend wieder auseinanderfallen kann.
Unter der Hand haben wir mit dieser Formulierung jedoch bereits einen
ersten Hinweis darauf gegeben, worin die Komplexität eines Bildes besteht.
Sie besteht nicht nur in der Koinzidenz von Kommunikation und Wahrnehmung, Gesellschaft und Organismus, sondern sie besteht darin, dass diese Koinzidenz, verstanden als Differenz, auf beiden Seiten der Unterscheidung, während die jeweils eigene Seite der Unterscheidung bezeichnet wird,
zugleich auf die jeweils andere Seite der Unterscheidung verweist. Mithilfe der Notation von George Spencer-Brown für Bezeichnungen,23 die auf
Unterscheidungen zurückgeführt, und für Unterscheidungen, die in den
Raum der Unterscheidung wieder eingeführt werden können, geben wir die
mathematische Formel für ein komplexes Bild an:
Gl. 1:
Bild = Wahrnehmung Kommunikation
23 In: Spencer-Brown (2008).
71
Man beachte, dass die Gleichung die Form eines Diagramms hat, das
heißt einer über die Linearität der Schrift hinausgehenden mindestens
zweidimensionalen Darstellung, die wie jede mathematische Formel einen
simultan wahrnehmbaren Sachverhalt präsentiert, der nicht in einen sequentiell lesbaren Text zurückübersetzt werden kann.24 Handelt es sich deswegen
bereits um ein Bild?
Entscheidend ist zunächst, dass die Gleichung einen Sachverhalt,
das «Bild», identisch setzt mit zwei operativ vollzogenen und ineinander
geschachtelten Bezeichnungen, der Bezeichnung von Wahrnehmung und
der Bezeichnung von Kommunikation. Entsprechend unseres hier gewählten Ansatzes gehen wir davon aus, dass die beiden Bezeichnungen auf Unterscheidungen zurückgeführt werden können, die ihrerseits als Wahrnehmung
und als Kommunikation bezeichnet werden können. Das heißt, im Bild
bezeichnen die Wahrnehmung und die Kommunikation zunächst sich selbst
und unterscheiden sich dann voneinander. Wahrnehmung nimmt wahr,
dass sie Wahrnehmung ist und keine Kommunikation. Und Kommunikation stellt fest, dass sie Kommunikation ist und keine Wahrnehmung. Mit
diesen beiden Bezeichnungen im Rahmen sich selbst bezeichnender Unterscheidungen ist jedoch noch kein Bild konstituiert. Darüber hinaus ist es
erforderlich, dass die Unterscheidung in den Raum der getroffenen Unterscheidung wiedereingeführt, das heißt auf ihre «Form» hin beobachtet wird:
Die Kommunikation stellt fest, dass sie der Wahrnehmung bedarf; und die
Wahrnehmung stellt fest, dass sie der Kommunikation bedarf, damit beide
zusammen «Bild» werden können. Im Rahmen der Unterscheidung unserer
beiden Systemreferenzen bedeutet dies, dass im Bild die Unverfügbarkeit
der beiden Systemreferenzen füreinander Ereignis wird, das heißt, sich als
Bild manifestiert.
24 Wie es sich trifft, erfahren Diagramme jüngst wieder eine verstärkte Aufmerksamkeit, weil
sie Rechnungen veranschaulichen und damit in einem pragmatischen Zusammenhang
stehen, zugleich jedoch ein kulturelles Vorwissen voraussetzen, um gelesen werden zu
können. In ihnen wird Mathematik kulturell, ohne aufzuhören, technisch zu sein. Siehe
in diesem Sinne Bogen / Thürlemann (2003); Krämer (2009); Bauer / Ernst (2010).
72
V.
Die Überlegung von Ernst H. Gombrich, welche Rolle das Bild in der
Kommunikation spielt, muss demnach ergänzt werden. Gombrich wies im
Anschluss an die Sprachtheorie Karl Bühlers und die mathematische Kommunikationstheorie Claude E. Shannons und Warren Weavers darauf hin,
dass das Bild eindeutig Information («Appell») und uneindeutig Mitteilung
(«Ausdruck») sei, da man zwar sähe, was es abbildet, aber nicht wissen könne, wer sein Absender und wer sein Adressat ist.25 Das ist richtig. Richtig ist
jedoch auch, dass das Bild eindeutig Mitteilung und uneindeutig Information ist, denn sicherlich ist es kommuniziert worden, wenn es gezeigt wird,
aber worüber es informieren will, kann durchaus unklar sein. In beiden Fällen ist zur Klärung der Uneindeutigkeiten ein Rückgriff auf jene Redundanz
erforderlich, die in den jeweiligen Eindeutigkeiten zwar Anhaltspunkte, aber
keine restlose Aufklärung findet. Weder erlaubt der Gegenstand einer Abbildung einen eindeutigen Rückschluss auf Absender und Adressat, noch erlauben Absender und Adressat einen eindeutigen Rückschluss auf den Gegenstand der Abbildung.
Auch dies ist ein Indikator der Komplexität der Bilder, wenn nicht sogar
einer unhintergehbaren Unschärferelation im Bild, die sich noch vor jeder
Betrachtung des im Bild Dargestellten aus den wechselseitigen Freiheitsgraden von Information und Mitteilung ergibt. Diese Unschärferelation ist die
Voraussetzung dafür, dass die Kommunikation des Bildes weder im Informationsgehalt noch in der Mitteilung des Bildes zum Abschluss kommt, sondern erst in jenem Akt des Verstehens, der durch die Information und die
Mitteilung nicht vorweggenommen werden kann, sondern umgekehrt erst
die Information auf die Mitteilung und die Mitteilung auf die Information
bezieht.26 Die Unschärferelation wird in diesem Akt des Verstehens, der die
Kommunikation abschließt und Anlass für die darauf folgende Kommuni25 Siehe Gombrich (1984). Und vgl. Bühler (1974); Shannon / Weaver (1963). Siehe mit
einer Forderung nach einer Wissenschaft der Bilder, genannt eiconics, im Anschluss an
Theorien der Information, der Kommunikation und der Organisation auch bereits Boulding (1957), insbesondere 148ff.
26 So der Kommunikationsbegriff von Luhmann (1984), 193ff.
73
kation ist, sowohl zugunsten einer bestimmten Eindeutigkeit aufgelöst als
auch in eine neue Uneindeutigkeit übersetzt. Denn die Rückfrage danach,
ob der abschließende Akt des Verstehens die Information und die Mitteilung
treffend identifiziert und aufeinander bezogen hat, ist nur dadurch zu klären,
dass das vorliegende Verstehen neuerlich nach Information und Mitteilung
differenziert und in einem weiteren und wiederum riskanten Akt des Verstehens im Hinblick auf Information und Mitteilung spezifiziert wird. Content
ambiguity und target ambiguity sind keine unangenehmen Begleitumstände
einer noch nicht hinreichend geklärten Kommunikation, sondern die Bedingung dafür, dass Kommunikation erforderlich ist und von Kommunikation
die Rede sein kann.27
Jede «Evidenz» des Zeigens ist gerahmt durch eine «Politik» des Zeigens,28
deren Referenz keine andere «Tatsache» als die des Bildes selber sein kann,29
das heißt der in Anspruch genommenen Differenz von Gegenstand und
Abbildung in einem bestimmten Moment der Vorführung dieser Differenz.
Die Pointe dieses Hinweises auf die Komplexität der Bilder besteht nicht
darin, für eine Reduktion der Komplexität auf den pragmatischen Zusammenhang des Herstellens, Sammelns, Archivierens, Zeigens und Versteckens
von Bildern zu plädieren oder gar für diese Pragmatik ausschließlich soziale
Determinanten für erklärungstauglich zu halten. Bilder gehen in ihrer sozialen Codierung oder im Status und Habitus derer, die sie herstellen, zeigen
oder betrachten, nicht auf. Sie legen immer auch Spuren, die auf eine phy­
sische Wirklichkeit der Farbe, Form und Figur und auf eine technische Apparatur des Präparierens, Sicherns und Verwischens dieser Spuren verweisen,30
so sehr dann sowohl die physische Wirklichkeit als auch die technische Apparatur wiederum in einem variablen Zusammenhang stehen mit deren Setzung, Rahmung und Erkundung innerhalb umstrittener und laufend variierter sozialer Konventionen.31
27 Siehe zu den Begriffen der content und target ambiguity Leifer (2002).
28 Siehe Boehm (2010); sowie Berg / Gumbrecht (2010), und hier insbesondere den Beitrag
von Schmidt-Wulffen (2010).
29 Im Sinne von Wittgenstein (1963), Punkt 2.141: «Das Bild ist eine Tatsache».
30 Siehe für den Fall der Fotografie Geimer (2010b); Ders. (2010a).
31 Wir haben es, mit anderen Worten, auch im Fall einer Theorie der Bilder mit einem Kon­
74
Die Komplexität des Bildes ist der Fall sowohl für die Kommunikation
als auch für die Wahrnehmung. Beide Operationen müssen deshalb so gefasst
werden, dass rekonstruiert werden kann, dass und wie diese Komplexität der
Fall ist und dass und wie diese Komplexität fallweise in die Eindeutigkeit des
Bildes, einer kommunizierten Wahrnehmung überführt werden kann, ohne
auszuschließen, im bereits nächsten Moment wieder uneindeutig werden zu
können. Der Begriff der Komplexität ist seinerseits komplex, da er sowohl
phänomenologisch als auch operativ verstanden werden muss. Er erfasst die
Welt als unfassbar und beschreibt die Operation der Ausdifferenzierung und
Reproduktion in dieser Welt. Er hat die Form einer «Form» im Sinne von
George Spencer-Brown, indem er auf eine Operation der Unterscheidung,
eine Bezeichnung von Zuständen und einen immer mitlaufenden unmarkierten Raum der Möglichkeiten zugleich verweist. Sein Ausgangspunkt ist
nicht die Bestimmtheit der Dinge im Rahmen eines ontologischen Paradigmas, sondern die Unbestimmtheit und damit je aktuelle und je operative
Bestimmbarkeit der jeweils vorherigen und nachfolgenden Operation im
Rahmen eines konstruktivistischen Paradigmas.
Tatsächlich liegt eine relativ einfache (!) Bedingung für die Möglichkeit
des Festhaltens an diesem Begriff der Komplexität im Allgemeinen und der
komplexen Bilder im Besonderen darin, sowohl für die Operation der Kommunikation in der Gesellschaft als auch für die Operation der Wahrnehmung
durch einen Organismus eine jeweils konstitutive Nachträglichkeit anzunehmen. Für den Fall der Wahrnehmung bedeutet dies, dass die Wahrnehmung
sich in einer aktuellen Gegenwart auf jeweils wie immer minimal vergangene
Ereignisse bezieht und damit unaufhebbar mit dem Problem konfrontiert
ist, sich ein «Bild» von einer Sache zu machen, die möglicherweise so schon
nicht mehr der Fall ist. Wir kompensieren und entfalten diese prinzipielle,
wenn auch minimale Ungewissheit dadurch, dass wir für jede Wahrnehmung
eine Evidenz in Anspruch nehmen, die dennoch damit rechnet, im nächsten
struktivismus zu tun, der nicht «radikal» die Bilder als «Erfindungen» von Kommunikation und Wahrnehmung beschreibt, sondern «operational» am Bild sowohl die Kommunikation als auch die Wahrnehmung als Formen der Erkundung von Welt begreift. Siehe
etwa Luhmann (1990); Latour (2003).
75
Moment als Illusion entlarvt werden zu können.32 Obwohl und indem das
eine dem anderen widerspricht, rechnen wir mit beidem.
Auch der Begriff der Kommunikation stellt auf diese konstitutive Nachträglichkeit ab. Kommunikation, so formuliert Niklas Luhmann, ermöglicht sich «von hinten her (…), gegenläufig zum Zeitablauf des Prozesses».33
Die beiden Selektionen einer Information und einer Mitteilung müssen
bereits vorliegen beziehungsweise werden als bereits vorliegend gesetzt, wenn
anschließend eine Selektion des Verstehens die beiden vorherigen Selekti­onen
unterscheidet und in diesem Unterschied aufeinander bezieht. Das Verstehen
als hinzutretende Selektion synthetisiert, so Luhmann, alle drei Selektionen
zur einheitlichen und in dieser Einheit emergenten Operation der Kommunikation. Wegen dieser Nachträglichkeit ist der jüngere Kommunikationsbegriff bei Claude E. Shannon wie bei Norbert Wiener in unmittelbarer
Nachbarschaft zum Kontrollbegriff formuliert worden.34 Es geht zum einen
darum, dass ein Verstehen für sich feststellt, welche Information und welche
Mitteilung bereits vorliegen. Zum anderen jedoch sind alle drei Selektionen
aktiv vorgenommene Selektionen, deren letzte auch nicht nur rezipiert, welche beiden ersten bereits gegeben sind, sondern in ihrer eigenen Selektivität
konstruiert und konstituiert, welche Information und welche Mitteilung sie
voneinander unterscheidet und aufeinander bezieht. Wiener spricht deshalb von einer control by informative feedback,35 die nicht statisch, sondern
oszillierend arbeitet, und an Identitäten nur festhält, wenn diese sich im laufend neu statistisch rekonstruierten Ereignisraum als Identitäten behaupten.
«Kontrolle» heißt hier demnach nicht Beherrschung des Anderen, sondern
Selbst-Regulation, und diese Selbst-Regulation besteht in der Erprobung von
Unterschieden im Raum der Unbestimmtheit beziehungsweise des Zufalls.36
Die doppelte Nachträglichkeit ist der «Raum», in dem sich das Bild sachlich, zeitlich und sozial einrichtet, um seine Bestimmtheit zu gewinnen. Die32 Siehe dazu Bateson / Bateson (1988), 95ff.; und vgl. mit Bezug auf neurophysiologische
Forschung Frith (2007).
33 So Luhmann (1984), 198. Und vgl. Stäheli (2000), 184ff.
34 Siehe insbes. Wiener (1961).
35 Ebd., 113.
36 So Molnar / Molnar (1989).
76
ser Raum kann in Hundertstelsekunden durchschritten sein, er kann aber
auch Minuten, Tage und Jahre der Rekonstruktion benötigen. Jedes studium dieses Raumes, mit dem Begriff von Roland Barthes,37 wird immer auf
ein punctum warten oder auch von einem punctum ausgehen, in dem die
Kontingenz der Möglichkeiten in die Notwendigkeiten des «So war es» und
«Ich sehe es» kippt und dort so lange verweilt, bis wir das Bild und das Bild
uns zu «bewohnen» beginnen. Auch wegen der Arbeit, die das Ausmessen
des Raums der Nachträglichkeit kostet, ist dieses Bewohnen der Bilder und
Wohnen der Bilder in uns ein alles andere als unschuldiger, sondern für die
weitere Wahrnehmung und weitere Kommunikation weiterer Bilder prägender, Pfadabhängigkeiten legender Vorgang.38
Für unser Verständnis komplexer Bilder ist es entscheidend, dass wir
deren Begriff so formulieren, dass die Komplexität und deren Reduktion
gleichermaßen rekonstruiert werden können. Der Begriff muss abbilden (!)
können, dass es im Raum der Nachträglichkeit der kommunizierten Wahrnehmung sowohl gelingt, Bilder zu zeigen und zu sehen und so zumindest als
«Bilder» eindeutig werden zu lassen, wie auch gelingt, in diese Eindeutigkeit
Verweise auf eine unreduzierbare Uneindeutigkeit einzubauen, die konstitutiv unklar bleiben lässt, ob der andere gesehen hat, was man selber gesehen
hat. Ohne diese Uneindeutigkeit hätte man es nicht mit Kommunikation
und Wahrnehmung, sondern mit Technik zu tun und dies auch nur auf eine
Art und Weise, wie eine Maschine es mit Technik zu tun hat, nämlich ohne
eine Wahl zu haben.
VI.
Komplexe Bilder gewinnen ihre Eindeutigkeit aus ihrer Uneindeutigkeit,
nämlich aus Konstruktionsleistungen von Kommunikation und Wahrnehmung angesichts von Farbe, Form und Figur, die kein Zufall zu sein
scheinen; und sie gewinnen ihre Uneindeutigkeit aus ihrer Eindeutigkeit,
37 In: Barthes (1980).
38 So Tisseron (2007).
77
nämlich aus der Unmöglichkeit, diese in der Kommunikation und in der
Wahrnehmung länger als für den Moment festzuhalten. Wir schlagen vor,
die aus deren Reduktion generierte Komplexität der Bilder auf den Begriff
der symbolischen Differenz der Bilder zu bringen. Wir orientieren uns damit
an Gottfried Boehms Begriff der «ikonischen Differenz»,39 korrigieren diesen
Begriff jedoch mithilfe der Semiotik von Charles Sanders Peirce (auf den sich
auch Boehm bezieht, jedoch nur um zu begründen, dass er sich nicht auf
ihn bezieht) zum Begriff der symbolischen Differenz. Die ikonische Differenz, so Boehm, organisiert die Einzelereignisse eines Bildes (Farbe, Form,
Figur) im Hinblick auf deren Differenz untereinander und im Hinblick auf
das «anschauliche Ganze» des Bildes, das meist im Kontrast steht oder diesen
herstellt, zum unanschaulichen Rest der Welt außerhalb des Bildes.
Dieser Begriff der ikonischen Differenz scheint primär kunsthistorisch
motiviert zu sein. Er setzt das Bild ikonisch, mit Peirce,40 das heißt als «Erstheit», der alle hinzutretenden Indizes, also Verweise («Zweitheit»), und Symbolik, also Interpretation («Drittheit»), erst einmal nichts anhaben können,
beziehungsweise die vor diesen in Schutz genommen werden muss, um sich
dem Kennerblick des Kunsthistorikers jungfräulich unberührt, wenn nicht
sogar göttlich unberührbar immer wieder neu zeigen zu können. Dieser
Begriff ist in der Kunstgeschichte produktiv, liefert er doch eine fast schon
mimetische Grundlage für die Notwendigkeit, sich der langen Nachwirkungen von theologischem Bilderverbot, philosophischem Bilderverdacht
und intellektueller Bildverachtung immer wieder neu kritisch zu vergewissern, zumal diese Traditionen der Neigung, Bild und Dargestelltes naiv miteinander zu verwechseln, eher zu- als ihr entgegenzuarbeiten.
Dennoch kann die Soziologie diesem kunsthistorischen Begriff der ikonischen Differenz nicht folgen. Die Soziologie hat es nie nur mit Erstheiten
zu tun, sondern immer mit Erstheiten im Kontext von Zweit- und Drittheiten. Wir schlagen daher vor, im Anschluss an Peirces Unterscheidung von
Ikone, Index und Symbol von einer symbolischen Differenz zu sprechen und
39 Siehe Boehm (2007).
40 Siehe zum Folgenden vor allem Peirce (1983); und vgl. Oehler (1993), insbes. 55ff., zur
Motivation der Semiotik von Peirce aus dessen Auseinandersetzung mit der Kategorienlehre Kants.
78
somit das Zeichen, das ein Bild setzt, von der Interpretation und damit «von
hinten her» zu rekonstruieren. Dies reduziert den Bildbegriff dann nicht auf
einen Begriff der Rezeption des Bildes durch den Betrachter, wenn man, wie
wohl unvermeidbar, davon ausgeht, dass bereits das Herstellen eines Bildes
im Akt des Zeichnens, Malens, Fotografierens oder bloßen Sichvorstellens
ein Vorgang der Interpretation, des Sortierens der Einzelereignisse des Bildes
und der Tatsache des Bildes selber im Hinblick auf die Möglichkeit des nachträglichen Verstehens ist. Wie sonst soll ein Maler, ein Fotograf, ein Redakteur das Bild als Bild identifizieren können?
Der Vorzug des Begriffs der symbolischen Differenz besteht darin, dass
er geeignet ist, zu beschreiben, wie die Ikonizität des Bildes mithilfe welcher
Indizes konstruiert und organisiert ist. Das, was dank der Interpretation,
dank des Verstehens, so ist, wie es ist («Erstheit», icon), kann nur sein, was es
ist, weil es von einem anderen so bezeichnet wird («Zweitheit», index), das
sich von einem Dritten («Drittheit», symbol) als etwas gesetzt sieht, das mit
dem Ersten nicht verwechselt werden darf.41 Zwar denkt die Drittheit die
Erstheit als unabhängig vom Akt ihrer Symbolisierung, weiß jedoch zugleich,
dass ohne ein Zweites, dass auf das Erste mithilfe eines Index verweist, von
diesem Ersten keine Rede sein könnte. Die Unhintergehbarkeit des Verweises, der vom Ersten berichtet, wird im Begriff des «Symbols» festgehalten,
in dem seit jeher Abstand von der Sache, Selbstbezeichnung des Zeichens
und Durchgriff auf die Sache zusammenzudenken versucht wird.42 Das
Symbol ist immer «bloßes Symbol», «immerhin ein Symbol» und «wirkende
Kraft» zugleich. Indem es seine Zeichenhaftigkeit, die Wirklichkeit, die es
bezeichnet, und die Wirklichkeit, die es in Differenz zur ersten Wirklichkeit
selber entfaltet, in einen Begriff zu bringen versucht, ist es seinerseits nichts
Geringeres als komplex: Einheit einer Vielfalt.
Das Symbol ist nicht nur komplex, indem es eine Vielfalt zur Einheit
bringt, sondern auch paradox, indem es ist, was es nicht ist, unwirkliche
Wirklichkeit. Genau das lässt es jedoch selber bildhaft werden. Es hat eine
Einheit; es hat eine Wirklichkeit; und es unterscheidet sich von einer Wirk41 Siehe Peirce (1983), 55ff.
42 Siehe zu diesem Symbolbegriff Luhmann (1997), 235, 255f. et passim; und vgl. LéviStrauss (1978); Leach (1976); Swidler (1986); Lotman (2010), 147ff.; Willke (2005).
79
lichkeit, auf die es gleichwohl Bezug nimmt und ohne die es nicht zu denken ist. Das Symbol ist, wie Ernst Cassirer dies formuliert, Darstellung der
notwendigen Verknüpfung von Erscheinungen,43 die die Notwendigkeit der
Verknüpfung ebenso ernst nimmt wie den bloßen Darstellungs- und Erscheinungscharakter. Letztlich erprobt das Symbol in der Sprache, im Mythos und
in der Wissenschaft Verknüpfungen, von denen es nur weiß, weil es sie aus
Phänomenen abliest, über die es sich, wie es ebenfalls weiß, täuschen kann.
Immerhin jedoch sind Symbole darin verlässlich, dass sie den, der an Symbole glaubt, mit dem verknüpfen, woran er glaubt.44
Bestimmt man das Bild über seine symbolische Differenz, wird es möglich, es als einen semiotischen Akt zu beschreiben, der im Bild und aus der
Perspektive einer nachträglichen Wahrnehmung sowie einer nachträglichen
Kommunikation ein Dargestelltes, eine Darstellung und einen Betrachter aufeinander bezieht und als Zusammenhang ihrer Unterscheidung beschreibt.45
Die Pointe daran ist, dass das Bild nicht nur der Zusammenhang seiner bildlichen Ereignisse im Kontext eines anschaulichen Ganzen, so noch einmal
Boehms Begriff der ikonischen Differenz, sondern darüber hinaus Motivation dieses Zusammenhangs im Kontext einer referierten Wirklichkeit (unter
Einschluss der Möglichkeit der Referenz auf eine unreferierbare Wirklichkeit) und eines die Referenz für sich rekonstruierenden (oder verfehlenden)
Betrachters ist. So erst wird das Bild zur kommunizierten Wahrnehmung und
wahrnehmbaren Kommunikation. So allerdings reicht der Bildbegriff über
Zeichnungen, Tafelbilder, Fotografien und die bewegten Bilder des Kinos,
des Fernsehens, des Videos und des Bildschirms auch hinaus und erfasst jede
Art der Symbolisierung, die im Symbol dessen differentiellen Zeichencharakter mitzulesen vermag.
Die symbolische Differenz ist in jedem einzelnen Fall eines Bildes semantisch, syntaktisch und pragmatisch zu bestimmen.46 Es hat eine Bedeutung,
zu bestimmen aus den Sinnbezügen zwischen den Elementen des Bildes und
43 Siehe Cassirer (1994), 17f.
44 So auch der Ausgangspunkt von White (1969).
45 Siehe noch einmal Wittgenstein (1963), Nr. 2.1511: «Das Bild ist so mit der Wirklichkeit
verknüpft; es reicht bis zu ihr».
46 Siehe zu dieser Unterscheidung Morris (1938).
80
den Elementen seines Kontextes. Es hat eine Grammatik, zu bestimmen aus
der funktionalen Ordnung, die diesen Elementen gegeben wird beziehungsweise die zur Ordnung dieser Elemente vorausgesetzt und/oder unterlaufen
wird. Und es hat seinen Handlungsbezug, zu bestimmen aus dem Gebrauch
des Bildes, der, bezogen auf Bilder der Kunst, auch darin bestehen kann,
jeden anderen Gebrauch als den seiner Kontemplation zu unterbinden. Erst
so ist das Bild als Element des decorum einer Gesellschaft zu begreifen, das
die Blicke jener Betrachter auf sich zieht, die sich zu diesem decorum in ein
sei es affirmatives, sei es kritisches Verhältnis zu setzen suchen.47 Der Begriff
des Symbols passt auch hier, da Semantik, Syntax und Pragmatik im Bild
ebenso ernst genommen wie, sobald gezeigt und vorgeführt, als kontingent
und damit variierbar verstanden werden.
VII.
Wie die Sprache und die Musik sind die Bilder Medien der strukturellen
Kopplung von Kommunikation und Wahrnehmung.48 Für den Moment
ihrer Kommunikation von Wahrnehmung koppeln sie Strukturen der Ausdifferenzierung und Reproduktion des Organismus und Strukturen der Ausdifferenzierung und Reproduktion der Gesellschaft. Wie die Sprache und die
Musik sind sie auf ein Bewusstsein dieser Kommunikation von Wahrnehmung angewiesen, das die beiden Systemreferenzen voneinander trennt und
die Wahrnehmung dem Organismus (besser noch: dem «Ich» dieses Organismus, denn der wahrnehmende Organismus wird in der Wahrnehmung
typischerweise nicht mit wahrgenommen) und die Kommunikation der
Gesellschaft zurechnet.
Wichtig ist der Hinweis, dass nicht das einzelne Bild, das einzelne Wort
oder das einzelne Musikstück diese Kopplung von Kommunikation und
Wahrnehmung leisten, sondern die an diesen Bildern, Worten und Musik47 Und auch das kritische Verhältnis ist ein sich selbst affirmierendes, die Distinktion
suchendes Verhältnis, wie vor allem Bourdieu (1979) gezeigt hat.
48 Siehe zum Begriff der strukturellen Kopplung Maturana (1975) und bezogen auf Kunstwerke: Luhmann (1992).
81
stücken ihre Anhaltspunkte findende kommunizierte Wahrnehmung und
wahrgenommene Kommunikation selber. Die Kopplung ist auf beiden
Seiten der Differenz nicht extern, sondern intern vermittelt, nimmt jedoch
zur Organisation dieser Vermittlung auf Fremdreferenzen, das heißt auf die
Zurechnung dieser Vermittlung auf extern vorliegende Anhaltspunkte Bezug.
Das Bewusstsein, so formuliert Luhmann, unterbricht die Selbstreferenz des
Organismus und erzwingt die Externalisierung von Wahrnehmung, obwohl
und weil und während alle Wahrnehmung ausschließlich innerhalb des Organismus auf der Grundlage von Gehirn und Körperlichkeit hergestellt werden
kann.49 Die Bilder, Worte und Musikstücke selber sind boundary objects,50 die
physisch sind, was sie sind, während Kommunikation und Wahrnehmung sie
behandeln, als wären sie für beide Systemreferenzen dasselbe.
Wie die Sprache und die Musik nehmen auch die Bilder das Medium des
Sinns für die Reproduktion von Kommunikation und Wahrnehmung und für
die Vermittlung von Kommunikation und Wahrnehmung in Anspruch. Bilder
müssen auf beiden Seiten der Differenz sinnvoll sein, inklusive der Möglichkeit
des sinnhaften Bezugs auf ihre Sinnlosigkeit, um kommunikativ und perzeptiv
verarbeitet werden zu können. Und «Sinn» heißt, dass jede Zuweisung von
Bedeutung innerhalb eines durch die einzelne Zuweisung auf Abstand gehaltenen und dadurch erschlossenen Raums weiterer möglicher Verweisungen
stattfindet, die potentiell mitlaufen und jederzeit aktualisiert werden können.51
Sinn ist immanent unruhig und schon deswegen darauf angewiesen, in Sprache, Bildern und Musik je anders und für den Moment wie für die Situation
passend eingefangen und mit weiteren Möglichkeiten angereichert zu werden.
Es ist schwer, den Unterschied zwischen Sprache, Musik und Bildern festzuhalten, denn kaum hat man Unterschiede benannt, findet man ihre Struktur
auch in den anderen Medien, die schon wegen der Unruhe des Sinns, ganz
zu schweigen von aisthetischer und ästhetischer Intervention und Subversion,
beieinander Anleihen aufnehmen. Für den ersten Zugang genügt es, darauf
zu verweisen, dass die Musik strukturelle Kopplungen vor allem im Medium
der Zeitlichkeit, die Sprache vor allem im Medium der Sequentialität und die
49 So Luhmann (1995), 14f.
50 Mit dem Begriff von Star (1989).
51 So der Begriff des Sinns bei Luhmann (1971).
82
Bilder vor allem im Medium der Simultaneität vornehmen, doch bereits diese Formulierung taugt nur dann etwas, wenn man Zeitlichkeit, Sequentialität
und Simultaneität als Formen versteht, das heißt Zeitlichkeit mit Tempo, Dauer und Zeitlosigkeit, Sequentialität mit Abbruch, Wechsel und Wiederaufnahme und Simultaneität mit Narration, Entfaltung und Inversion kombiniert.52
Jedes dieser Medien der strukturellen Kopplung von Kommunikation und
Wahrnehmung kann die Komplexität der Systemreferenzen wie ihrer Kopplung nur durch Formen der Rekursivität bedienen, von denen die Mathematik
der Faltungen, Knoten, Fraktale und Netze eine erste Ahnung vermittelt.53
So oder so jedoch ist Rekursivität das Stichwort, das auf die Frage antwortet, wie Sprache, Musik und Bilder die Komplexität ihrer Systemreferenzen
und deren Kopplung sowohl auffangen und auf einzelne Sätze, Musikstücke
und Bilder reduzieren können als auch dank dieser Reduktion steigern und
erweitern können. Das Kalkül, das dieser Leistungsfähigkeit zugrunde liegt,
ist das statistische Kalkül, das Claude E. Shannon, Warren Weaver und Norbert Wiener für die Theorie der Kommunikation beschrieben haben und das
im Wesentlichen darin besteht, in den Ereignisräumen, in denen die Kommunikation sich orientiert, jene Redundanz herzustellen, die es erlaubt, alle
anderen Ereignisse auf Varietät zuzurechnen.54 Kommunikation ist Suche
nach Überraschungen, um an ihnen das Vertraute sowohl zu bewähren als
auch vorsichtig, denn Redundanz ist ein prekäres Gut, zu erweitern. Vermutlich gilt dasselbe für die Wahrnehmung.55
Die Theorie der Bilder, um Sprache und Musik wieder auf sich beruhen
zu lassen, ist nicht zuletzt deshalb so schwer zu formulieren, weil die Rekursivität, die hier die Strukturen der Redundanz wie der Varietät liefert, nicht
etwa im Bild, sondern in der kommunizierten Wahrnehmung des Bildes für
52 Für die bewegten und bewegenden Bilder des Kinos, matière intelligible und automate
spirituel, gilt das Interesse insbesondere der Frage, welche Bilder sich «automatisch» auseinander ergeben und welche nicht. So Deleuze (1983); und Ders. (1985), 342. Und vgl.
Baecker (2002).
53 Siehe immerhin einige Anregungen bei Weber (1972); Pichler / Ubl (2009); Godart /
White (2010).
54 So Shannon / Weaver (1963); und Wiener (1961).
55 Siehe Frith (2007).
83
den Moment zum Ereignis wird und damit auch für den Moment mit sich
identisch ist. Nicht das Bild, sondern die kommunizierte Wahrnehmung liefert die unter Umständen stabilen Eigenwerte jener rekursiven Funktionen,
in denen Kommunikation und Wahrnehmung auf Bilder Bezug nehmen.56
Eine soziologische Bildanalyse wäre daher eine Konversationsanalyse, die mit
Zurechnungen und deren Vermeidung, mit Reden und Schweigen gleichermaßen umgehen kann.57 Stabil, wenn nicht sogar ultrastabil58 ist die kommunizierte Wahrnehmung eines Bildes nicht dank des Bildes, sondern dank
jener hochgradig verlässlichen Irritation beider betroffenen Systeme, die auf
jede auftretende Struktur mit Lust und Frust zugleich reagiert, mit jouissance
im Sinne von Jacques Lacan,59 das heißt mit der Bereitschaft, sich auf eine
Anregung einzulassen, dem unmöglichen Verlangen, sich diese Anregung
als Eigenleistung zuzurechnen, und mit der Flucht vor dieser Anregung, die
auch wieder nur zu determinieren versucht, was nicht zu determinieren ist.
Eine Struktur ist immer nur ein Anlass auszuweichen, ein Hinweis auf ein
Spiel, das sich in keiner Struktur erschöpft.60
Deswegen ist ein Bildbegriff, der mit den beiden Systemreferenzen der
Kommunikation und der Wahrnehmung rechnet, bereits hinreichend komplex. Immerhin sind mit diesen beiden Systemreferenzen von der einfachen
über die antike bis zur modernen und zur nächsten Gesellschaft bereits
beachtlich differenzierte Strukturen der Kommunikation und jeweils eine
Vielzahl von Organismen angesprochen, die je nach Gesellschaft nach Hunderten bis zu Milliarden Exemplaren zählt, die allesamt ihre Wahrnehmung
sowohl zuwenden als auch abwenden, sowohl diesem Zeichen als auch jenem
Zeichen widmen können. Die symbolische Differenz des Bildes muss diesen
Strukturen und dieser Vielzahl Rechnung tragen. Sie kann sich nicht auf eine
ikonische Differenz zurückziehen und das Bild Bild sein lassen, gleichgültig, in welchen Zusammenhängen es steht. Nur unter dieser Voraussetzung
kann man sich anschauen, wie die symbolische Differenz, die ein bestimmtes
56
57
58
59
60
84
Siehe von Foerster (1993a); Ders. (1993b).
Etwa im Sinne von Sacks (1995).
Im Sinne des Einbaus von step-functions. Siehe Ashby (1960), 95ff.
Siehe Lacan (1972).
So im selben Band, Derrida (1972).
Bild setzt, auf eine ganz bestimmte Differenzierung der Gesellschaft und eine
begrenzte Menge von Betrachtern Bezug nimmt und im Bild den Ausschluss
anderer Möglichkeiten mitorganisiert.61
Nur unter dieser Voraussetzung, mit anderen Worten, kann man möglicherweise auch autonome von heteronomen Bildern unterscheiden, Bilder
der Kunst von anderen Bildern, indem man sich anschaut, wie ein Bild es
schafft, alle symbolische Differenz auf sich selbst zurückzubeziehen und so
eine Autonomie zu gewinnen, die mit einem ästhetischen Blick rechnet,
der diese Autonomie zu entziffern und zu würdigen versteht. Das autonome oder künstlerische Bild ist so der Spezialfall des allgemeinen Bildes und
nicht umgekehrt das künstlerische Bild das Vorbild aller anderen Bilder (dem
diese dann nicht genügen, so dass die «Bildwissenschaften» sie vernachlässigen können). Auch das autonome oder künstlerische Bild, so der wichtige
Hinweis von Hans-Georg Gadamer,62 ist zunächst einmal «dekorativ». Und
dekorativ zu sein, heißt, sich im Rahmen von Kommunikation an die Wahrnehmung zu richten. Der entscheidende Unterschied, den die Kunst dem
Bild in dieser Hinsicht hinzufügt, besteht darin, dass diese Adressierung der
Wahrnehmung im künstlerischen Bild reflektiert und mitvorgeführt wird.63
Aber auch das muss dekorativ sein, das heißt sich in einem decorum absichern, während es dieses decorum markiert und reflektiert.
Trotz unserer Reduktion der Komplexität des Bildes auf die beiden
Systemreferenzen der Kommunikation und der Wahrnehmung sowie ihrer
Kopplung kann und darf der Begriff des komplexen Bildes jedoch nicht ausschließen, dass weitere Systemreferenzen im Bild mit jenen der Kommunikation und Wahrnehmung in potenzierte Ordnungen der Nichtlinearität integriert werden. Wie groß ist das Herz eines Fourierschen Integrals, das diese
Integration beschreibt?64 Wie viele Systemreferenzen lassen sich miteinander
in komplexe Figuren falten? Wie, vor allem, berücksichtigen wir mögliche
Systemreferenzen organischer, physischer und technischer Art, von denen
61 Siehe hierfür paradigmatische Anregungen bei White / White (1993).
62 Siehe Gadamer (1990), 149ff.; und vgl. zur Lösung des Bildes aus dem Alleinvertretungsanspruch der Kunst ebd., 139ff.
63 Siehe hierzu Baecker (1996); Ders. (2007c).
64 Siehe oben den Verweis auf Wiener (1964).
85
uns unsere Begriffe der Natur, des Universums und der Maschine immer
wieder berichten, ohne dass wir andere Evidenzen als jene der Wahrnehmung
und Kommunikation hätten, die sie uns bestätigen können?
Die magischen, religiösen und psychiatrischen Empfindlichkeiten vergangener Jahrhunderte haben wissenschaftlichen, ästhetischen und ökologischen
Empfindlichkeiten Platz gemacht, die in Bildern mit derselben Leidenschaft
nach Spuren ihrer Herstellung wie nach Spuren des Dargestellten und nach
Spuren der Betrachter suchen. Das Bild wird zum «systemischen Bild»,65 das
heißt zu einem Bild, das seine ikonische Differenz derart zur symbolischen
Differenz stilisieren muss, dass Anschlussoperationen möglich werden. Die
aktuellen Bildwissenschaften sind ebenso beunruhigt wie angeregt durch die
Beobachtung, dass diese Anschlussoperationen nicht mehr nur die der tribalen
Magie, der antiken Mimesis und der modernen Kritik sind, sondern darüber
hinaus die eines Designs, das diese Erfahrungen aufgreift und Bilder zu Instrumenten einer Erforschung von Ökologien macht.66 Das Bild steht nicht mehr
still im Bild, sondern wird zu einer Visualisierung, einem imaging, das über
prekäre Zustände einer nur momenthaften Integration und damit prinzipiellen
Differenz verschiedener Systemreferenzen von der Physis über den Organismus
bis zur Kommunikation und Maschine eine Auskunft gibt, die zwar immer
noch nicht sagt, aber doch immerhin zeigt, was genauer zu wissen wäre.
Damit geht einher, dass die schönen (Tafel-)Bilder der Kunst den Bildbegriff heute nicht mehr dominieren können. Allzu deutlich ist, dass ästhetische
Schönheit, die einst dem unruhigen Bewusstsein des immer etwas suspekten
Subjekts angeboten wurde, um seine allzu ungebundene Wahrnehmung mit
den Kriterien akzeptabler Geschmacksurteile abzustimmen,67 nicht mehr als
Paradigma der Anschlusskommunikation von Bildern gelten kann, die mit
einer Vielzahl weiterer Netzwerkeffekte aufgeladen sind. Das Training komplexer Bilder an der Schnittstelle zur Transzendenz des Erhabenen und Schönen zahlt sich heute auch dort aus, wo es um Märkte, Nachrichten, Politik,
Expertise und Unterhaltung geht.68 Wenn etwas zum Paradigma der Bild65
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So der Begriff von Hinterwaldner (2010).
Siehe dazu auch Baecker (2007a).
So Baumgarten (1983); und Kant (1968); vgl. auch Graubner (1977).
Die Formulierung ist eine Anspielung auf Park (1967).
kommunikation geworden ist, dann nicht die Ästhetik, sondern das Problem,
für das diese Ästhetik eine Lösung darstellen sollte: die Differenz individueller Wahrnehmung. Dass diese Differenz kommuniziert werden kann, ist die
Leistung und die Paradoxie des Bildes. Sie wird heute überall gebraucht, wo
Systeme sich in ihren laufend zu rekonstruierenden Umwelten reproduzieren
und Netzwerke sich um strukturell äquivalente Leerstellen bilden.69
Der Begriff des komplexen Bildes, den wir hier entwickelt haben und für
den wir uns auf die beiden Systemreferenzen der Kommunikation und der
Wahrnehmung gleichsam paradigmatisch beschränkt haben, ist möglicherweise geeignet, das Interesse der «nächsten Gesellschaft»70 am Bild theoretisch zu begleiten. Als Pointe dieser Theorie lässt sich möglicherweise der Satz
von Niklas Luhmann aufgreifen, dass reale Realität sich nur auf der Außenseite einer Form bezeichnen lässt, auf deren durch Kommunikation und
Wahrnehmung kontrollierten Innenseite sich nichts anderes als eine semiotische Realität befindet.71 Wirklichkeit ist das Komplement der Erfahrung
von Sprache, nicht diese Erfahrung selber. Bilder forcieren diesen Befund,
indem sie zunächst gegenüber der Sprache auf die Seite der Wirklichkeit zu
wechseln scheinen, dann aber doch auf Kommunikation und Wahrnehmung
zurückfallen. Dass sich in Bildern die außersprachliche Wirklichkeit auch
nicht wiedergeben lässt, gehört vermutlich zu den tiefsten Enttäuschungen
einer Menschheit, die immer wieder neu auf ihre magisch, mimetisch oder
kritisch geschlossene Welt gestoßen wird. Deswegen kommt es darauf an,
auch hier auf die Außenseite der Form zu wechseln und danach zu fragen,
auf welchen unmarked space sich jede symbolische Differenz verlassen muss.
Diese Frage kann man jedoch nur stellen, wenn man weiß, im Raum
welcher Redundanz wir unsere Markierungen bisher vorgenommen haben.
Das immerhin kann jede Bildbetrachtung lehren: Kein Bild lässt sich lesen,
wenn man vorher nicht andere Bilder gesehen hat.
69 Daraus erklärt sich, dass die Montage und der Schnitt mit Walter Benjamin und Jean-Luc
Godard zum Faszinosum einer Theorie bewegter Bilder geworden sind. Siehe zum Begriff
der strukturellen Äquivalenz Lorrain / White (1971).
70 Siehe hierzu Baecker (2007a).
71 So Luhmann (1997), 218f.
87
Ideen aus diesem Text sind zunächst auf der Tagung «Bilderflut – Bilderarmut?»,
an der Universität Luzern, 8.–9. April 2011, vorgetragen worden. Für kritische
Hinweise danke ich Cornelia Bohn, Tobias Brücker, Ludwig Jäger und Enno
Rudolph.
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94
Die Evidenz des Bildes.
Einige Anmerkungen zu den semiologischen und
epistemologischen Voraussetzungen der Bildsemantik
Ludwig Jäger
I. Vorbemerkung: «Das Bild» – ein «Diskursfetisch»?
Die generische Rede von der Evidenz des Bildes, die im Titel meines Textes
enthalten ist, wirft natürlich die Frage nach der Legitimität einer solchen
essentialistischen Adressierung des Evidenzproblems im Raum des Piktoralen
auf. Lassen sich Bilder im Hinblick auf eine allgemeine, gleichsam generische Eigenschaft, ihre genuine semantische Evidenz, in den Blick nehmen?1
Gibt es eine «piktorale Evidenz»2 jenseits der verschiedenen Subgattungen
des Bildes? Auch wenn sich mein Versuch einer Annäherung an die Evidenz
des Bildes mit seinem generalisierenden Gestus im Diskurs der Bild- und
Medienwissenschaften nicht einsam zu fühlen braucht – allenthalben wird
die Frage danach gestellt, was das Bild sei und was seine Logik, wird gefragt
nach der Wahrheit bzw. dem Realismus im digitalen Bild, wird das Bild erörtert als Spur oder als Palimpsest, wird das Verhältnis von Welt und Bild, von
Bildkunst und Wortkunst verhandelt etc.3 Auch wenn also das Bild in einer
großen Anzahl von Studien im Zentrum der theoretischen Aufmerksamkeit
steht, lässt sich doch kaum abweisen, was Hans Belting festgestellt hat, dass
es nämlich ein solches generisches Bild «in der Praxis gar nicht gibt», dass
dieser Allgemeinbegriff vielmehr in den bildtheoretischen Debatten der letzten Jahre so etwas wie ein «Diskursfetisch» geworden sei: Belting scheint es
deshalb «sinnvoller, das Bild als Allgemeinbegriff erst einmal zu demontieren,
1
2
3
Zum Begriff der Evidenz vgl. Lethen (2006); Jäger (2006); sowie ders. (2008).
Vgl. Boehm (2008).
Vgl. hierzu etwa Boehm (1995); Ders. (2006); Wyss (2006); Mitchell (2007); Mersmann
(2007); Krüger (2007); Ingold (1995); Gadamer (1995).
95
um der Vielfalt einer Bildpraxis gerecht zu werden, die nicht mehr als den
‹Begriff› Bild gemeinsam hat».4 Auch wenn ich nun mit Belting durchaus
darin übereinstimme, dass der Bildbegriff in seiner undifferenzierten Allgemeinheit dazu tendiert, zu einem Diskursfetisch zu werden, geht es mir im
Folgenden doch nicht darum, an seiner Stelle die «Vielfalt der Bildpraxis»
in den Blick zu nehmen (was ich als Sprachzeichen- und Medientheoretiker
auch gar nicht angemessen könnte). Ich werde vielmehr die Frage nach der
Evidenz des Bildes, trotz der Beltingschen Einrede, weiterhin – wobei ich
mich hierin etwa durch Gottfried Boehm legitimiert finde – als eine allgemeine theoretische Frage stellen, dabei freilich gleichwohl ihre Reichweite
dadurch einschränken, dass ich sie an einem exemplarischen Fall diskutiere,
am Fall nämlich der analogen Fotografie, von dem ich glaube, dass er einige
verallgemeinerbare Problemfelder berührt.
In der Tat ist der Fall der Fotografie in verschiedener Hinsicht para­dig­
matisch,5 vor allem im Hinblick auf die Dimensionen des fotografischen Bildes, die sich aus seiner indexikalischen und ikonischen Natur ergeben. Beide
Eigenschaften werfen zunächst die grundlegende Frage auf, ob es sich bei Bildern um Zeichen handelt, ob also das Fotografische aus der Perspektive des
Semiologischen verstanden werden muss, oder ob die Bildtheorie, wie dies
Gottfried Boehm anregt, «vom verlockenden Angebot der Zeichentheorie»
besser «keinen Gebrauch» machen sollte.6 Ich werde im Folgenden die These
vertreten, dass die Bildtheorie das verlockende Angebot der Zeichentheorie gar
nicht ausschlagen kann, weil es vor allem die Zeichentheorie, etwa die Peircesche Idee der Semiose, erlaubt, die spezifische Indexikalität sowie die Ikonizität
der Fotografie, und damit ihre genuine semantische Evidenz, theoretisch angemessen zu entfalten – ja weil es insgesamt schwierig sein dürfte, auf irgend­eine
Gattung von Bild und die für sie charakteristischen Evidenztypen Bezug zu
nehmen, ohne einen im weitesten Sinne semiologischen Theorierahmen.
Die Eigenschaften der Indexikalität und der Ikonizität analogischer Bilder führen in der Tat zu Fragen von allgemeinerer Reichweite hinsichtlich der
Evidenz des Bildes. So ist es etwa die spezifische Indexikalität der analogen
4
5
6
96
Belting (2007), 11.
Vgl. Wolf (2002).
Vgl. Boehm (2010), 21.
Fotografie, aus der wir, wie Joel Snyder formulierte, «unseren unerschütterlichen Glauben an die privilegierte Beziehung zwischen Bild und abgebildetem Gegenstand»7 ableiten. Zugleich bestimmt die Indexikalität in epistemologischer Hinsicht auch die eigentümliche Qualität, die der ikonischen
Referenz des Bildes zugeschrieben wird und die für jenes «besondere Verhältnis von Bild und Welt»8 verantwortlich sein soll, das der analogen Fotografie
unerschütterlich, freilich irrigerweise, noch immer angemutet wird. Dass wir
es hier mit einem grundlegenden Problem der Bildtheorie zu tun haben, lässt
sich auch daran ablesen, dass das Verhältnis analoger und digitaler Bilder im
Horizont der Frage des Bild-Welt-Verhältnisses und der spezifischen Differenz verhandelt wird, die hier für die beiden Bildgattungen bestimmend sein
soll: So ist es eine im kulturwissenschaftlichen Bilddiskurs häufig vertretene
Annahme, dass die Evolution digitaler Bilder zu einem «Zusammenbruch
der indexikalischen Beziehung zwischen dem Foto und seinem Referenten»9
geführt habe. Die Hypothese, dass das Verhältnis «zwischen der fotochemischen Fotografie und den neuen elektronischen Bildtechnologien» gerade
im Hinblick auf die privilegierte Beziehung zwischen Bild und Welt einen
«radikalen Bruch» darstelle,10 weil in diesem neuen, wie Lunenfeld es nennt,
dubitativen Verhältnis von Bild und Referent das «Realismus-Zertifikat»11
der älteren Fotografie außer Kraft gesetzt werde, dass also im neuen digitalen
«Zeitalter des Dubitativen»12 der alte Anspruch fotografischer Bilder, die Welt
getreu, natürlich und genau wiederzugeben, von der Digitalisierung unterhöhlt worden sei, wirft die generelle epistemologische Frage auf, in welcher
Form das Problem der Relation von Zeichensystemen auf ihre Referenzobjekte gedacht werden kann. Ich werde mit Blick auf diesen von Mitchell so
genannten «Mythos», die digitale Fotografie habe eine Ontologie, die von
der auf Chemie basierenden abweicht,13 zu zeigen versuchen, dass bereits auf
7
8
9
10
11
12
13
Vgl. Snyder (2002), 29.
Ebd., 27.
Vgl. Lunenfeld (2002), 169.
Ebd., 163.
Mitchell (2007), 237.
Lunenfeld (2002), 171.
Mitchell (2007), 241.
97
die analoge Fotografie zutrifft, was Snyder allgemein als epistemologische
Maxime für die Medialität des Bildlichen formuliert: «Es gibt keinen Weg,
auf dem wir die Sprache oder die Abbildung umgehen und zum Wirklichen
vorstoßen könnten, zu den ungeformten Materiespuren, die hinter den Dingen oder unserer Erfahrung stünden».14 Was auch immer die Evidenz des
(fotografischen) Bildes sein mag, sie verdankt sich keiner besonderen epistemologischen Nähe des Bildes zur Realität, insbesondere keiner, die kategorial verschieden wäre von der semiologischer Systeme – oder, wenn man
so will – symbolischer Formen überhaupt: «sie alle verhalten sich nicht wie
ein bloßer Spiegel, der die Bilder eines Gegebenen des äußeren oder inneren
Seins, so wie sie sich in ihm erzeugen, einfach zurückwirft, sondern sie sind
statt solcher indifferenter Medien vielmehr die eigentlichen Lichtquellen, die
Bedingungen des Sehens wie die Ursprünge der Gestaltung».15
II. Die Logik des Bildes und der Horizont des Semiologischen
Für den Bildbegriff, wie er im Kontext der jüngeren kulturwissenschaftlichen
Theoriediskurse der Kunst- und Bildwissenschaften entwickelt und etabliert
worden ist, ist es weithin charakteristisch, dass das Ikonische als eine mediale
Domäne verstanden wird, aus der alle Momente des Sprachlichen, ja des
Zeichenhaften überhaupt, kategorisch exkludiert sind. Vor dem Hintergrund
der neuen theoretischen Zentralopposition von Sagen und Zeigen,16 wird
das Deiktisch-Ikonische als ein mediales Regime verstanden, das unabhängig vom Raum des Semiologisch-Sprachlichen operiert. Insgesamt wird der
kulturwissenschaftliche Bilddiskurs weithin von der Überzeugung getragen,
dass für die Art der Bedeutung, die in den Medien der Sichtbarkeit generiert
wird, eine genuine ikonische Evidenz angenommen werden muss, die von
den Formen semantischer Evidenz in den Medien des Sagbaren in einer prinzipiellen Weise unabhängig – ja im Verhältnis zu dieser geradezu epistemologisch grundlegend ist. Dieser ikonischen Evidenz werden dabei Merkmale
14 Snyder (2002), 59.
15 Vgl. Cassirer (1964), 27.
16 Vgl. hierzu etwa Krämer (2003).
98
zugeschrieben, durch die sie nicht nur dem Universum des Semiologischen
entzogen, sondern zugleich mit einer Mächtigkeit ausgestattet wird, vor
deren Strahlkraft alle anderen Typen semantischer Evidenz verblassen müssen. Bildliche Medien – so wird angenommen – verfügen mit der ikonischen
Evidenz über eine Evidenz sui generis, die gegenüber den allgemeinen Verfahren der kulturellen Semiosis autonom ist.17 Wie weit sich diese Überzeugung verbreitet hat, zeigt sich auch in der jüngeren schriftbildlichen Wende
der Schrifttheorie,18 die sich sogar hinsichtlich des Mediums der Schrift das
Postulat zu eigen gemacht hat, dass diese, wenn man sie unter der Perspektive ihres bildlichen Charakters in den Blick nimmt, zu verstehen sei «als ein
Medium sui generis, das systematisch weder von der Sprache noch von sonst
einer semiologischen Ordnung abhängig» sei.19
Es wird mir also im Verlauf meines Textes bei der Erörterung dessen, was
ich die semantische Evidenz des Bildes genannt habe, nicht unwesentlich
um die Frage gehen, ob es sich bei der insbesondere in den Kunst- und Bildwissenschaften für Bilder in Anspruch genommenen ikonischen Evidenz,
(insbesondere, wenn diese indexikalisch fundiert ist), tatsächlich um eine
Evidenz sui generis derart handelt, dass sie als von jeder Art sprachlich-semiologischer Imprägnierung frei anzusehen sei. Wenn dem so wäre, müsste man
sie im Hinblick auf ihre spezifische Geltung außerhalb jenes medialen Raumes ansiedeln, in dem die nicht-piktoralen Medien operieren. Im Reich der
Medien des Sichtbaren würden prinzipiell andere Gesetze gelten, als in dem
des Sagbaren.20 Insbesondere unterläge die ikonische Evidenz keiner Logik
des Medialen, keiner Konstitutionslogik, in deren Raum auch das Unmittelbare als Ergebnis von medialen Vermittlungsleistungen gedacht werden
müsste. Sie wäre kein Ergebnis transkriptiver Verfahren,21 durch die Medien
rekursiv auf sich selbst und auf andere Medien Bezug nehmen und im Zuge
dieser Prozesse kulturellen Sinn fortschreiben bzw. rekonzeptualisieren. Die
piktorale Evidenz läge – gleichsam als paradigmatische Form des Evidenti17
18
19
20
21
Vgl. etwa Boehm (1995a), 330.
Vgl. Krämer (2005); ebenso Grube / Kogge (2005).
Grube / Kogge (2005), 16.
Vgl. zu dieser Opposition Voßkamp / Weingart (2005).
Vgl. etwa Jäger (2004b); Ders. (2009).
99
ellen – solchen Prozeduren immer schon voraus. Die semantische Evidenz
bildlicher Medien wäre durch eine kategorial andere Logik bestimmt, als die
der nicht-bildlichen semiologischen Medien.
Die Frage, die also im Zuge meines Versuches, mich dem Problem der
Evidenz des Bildes anzunähern, diskutiert werden soll, ist die, ob der für die
ikonische Evidenz von den Bildwissenschaften erhobene epistemologische
«sui generis»-Anspruch gerechtfertigt ist oder ob nicht auch für die Bildmedien eine allgemeine Logik des Medialen gilt, aus der sich konstitutiv wirksame
Momente des Sprachlichen und des Zeichenhaften nicht ausschließen lassen.
Ich werde für die letztere Annahme argumentieren und dem IkonischIndexikalischen eine allen Zeichenprozessen vorausliegende epistemologische
Begründungsfunktion absprechen. Dies heißt im Übrigen noch keineswegs,
dass es «sui generis»-Eigenschaften bildlicher Medien nicht gibt, sondern nur,
dass diese im allgemeinen Rahmen des Semiologischen zu bestimmen wären.
Auch wenn man also Gottfried Boehms These, dass Bilder im Hinblick auf
ihre spezifische Medialität «einen eigenen epistemischen Raum»22 umzirkeln,
durchaus zustimmen kann, handelt es sich – wie ich glaube – bei diesem epistemischen Raum des Bildlichen doch nicht um einen solchen, der außerhalb
der Ordnung des Zeichenhaften situiert wäre. Meine These lautet deshalb:
auch Bildprozesse sind Zeichenprozesse, auch die ikonische Evidenz ist eine
semiologische Evidenz. Die Medien des Sichtbaren sind ebenso wie die des
Sagbaren einer allgemeinen (transkriptiven) Logik des Medialen unterworfen, der sich auch das «epistemisch aufgewertete Bild»23 nicht entziehen kann.
Bevor nun die Ausfaltung dieser These näher ins Auge gefasst werden soll,
scheint es angebracht, sich die zentralen theoretischen Überzeugungen der
«sui generis»-Annahme des bildtheoretischen Diskurses noch einmal pointiert
vor Augen zu führen. Es sind, wie mir scheint, die folgenden:
(1) Die erste Überzeugung ist – wie bereits angedeutet – die Annahme,
dass Bilder «Evidenzen eines eigenen Typs»24 zu begründen vermögen, dass
sie über einen genuin ikonischen Sinn verfügen.25 Sie gewinnen – so Gott22
23
24
25
Boehm (2007), 79.
Krämer (2005), 24.
Boehm (2007a), 30.
Belting (2007), 20, der sich hier auf Gottfried Boehm bezieht.
100
fried Boehm – ihre Evidenzen «aus der Erfüllung eigener Vorgaben».26 Bilder
haben, wie man auch sagen könnte, eine eigene Art und Weise, Bedeutung
hervorzubringen. Sie sind in ihren Bedeutungshervorbringungen geprägt
durch eine «eigentümliche Leistung des bildlichen Sinnes»,27 wobei sie insbesondere «von Sprache unabhängig»28 sind. Es ist eine «eigene Wirkmacht und
Wirkkraft»,29 die die Bilder entfalten. Man könnte diese Hypothese deshalb
die Hypothese vom Eigensinn des Bildlichen nennen.
(2) Die zweite Annahme hängt mit der ersten unmittelbar zusammen:
die wesentliche Eigenschaft des bildlichen Eigensinns besteht darin, dass
Bilder ihre Bedeutung nicht über ein konventionelles semiotisches Bezugsverhältnis zur Welt erlangen. Sie sind «keine bloßen Zeichen»30 dessen, was
sie zum Ausdruck bringen. Vielmehr sind sie durch eine «Nicht-Koinzidenz
zwischen der realen Welt und der Welt der Repräsentation»31 bestimmt. Die
Bildtheorie scheint hierin der Feststellung des Neurologen Wolf Singer zu
folgen, der bereits für die Wahrnehmung konstatiert: «Unsere Wahrnehmungen sind keine isomorphen Abbildungen einer wie auch immer gearteten
Wirklichkeit. Sie sind vielmehr das Ergebnis hochkomplexer Konstruktionen und Interpretationsprozesse, die sich stark auf gespeichertes Wissen
stützen».32 Diese zweite Hypothese ließe sich also als die Hypothese von der
Nicht-Zeichenhaftigkeit der Bilder bezeichnen.
(3) Dass Bilder ihre Bedeutung nicht über ein konventionell-semio­
tisches Verhältnis zur Realität erhalten, dass sie über eine eigene Weise der
«Sinnstiftung»33 verfügen, hat die dritte Annahme zur Folge: Bilder sind nicht
restlos in andere Medien übersetzbar. «Die Idee einer restlosen Übersetzbar26
27
28
29
30
31
32
Boehm (2008), 32.
Boehm (2010), 21.
Belting (2007), 20; ebenso Boehm (2007a), 30.
Vgl. Waldenfels (2008), 46.
Belting (2007), 14, der hier Laurent Lavaud zitiert.
Ebd.
Wolf Singer, hier zitiert nach Schürmann (2008), 35, Anm. 21; freilich besteht eine bildtheoretische Annahme gerade darin, zwischen dem Visuellen und dem Bildlichen so zu
bestimmen, dass erst dem Bildlichen konstitutionelle Leistungen zugeschrieben werden,
während das Visuelle einhüllt, «ohne dass wir es selbst erzeugen» (Belting (2007), 19).
33 Boehm (2007a), 29.
101
keit des Bildes in Sprache»34 etwa, muss deshalb – so Gottfried Boehm –
verworfen werden. Das Bildliche lässt sich nicht auch nicht-bildlich sagen.
Eben hierin bleibt der Eigensinn «Eigensinn». Die Evidenz des Bildes ist eine
andere, als die der Medien, in die Übersetzungsversuche stattfänden – also
etwa in Sprache. Die dritte Hypothese ist also die Hypothese der NichtÜbersetzbarkeit.
(4) Aus allen diesen Postulaten folgt nun die vierte Annahme, die eine
weitere Zentralannahme des «sui generis»-Diskurses der Bildtheorie darstellt:
Das Bild wird als eigensinniges, unübersetzbares Medium nicht mehr als dem
Logos subordiniert angesehen. Dies hatten im Horizont des europäischen
Logo- / Phonozentrismus35 Denker wie Lessing, Hegel und Humboldt36
postuliert und damit nicht nur die Sprachphilosophie des 19. Jahrhunderts,
sondern auch die des sogenannten linguistic turn37 geprägt. Für Hegel etwa
ist die Intelligenz, sofern sie zum Ausdruck ihrer Vorstellungen noch Bilder
verwendet, nicht wirklich frei. Sie ist dann – wie Hegel formuliert – «mit
dem Inhalte der Anschauung» noch nicht fertig geworden.38 Erst durch die
Tilgung des Bildlichen befreit sich die zeichenmachende Phantasie von der
Aufdringlichkeit des Piktoralen und erreicht das ihr gemäße Niveau der
«bildlosen Allgemeinheit».39 Diese Herabsetzung des Ikonischen gegenüber
dem Logos erfährt nun im neueren Bilddiskurs eine grundsätzliche Kehre,
die «Wende zum Bild».40 Das Ikonische tritt – wie Gottfried Boehm formuliert – aus dem Schatten des Logos heraus: Wir haben es beim Bild «mit
einer eigenen Darstellung von Sein zu tun analog zum Logos, die aber im
34 Boehm (1978), 447f.
35 Dass freilich die etwa bei Derrida vorfindliche Engführung von Logozentrismus und
Phonozentrismus inakzeptabel ist, habe ich an anderer Stelle gezeigt. Vgl. Jäger (2005),
insbesondere Abschnitt 3, 193ff.
36 Vgl. hierzu etwa Jäger (2004a), 48ff.
37 Rorty (1992).
38 Vgl. Hegel (1970), 269.
39 Hegel (1986), 277. Freilich bleibt für Hegel das «dichterische Vorstellen» nicht bei der
«bildlosen Allgemeinheit» des Denkens stehen: ihm wir durchaus eingeräumt, «bildlich»
zu sein (vgl. ebd., 276ff.).
40 Vgl. Boehm (2007a), 29; zum Iconic bzw. Pictorial Turn insgesamt den Briefwechsel zwischen Gottfried Boehm und Tom Mitchell in Belting (2007), 27–46.
102
Unterschied zum «ist»-Sagen der Sprache, selbst nicht sprachförmig organisiert ist».41 Das Bildliche ist nicht mehr das dem Logos-Artigen Untergeordnete. Es wird seinerseits nonverbaler, ikonischer Logos.42 Es löst sich aus
dem Horizont des sprachlichen Logos gänzlich heraus und begründet eine
eigene Form der Sinnbildung. Die vierte Hypothese ist also die der NichtSubordination des Ikon unter den Logos.
So nachvollziehbar nun die Einreden des Bilddiskurses gegen die Postulierung einer epistemologischen Nachrangigkeit des Ikonischen gegenüber
dem Logos und so überzeugend die Bestimmungen des «sui generis»-Charakters des Bildlichen auch sind, sie rechtfertigen an keiner Stelle den Schluss,
dass das Bildliche jenseits des Horizontes des Semiologischen zu situieren sei.
Auch wenn man davon ausgeht, dass der sprachliche Logos einem ikonischen
Logos nicht übergeordnet werden darf, heißt das noch nicht, dass nicht beide
ihre Operationen in einem semiologischen Horizont entfalteten. So sehr ich
auch mit den skizzierten theoretischen Postulaten des «sui generis»-Diskurses
der Bildtheorie übereinstimme, insbesondere auch mit der These Gottfried
Boehms, dass Bilder über eine ihnen eigentümliche, nur an «ihnen selbst
abzulesende Weise, Sinn zu erzeugen» 43 verfügten, so wenig kann der in den
vier Annahmen mitgeführten Prämisse zugestimmt werden, dass das Heraustreten des Bildlichen aus dem «Schatten des Logos», d.h. die Emanzipation
des Ikonischen von der Subordination unter den Logos, notwendigerweise
zur Folge habe, dass dieser neue «ikonische Logos» außerhalb des Horizontes
einer semiologischen Vernunft anzusiedeln wäre. Es ist für alle Medien bzw.
symbolische Formen, für alle Zeichenformen im Horizont des Semiologischen insgesamt charakteristisch, dass sie auf eine je eigentümliche Weise, die
durch ihre jeweiligen ästhetisch-aisthetischen Bedingungen bestimmt ist, an
der Erzeugung kulturellen Sinns beteiligt sind. Sie sind insofern, wie man mit
Goodman sagen könnte, generell spezifische «Weisen der Welterzeugung».44
Es ist nur schwer nachvollziehbar, warum Belting zustimmend auf Lavauds
Bemerkung Bezug nimmt, Bilder stellten «eine privilegierte Art» dar, «um
41
42
43
44
Boehm (1978), 451.
Vgl. Boehm (2007a), 29.
Vgl. Boehm (2006), 250.
Goodman (1990).
103
uns von der Nicht-Koinzidenz zwischen der realen Welt und der Welt der
Repräsentationen zu überzeugen».45 Die «sui generis»-Hypothesen, die der
Bilddiskurs für die Bilder in Anspruch nimmt, gelten für den Raum des
Medialen insgesamt. Ihre sinngenerative Funktion sollte also als eine zentrale Eigenschaft von Medien insgesamt angesehen werden, und zwar zunächst
unabhängig davon, ob sie als Medien der Sichtbarkeit, der Sagbarkeit oder als
hybride Medien operieren: Medien – ich verstehe darunter durch je verschiedene dispositive Ordnungen46 bestimmte semiologische Verfahren – sind
generell durch den Umstand charakterisiert, dass sie an der Hervorbringung
des Sinns, der Bedeutung, bzw. der Information konstitutiv beteiligt sind, die
sie übertragen, speichern, distribuieren oder zum Ausdruck bringen. Dieser
Umstand ist es auch, der mich dazu anregt, davon zu sprechen, dass Medien
«Eigensinn»47 erzeugen – und zwar einen Eigensinn, der in seinem je eigentümlichen Charakter wesentlich bestimmt wird durch die spezifische Medialität des jeweiligen Mediums, d.h. sowohl durch seine ästhetisch-aisthetische,
als auch durch seine dispositive Form. Die Hervorbringung der jeweiligen
autochthonen Semantiken erfolgt dabei nicht primär durch einen Bezug auf
medientranszendente Quellen, d.h. etwa durch einen Bezug auf prämediale
Realitäten oder Referenzobjekte etc. bzw. Sprachen des Geistes, Begriffe oder
Ideen etc., und auch nicht durch eine präsemiotische, medial unvermittelte
Enthüllung von Gegenständen, wie dies Barthes für die analoge Fotografie
postuliert, sondern vielmehr prioritär durch intramediale rekursive Selbstbezugnahmen oder durch intermediale Bezugnahmen auf andere Medien, kurz
durch transkriptive Verfahren. Die These lautet also: alle Medien, sowohl
sprachliche als auch bildliche, haben prinzipiell nicht primär eine Abbildungs45 Belting (2007), 14.
46 Unter einer dispositiven Ordnung verstehe ich im Anschluss an Foucault Netzwerke von
an sich heterogenen Elementen wie Diskursen, Institutionen, architekturalen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, moralischen Lehrsätzen etc., die die
strategische Funktion haben, in historisch unterschiedlichen Konstellationen jeweils auf
vorliegende gesellschaftliche «Notstände» zu reagieren und diese zu beheben. Vgl. Foucault (1978), 120ff.; vgl. zum Dispositionsbegriff Foucaults den vorzüglichen Artikel von
Hubig (2000).
47 Vgl. hierzu Jäger (2005a).
104
oder Repräsentationsfunktion: sie sind zunächst inferentiell (selbstbezüglich),
ehe sie referentiell sind; sie sind zunächst transkriptiv, ehe sie denotativ sind,
sie sind – wie man mit Peirce formulieren könnte – zunächst Symbole, ehe sie
Indices und Ikone zu sein vermögen.48 Auch wenn also Medien im Zuge ihrer
aisthetisch-ästhetischen Eigensinnigkeit verschiedene Formen semantischer
Evidenz hervorbringen, und Bilder ihre Bedeutung sicher anders vermitteln,
als dies etwa sprachliche Zeichen tun, kann doch für die Medien des Sichtbaren keine epistemologische Privilegierung derart angenommen werden, dass
die bildliche Semantik asemiologisch operiert. Alle Formen semantischer Evidenz, und natürlich auch die «ikonische Evidenz» bildlicher Medien,49 sind
im weitesten Sinne Ergebnisse von Verfahren, die sich zwar aisthetisch-ästhetisch, aber nicht epistemologisch unterscheiden.
Ich möchte nun diese These am Beispiel einer theoretischen Position diskutieren, die in einer sehr exponierten Weise das Postulat der «Mächtigkeit»
der bildlichen Evidenz und der Nicht-Zeichenhaftigkeit des fotografischen
Bildes vertreten hat, an Roland Barthes’ Theorie der fotografischen Evidenz.50
An diesem Fall lassen sich – wie mir scheint – einige Fragen exemplarisch in
den Blick nehmen, die für unseren Problemzusammenhang zentral sind: (1)
die Frage, ob es sich bei (in diesem Falle analogen) Fotografien um Bildzeichen handelt oder um «Bilder ohne Code»,51 also nicht um Zeichen; (2) die
Frage, ob die Weise, in der fotografische Bilder auf Gegenstände einer prämedialen Welt unvermittelt referieren52 durch eine – wie Barthes annimmt –
«unerhörte Verschränkung von Wirklichkeit und Wahrheit»53 charakterisiert
ist und schließlich die Frage, ob wir es (3) bei der semantischen Evidenz der
fotografischen Bilder mit einer mächtigen Evidenz derart zu tun haben, dass
sie sich unabhängig von allen Leistungen einer umfassenderen Semiose einstellt. Insbesondere diese letzte Frage führt in das Zentrum des Problems, das
48 Vielleicht sollte man genauer sagen, sie können nicht Indices und Ikonen sein, ohne
zugleich auch Symbole zu sein.
49 Boehm (2008), 17, 23ff.
50 Vgl. Barthes (1989), 118.
51 Ebd., 99.
52 Ebd., 90.
53 Ebd., 124.
105
hier verhandelt werden soll: ihre Beantwortung entscheidet nämlich darüber,
ob die fotografische Evidenz als Resultat einer allgemeinen (transkriptiven)
Logik des Medialen angesehen werden muss oder ob sie allen medialen Vermittlungszusammenhängen vorausgeht und als solche – wie Barthes formuliert – «unanfechtbar gewiss»54 ist.
Gerade weil Barthes die fotografische Evidenz darauf zurückführt, dass
das Bild den Gegenstand selbst gleichsam prämedial «enthüllt»,55 stellt sich
die Frage umso schärfer, ob wir es bei dem fotografischen Bild mit einem
Medium zu tun haben, dessen semantische Evidenz seine Beglaubigung
unmittelbar aus transsemiologischen Quellen und nicht aus dem transkriptiven Spiel intra- und intermedialer Bezugnahmen bezieht. Die Beantwortung
dieser Frage entscheidet auch darüber, ob es sich bei der Hypothese, die Differenz zwischen analogen zu digitalen Bildern markierte eine Differenz der
Ontologien, einen epistemologischen Bruch, um eine zutreffende Diagnose
oder, wie Mitchell feststellt, um einen der «hartnäckigsten Gemeinplätze hinsichtlich des Wesens der digitalen Fotografie»56 handelt.
III. Ikonische Evidenz und (sprachliche) Semiose
Bevor ich mich nun Barthes’ Fotografie-Theorie sowie den Problemen näher
zuwenden werde, die sich aus ihr für den theoretischen Status der bildlichen
Evidenz ergeben, möchte ich einige Vorüberlegungen zu der Frage des Verhältnisses von bildlichen und sprachlichen Medien, von Sichtbarem und Sagbarem anstellen, um auf diese Weise gleichsam das Terrain für den Dialog mit
Barthes vorzubereiten. Meine Überlegungen beziehen sich dabei insbesondere auf die pointierte Kritik sprach- und zeichentheoretischer Konzepte, die
im Diskurs der Kunst- und Bildwissenschaften häufig mit der theoretischen
Entfaltung des Bildbegriffs verbunden ist. Meine Anmerkungen sollen deutlich machen, warum es sinnvoll sein könnte, sprach- und zeichentheoretische
Theorieelemente in die Diskussion mit einzubeziehen, die als Rahmentheo54 Ebd., 117.
55 Ebd., 18.
56 Mitchell (2007), 237.
106
rie für die Beschreibung der Operationsweisen bildlicher und sprachlicher
Medien nutzbar sein könnten.
Dass weite Teile der kulturwissenschaftlichen Bildtheorie dem Ikonischen eine gegenüber dem Sprachlichen und Semiologischen allgemein
prioritäre Rolle zuweisen, hat nicht unwesentlich mit einer These zu tun, die
Roland Barthes in seiner Theorie der Fotografie hinsichtlich des Verhältnisses
von bildlicher und sprachlicher Evidenz formuliert hat: «Im Bild» – so Barthes – «gibt sich der Gegenstand als ganzer zu erkennen, und sein Anblick ist
gewiss – im Gegensatz zum Text oder zu anderen Wahrnehmungsformen, die
mir das Objekt in undeutlicher, anfechtbarer Weise darbieten (…)»57 – oder
wie es an anderer Stelle heißt: «Nichts Geschriebenes kann mir diese Gewissheit geben. Darin liegt das Übel (…) der Sprache: dass sie für sich selbst nicht
bürgen kann».58
Auch wenn Barthes diese Sätze mit Blick auf die Fotografie geschrieben
hat, machen sie doch sichtbar, vor welchem Hintergrund sich die in den
Kultur- und Medienwissenschaften beobachtbare bildtheoretische Skepsis
gegenüber den sprachlich-semiologischen Formen der Evidenz ausgebildet
hat. Insgesamt ist in die Entfaltung des Bild-Diskurses gleichsam konstitutiv eine pointierte Kritik sprach- und zeichentheoretischer Konzepte eingeschrieben, die insbesondere von der Überzeugung getragen wird, dass das
Bildliche / Ikonische über ein Veranschaulichungsvermögen, eine aisthetische
Mächtigkeit und eine authentifizierende Kraft verfüge, über die sprachliche
und andere nicht ikonische Zeichenmedien nicht verfügten. Erst von hier
aus wird im Übrigen verständlich, warum angesichts der sogenannten «digitalen Revolution» von einem «Entschwinden der Bilder»59 bei gleichzeitiger
«Bilderflut»60 bzw. von einem «Verlust der Referenz»61 und davon die Rede
ist, dass dem Bewusstsein der Postmoderne tendenziell die Differenz zwischen Bild und Realität selbst zu entschwinden droht.62
57
58
59
60
61
62
Barthes (1989), 117.
Ebd., 96.
Belting (2007), 15.
Boehm (1995), 35.
Belting (2001), 216.
Vgl. Boehm (1995), 35.
107
Natürlich waren es nicht zuletzt die versuchten «linguistischen ‹Kolonialisierungen› des Bildes»,63 die mit einem gewissen Recht die disziplinären Dis­tanz­
im­pulse des bildwissenschaftlichen Diskurses zur Sprach- und Zeichentheorie
ausgelöst haben. So kann etwa kein Zweifel daran bestehen, dass es wenig Sinn
macht, «bildliches Verstehen» – wie dies etwa Elliot Sober vorgeschlagen hat –
als die Kompetenz zu bestimmen, «Bilder in Sätze umzuformen».64 Man kann
hier Danto nur beipflichten, der feststellt: «Es mag richtig sein, dass Personen,
die Bilder verstehen, fähig sind, in Worte zu fassen, was ein Bild zeigt. Aber
ich bin skeptisch ob das bildliche Verstehen darin besteht».65 Auch wenn eine
Bildbeschreibung in einem gewissen Sinne die Übersetzung eines Bildinhaltes
in Sprache sein mag, formuliert sie doch in keinem Fall die genuine Semantik
des Bildes, d.h. dessen bildliche Evidenz, die von seiner Medialität nicht zu
trennen ist. Insbesondere ist das bildliche Verstehen nicht einfach eine Form
des sprachlichen Verstehens. Gottfried Boehm hat mit einigem Recht darauf
hingewiesen, dass das sinnliche Urteil des Auges, das der Bildwahrnehmung
zugrundeliegt, als iudicium oculi «nicht unbedingt sprachlich verlautbart werden muss, um seiner Rolle zu genügen».66 Es scheint mir also völlig unstrittig
zu sein, dass es – wie bereits Gadamer formuliert hat – eine genuine «Seinsvalenz des Bildes» gibt,67 oder, dass es – wie Scholz im Anschluss an Cassirer formuliert – einen «eigenen Ort symbolischer Prägnanz»68 des Bildes gebe. Auch
Gernot Böhme nennt in seiner «Theorie des Bildes» die «Welt der Bilder»
zu Recht einen selbständigen «Bereich des Seienden».69 Medien generieren
aufgrund ihrer je spezifischen Medialität Eigensinn und damit einen jeweils
genuinen Typus semantischer Evidenz, der sich nicht verlustfrei in andere
mediale Formen der Evidenz übertragen lässt.70 Gleichwohl gibt es – wie ich
63
64
65
66
67
68
69
70
Voßkamp / Weingart (2005), 9; vgl. auch Scholz (2002), 109f.
Vgl. Sober (1976).
Vgl. Danto (1995).
Boehm (2008), 16.
Vgl. Gadamer (1965), 128ff., 144.
Scholz (2002), 112.
Böhme (2004), 47.
Die Idee der Übersetzung an die der verlustfreien Übertragung von Inhalten aus einem
medialen / semiologischen System in ein anderes zu binden, hieße freilich generell, sie ad
absurdum zu führen.
108
glaube – keine sinngenerierenden Leistungen von Medien und Zeichensystemen, die sich außerhalb dessen vollzögen, was Peirce «Semiosis» genannt hat.
Wie das Sagbare operiert auch das Sichtbare im Universum der Zeichenhaftigkeit – und zwar selbst dann, wenn man – wie Bredekamp und Krämer formulieren – darin erfolgreich wäre, die «epistemische Rang- und Bedeutungshierarchie zwischen Sprache und Bild» zugunsten des Bildes zu verschieben.71
Auch Bilder sind ebenso wie ikonisch-diskursive Hybridformen, sofern sie
als mediale Gestalten verstanden und sofern ihnen sinngenerative Leistungen zugesprochen werden, in einer wesentlichen Hinsicht Zeichen.72 Ihre
semantische Evidenz verdankt sich grundsätzlich semiologischen Verfahren,
nämlich einmal intramedialen Bezugnahmen auf andere Bilder in den historischen und rezenten Bild-Universen der Kulturen und zum andern intermedialen Bezugnahmen auf andere Medien, unter denen Sprache – wie sich bei
der Erörterung der Bartheschen Fotografietheorie noch zeigen wird – sicher
keine periphere Rolle spielt. Kein Medium kann wirklich – wie dies Barthes
für fotografische Bilder postuliert – für sich selber bürgen ohne die Inanspruchnahme von Leistungen, die andere Medien im Rahmen einer umfassenderen Semiose erbringen. Es ist das intramediale und intermediale Zusammenspiel der Medien, dem sich die kulturelle Semantik verdankt: Es ist kein
Medium denkbar, das – wie Bolter und Grusin formulieren, «seinen eigenen,
abgeschotteten und gereinigten semantischen Raum kultureller Bedeutung»
einzurichten vermöchte. Alle Medien hängen von anderen Medien in Zyklen
der Remediation ab.73 Der Raum des Bildlichen ist kein Fluchtort vor den
Anmutungen des Sprachlichen und des Semiologischen. Die im bildtheoretischen Diskurs immer wieder vertretene These, dass – so etwa Gernot Böhme – Bilder «im Unterschied zu den Worten keine Zeichen»74 seien, oder
dass – wie Belting im Anschluß an Lavaud formuliert – «Bilder keine bloßen
71 Vgl. Bredekamp / Krämer (2003), 12.
72 Bilder sind zwar im Sinne Goodmans nicht disjunkt und endlich differenziert, sondern
dicht, aber sie verfügen in verschiedenen dispositiven Rahmen über Verfahren der Referenz, der intramedialen Selbstbezugnahme sowie der intermedialen Bezugnahme auf
andere Medien.
73 Vgl. Bolter (2000), 55.
74 Böhme (2004), 46.
109
Zeichen» sind, «wie uns die Semiotik glauben macht»,75 greift auf ein antisemiologisches Ressentiment zurück, das den unangemessenen Versuch unternimmt, die aisthetisch-ikonische Mächtigkeit bildlicher Medien gegen die
vorgeblich auf eine konventionell-arbiträre Repräsentationsfunktion eingeschränkten Zeichen auszuspielen. Zeichen sind freilich nicht auf eine Abbildfunktion restringiert.76 Eine zentrale epistemologische Pointe des linguistic
turn, dessen Ablösung in den Bildwissenschaften allenthalben gefeiert wird,
ist gerade die These, dass Zeichen und Sprache sich nicht darin erschöpfen, Abbildungsmedien einer präsemiologischen bzw. vorsprachlichen Welt
zu sein, sondern dass ihnen eine erkenntniskonstitutive Leistung zukommt.
Bereits Wilhelm von Humboldt hatte hierfür die programmatische Formulierung gefunden, dass die Sprache nicht das abbildende Werkzeug, sondern
das «bildende Organ des Gedanken» sei. Wenn also Gadamer feststellt: «Der
Unterschied von Bild und Zeichen hat (…) ein ontologisches Fundament.
Das Bild geht nicht in seiner Verweisungsfunktion auf, sondern hat in seinem
eigenen Sein teil an dem, was es abbildet»,77 so formuliert er weniger – wie er
glaubt – ein Abgrenzungskriterium des Bildes vom Zeichen, als vielmehr ein
konstitutives Merkmal des Semiologischen überhaupt.
Kurz gesagt: die klassischen Abgrenzungsversuche, die in den Bildwissenschaften und auch im neueren Schriftdiskurs zwischen Bild und Zeichen
bzw. Sprache vorgenommen werden, erkaufen die deutliche Sichtbarkeit dieser Demarkationslinie nicht selten mit theoretischen Annahmen über Sprache
und Zeichen, die wenig angemessen sind. Sowohl ikonisch-bildliche, als auch
sprachlich-diskursive Skripturen gehören ebenso wie hybride Formen dem
Universum der Zeichenhaftigkeit, dem Raum der Semiosis, an, in dem sie
durch viele intra- und intermediale Netzwerke miteinander verwoben sind.
Gerade auch mit Blick auf Hybridformen muss man Sybille Krämer darin
zustimmen, dass es problematisch ist, «Sprache und Bild als disjunkte symbolische Ordnungen»78 anzusehen. Diese Feststellung trifft im Wesentlichen auf
alle begrifflichen Oppositionspaare zu, nach der Sprache und Bild disjunkt sor75
76
77
78
110
Belting (2007), 14.
Boehm (1995b), 327.
Gadamer (1965), 146.
Krämer (2003), 509ff.
tiert sind, insbesondere auch auf die Gegenüberstellung von Logos und Ikon,
die seit Lessings Laokoon und der Zeichentheorie Hegels, Humboldts und
Saussures den sprach- und bildtheoretischen Diskurs grundiert. Freilich lässt
sich gerade deshalb das Sagbare nicht umstandslos aus der Domäne des Sichtbaren aussortieren. Deiktisch-indexikalische und ikonische Zeichen können
ihre semantische Evidenz nur im Rahmen der Semiose insgesamt, also unter
Einbeziehung der Leistungen der Symbole erbringen. Dies ist die theoretische
Botschaft, die die Peircesche Semiotik vermittelt. Sie ist es freilich auch, die
den einen oder anderen Abwehrreflex in den Bildwissenschaften auslöst.
IV. Bild ohne Code: Fotografische Evidenz79
Mein Plädoyer für eine Theorie des Bildes und der bildlichen Evidenz, die
sich begrifflich nicht aus dem Horizont des Zeichenhaften verabschiedet,
geht von der für mein Argument wesentlichen Hypothese aus, dass auch im
Raum indexikalisch-ikonischer Bilder die medienimmanenten Bezugnahmen von Zeichen auf Zeichen als die Bedingung der Möglichkeit medientranszendierender Bezugnahmen von Zeichen auf außersprachliche Objekte
und Sachverhalte angesehen werden müssen. Sie folgt der Einsicht Jakobsons, dass Bedeutung nur insoweit die Bezugnahme auf Außersprachliches
ermöglicht, als sie sich vorgängig in Formen der Übersetzung von Zeichen
durch Zeichen zu konstituieren vermag,80 dass also – wie man mit Brandom
formulieren könnte – «in der Reihenfolge semantischer Erklärung der Inferenz Vorrang vor der Referenz eingeräumt werden muss».81 Es gibt – so hatte
Peirce formuliert – «keine Ausnahme von dem Gesetz», dass in den Prozessen
der Semiose «jedes Gedanken-Zeichen durch ein folgendes übersetzt oder
interpretiert worden sein muss (…)».82 Dies ist eine der wesentlichen Pointen
der Transkriptivitätsannahme.
79 Die beiden folgenden Abschnitte stützen sich wesentlich auf meine Aufsätze Jäger (2008);
sowie Ders. (2006).
80 Vgl. Jakobson (1992), 104; hierzu ebenso Holenstein (1975), 163.
81 Vgl. Brandom (2001), 9.
82 Vgl. Peirce (1984), 224.
111
Es liegt nun auf der Hand, dass eine solche Annahme von der Bartheschen Idee der fotografischen Evidenz grundlegend herausgefordert würde. In
der Tat könnte man annehmen, dass für das Postulat einer Priorität medien­
immanenter vor medientranszendierenden Bezugnahmen (von Zeichen auf
die Welt) gerade dann Schwierigkeiten entstehen könnten, wenn man einen
Blick auf das Problem der Evidenz wirft. Denn semantische Evidenz scheint
sich ja zunächst als eine Form unmittelbarer Geltung von Zeichensinn – sei
diese nun sprachlicher oder bildlicher Provenienz – nur in einem Modus
einzustellen, in dem sich die Gewissheitsbürgschaft nicht primär intra- und
intermedialen Bezugnahmen von Zeichen durch Zeichen verdankt, wie sie
etwa Zitation, Übersetzung, Kommentar oder Untertitelung von Bildern etc.
darstellen, sondern vielmehr einer Bezugnahme, die aus dem Universum der
Zeichen hinaus auf eine präsemiologische Welt verweist, die gerade in ihrem
epistemologischen Status der Vorzeichenhaftigkeit als Quelle für die Evidenz
des Zeichensinnes aufkommt. Darin, dass sich die Welt im Bild unvermittelt
als sie selbst zeigt, läge dann die spezifische Evidenz des Bildes. Gerade der
Fall der analogischen Fotografie scheint ein paradigmatischer Fall einer solchen Priorität des Referentiellen vor dem Inferentiellen zu sein. An ihm kann
deshalb nachgeprüft werden, ob wir es hier mit einem Typus von Medium
zu tun haben, der seine genuine Semantik ebenso wie seine spezifische bildliche Evidenz nicht den transkriptiven (inferentiellen) Bezugnahmespielen der
Semiosis,83 sondern einer gleichsam vorsemiologischen Referenz verdankt.
Zugleich hätten wir es dann zumindest im fotografischen Bild mit einem
medialen Typus zu tun, der dem Universum des Zeichenhaften nicht zugerechnet werden könnte, sondern der es gleichsam epistemologisch begründete.
Sollte freilich auch für ihn gezeigt werden können, dass «in der Reihenfolge semantischer Erklärung der Inferenz Vorrang vor der Referenz eingeräumt
werden muss»,84 so wäre dieser Nachweis für weniger einschlägige mediale
Kandidaten umso nachdrücklicher. Anders formuliert: sollte selbst für den
Fall der bildlichen Evidenz von (analogen) Fotografien gezeigt werden können, dass er sich vom inferentiellen Spiel der Semiosis nicht zu emanzipieren
83 Vgl. hierzu Jäger u.a. (im Erscheinen).
84 Vgl. Brandom (2001), 9.
112
vermag, würde dies umso eher für mediale Formate gelten, die sich nicht
durch einen analogisch indexikalischen Bezug auf eine transsemiologische
Wirklichkeit charakterisieren lassen – also etwa auch für Arten von Bildern,
die nicht analogische Fotografien sind. Der Barthsche Versuch, die Fotografie als paradigmatische Form gleichsam medial unvermittelter semantischer
Evidenz in Geltung zu setzen, ist insofern ein guter Kandidat für die Prüfung
der Frage, ob es sich hier um eine mächtige bildliche Evidenz jenseits der
Einflusssphären von Sprache und Zeichen handelt.
In seinem 1980 erschienenen und viel diskutierten Text La chambre claire.
Note sur la photographie85 hatte Roland Barthes eine Idee des Lichtbildes zu
resituieren versucht, die grundsätzlich für die Möglichkeit einer rein indexikalischen Bezugnahme der Fotografie auf ihr Bezugsobjekt Stellung bezog. Dabei
publizierte Barthes seinen Text zu einem Zeitpunkt, zu dem der sich intensivierende Diskurs der Fotografie86 längst die Konzeptualisierung des Fotos als
eines «interventionslosen Aufzeichnungsinstrumentes»87 prinzipiell in Frage
gestellt hatte. In souveräner Ignorierung dieses Diskurses insistiert Barthes
darauf, dass das Foto als «Bild ohne Code»,88 als indexikalisches Zeichen, seinen Gegenstand unmittelbar zur Darstellung bringt, ihn – wie Barthes formuliert – «chemisch enthüllt»:89 «Die Fotografie ist, wörtlich verstanden, eine
Emanation des Referenten».90 Es ist also das Objekt jenseits der Semiose, das
Objekt selbst, das in der (analogischen) Fotografie eine Möglichkeit gefunden
zu haben scheint, sich medial, aber gleichwohl als es selbst, zu enthüllen.
Wie Peirce behandelt Barthes das Foto als indexikalisch-ikonisches Zeichen, bei dem – wie Peirce formuliert hatte – «die physikalische Wirkung
des Lichts beim Belichten eine existenzielle «Eins zu Eins»-Korrespondenz
zwischen Teilen des Fotos und den Teilen des Objektes» herstelle.91
85 Die folgenden Überlegungen zitieren den Text nach der deutschen Ausgabe Barthes
(1989).
86 Vgl. hierzu etwa Wolf (2002); Dies. (2003); Geimer (2002).
87 Vgl. Holenbusch (2003), 20.
88 Barthes (1989), 99.
89 Ebd., 18.
90 Ebd., 90.
91 Peirce (1983), 65; Barthes (1989), 18.
113
Anders aber als Peirce löscht er den für die indexikalische Bezugnahme
konstitutiven Rahmen einer, das Verweisen erst ermöglichenden, umfassenden Semiosis. In einem wirkungsmächtigen Zusammenfall von Indexikalität und Deixis verweist die Fotografie, ohne dass sie eines überindexikalischen
Rahmens, d.h., ohne dass sie der Übersetzungs- und Interpretationsverfahren der Semiosis als Ganzes bedürfte, im Zuge der chemischen Enthüllung
ihres Gegenstandes zugleich auf diesen, und exponiert ihn unvermittelt als er
selbst: «Die Fotografie ist immer nur ein Wechselgesang von Rufen wie «Seht
mal! Schau! Hier ist’s»; sie deutet mit dem Finger auf ein bestimmtes Gegenüber und ist an diese reine Hinweissprache gebunden».92 Zugleich erzeugt
sie auf diese Weise «die seltene, vielleicht einzigartige Evidenz des ‹So, ja, so,
und weiter nichts›»;93 diese tritt als punctum «blitzartig»94 in Erscheinung:
sie schießt «wie ein Pfeil» aus dem Zusammenhang des Bildes hervor, «um
mich zu durchbohren».95 Es ist nicht ganz überraschend, dass die so konzeptualisierte fotografische Evidenz alle Eigenschaften der phänomenologischen
Evidenz des «aufblitzenden Augenblicks» teilt. Ihre Unvergleichlichkeit96 verdankt sich zwei konstitutiven Momenten:
(1) Einmal dem hinweisenden Finger, mit dem das Foto auf ein
bestimmtes Gegenüber als auf seinen (gewesenen) Gegenstand deutet und
die «magnetisierte»97 Aufmerksamkeit auf ihn richtet, durch eine deiktische
Geste also, mit der das Zeichen auf seinen Referenten als auf seine Ursache
zurückverweist – die so etwas zu sein scheint wie ein Amalgam aus Rahmung
(Albertis Fenster) und Zentralperspektive sowie zum zweiten (2) durch die
indexikalische Authentifizierung des Referenten, der sich als Gegenstand vor
der Kamera kausal und unvermittelt, das heißt, ohne die Dazwischenkunft
einer auktorial intervenierenden medialen Apparatur in das lichtempfindliche Papier einschreibt. Indexikalität und Deixis spielen hier in einer eigen92
93
94
95
96
Barthes (1989), 13.
Ebd., 119.
Ebd., 59.
Ebd., 35.
Auch in Barthes (1990), 13, spricht er vom «Sonderstatus des fotografischen Bildes: Es ist
eine Botschaft ohne Code».
97 Peirce (1970), 218f.
114
tümlichen Weise zusammen: sie interagieren als zwei gegenläufig gerichtete
Bewegungen derselben Zeichenrelation: der indexikalischen, die gleichsam
von der Ursache (dem Objekt) auf die Wirkung, das Zeichen (das Foto),
und durch dieses hindurch auf den Betrachter zielt und der deiktischen, die
umgekehrt von der Wirkung auf die Ursache verweist. Aus dieser Komplizenschaft, die zugleich das Medium in seiner Materialität auslöscht,98 erhebt sich
die fotografische als indexikalische Evidenz in ihrer Einzigartigkeit. Das Foto
ist, wie Barthes schreibt, die «Beglaubigung, daß das, was ich sehe, tatsächlich dagewesen ist».99 Fotografie ist deshalb «Beglaubigung von Präsenz»,100
ja – sie ist «die Bestätigung selbst».101 Die «besondere Glaubwürdigkeit der
Fotografie» beruht dabei – so Barthes an anderer Stelle – auf «ihrem außergewöhnlichen Denotationsvermögen»,102 darauf, dass wir auf der denotativen
Ebene der Semantik des Bildes, die sich von seiner kulturell-konnotativen
nicht berühren lässt, kein anderes Wissen benötigen «als das mit unserer
Wahrnehmung verknüpfte»,103 ein Wissen, das als «ein anthropologisches
Wissen» verstanden werden muss.
Die Fotografie stellt also eine Form der Authentifizierung zur Verfügung,
zu der kein anderes Medium – insbesondere nicht das der Sprache – in der
Lage wäre.104 Nur die Fotografie, die – so Barthes – die Beglaubigung als
neues Gen in die Familie der Bilder eingeführt hat,105 verfügt über eine Evidenz, die derart mächtig auftritt. Nur sie also vermittelt eine Gewissheit, die
«unanfechtbar» ist.106
Was hat es nun mit der Unanfechtbarkeit der fotografischen Gewissheit
auf sich? Verdankt sie sich einem Typus referentieller (direkter) Bezugnahme, die auf jeglichen inferentiellen Bezugshorizont, d.h. auf die Leistungen
98 Vgl. Barthes (1989), 14, 55.
99 Ebd., 92.
100 Ebd., 97.
101 Ebd., 96.
102 Barthes (1990), 17.
103 Barthes (1989), 32.
104 Ebd., 96, 117.
105 Ebd., 97.
106 Ebd., 117.
115
der Semiose, verzichten kann? Ein Moment einer solchen Unanfechtbarkeit
könnte man darin sehen, dass es sich bei der Fotografie um eine Bildersprache handelt, die universal ist, d.h. um ein Medium, dessen Darstellungsleistung von den Kontaminationen kultureller Kontextualisierungen, von
dem, was Barthes im Gegensatz zum «Punktum» «Studium» nennt, nicht
berührt wird. Ein solches Medium könnte über die fotografische Evidenz,
dass es so und so gewesen ist, deshalb verfügen, weil es sich einer Wahrnehmungsform bedient, die als «anthropologisches Wissen» allen kulturellen
Kontaminationen und Konnotationen vorausliegt. Wir hätten es, wenn man
dem Bartheschen Gedanken folgte, mit einer – wie Danto formuliert – bildlichen Sprache zu tun, die «für alle Wesen mit einem vergleichbaren Wahrnehmungsvermögen universelle Geltung besäße».107
Allerdings gälte für eine solche Sprache auch: «(…) was sie darstellen
könnte, wäre auf das beschränkt, was man ohne weitere Lernvorgänge wahrnehmen könnte. Eine Sprache, deren Gehalt darauf reduziert wäre, hätte
freilich nicht viel zu sagen. Und Bilder, die nur so viel zeigten, würden nicht
viel zeigen».108 Es ist deshalb – zumindest für Danto – «zweifelhaft, ob eine
bildliche Sprache die Möglichkeit der Darstellung einer diskursiven Sprache erreichen kann, ohne Hilfe von der diskursiven Sprache in Anspruch
zu nehmen»,109 oder – wie man auch formulieren könnte: es ist zweifelhaft,
ob referentielle Bezugnahmen einer indexikalischen Sprache der Bilder ohne
inferentielle Bezugnahmen auf der Ebene symbolischer Kontextualisierungen,
d.h. ohne die Übersetzungs- und Interpretationsleistungen der Semiose und
ihrer symbolisch-inferentiellen Mittel möglich sind.
Dass der Befund Dantos einige Plausibilität für sich hat, kann wieder ein
Blick auf Peirce zeigen. Eine indexikalische Bezugnahme, in der sich gleichsam
unmittelbar zum Ausdruck brächte, dass es so und so gewesen ist, die also ausschließlich durch eine kausale Relation zwischen Wahrnehmungsgegenstand
und Darstellungsmittel bestimmt wäre, vermöchte für sich, unabhängig vom
Funktionsrahmen einer komplexen Semiosis, ohne die Inanspruchnahme also
ihrer Ikonizitäts- und Symbolizitäts-Funktion, gar nicht im Referenzfeld zu
107 Vgl. Danto (1995), 144.
108 Ebd.
109 Ebd.
116
spezifizieren, welches der Gegenstand ist, auf den sie sich richtet. Handelt es
sich also etwa bei dem Referenten eines Porträtfotos von Richard Avedon «William Casby, als Sklave geboren»,110 in dem – wie Barthes behauptet, «das Wesen
der Sklaverei (…) bloßgelegt» sei,111 um den tatsächlichen ehemaligen Sklaven
William Casby, oder um einen Sklaven, der aber nicht William Casby hieß,
oder um William Casby, der aber kein Sklave war, oder um jemanden, der
weder Sklave war, noch William Casby hieß? Die Unentscheidbarkeit dieser
und möglicherweise weiterer Lesart-Alternativen ist durch keinen Aspekt der
indexikalischen Bild-Evidenz zu beseitigen, selbst dann noch nicht, wenn wir
über das indexikalische Moment hinaus die Ikonizität des Bildes, also die Ähnlichkeit des Abgebildeten mit der fotografischen Abbildung, heranziehen. Das
Objekt, das als Ursache die fotografische Wiedergabe bewirkte, wird erst dann
zum Referenten112 des Fotos (William Casby), wenn das bildliche Zeichen
durch den Paratext der Bildunterschrift («Richard Avedon – William Casby, als
Sklave geboren 1963») – also durch sprachlich-mediale Mittel – transkribiert
wird. Die kausale Relation, auf die die indexikalische Bezugnahme sich stützt,
verwandelt sich allein unter der Voraussetzung in eine semiologische Referenz,
dass der Index durch situationsungebundene symbolische Mittel semantisch
ergänzt wird. Die kausale Relation darf also, wie Riedel mit Recht hervorhebt,
«nicht mit der semiotischen verwechselt werden: damit sie sich zu einer indexikalischen Bezugnahme wandelt, ist zum einen das ikonische Moment, zum
andern ein symbolisches Umfeld unabdingbar».113 Die deiktisch-indexikalische
Geste, die für sich in Anspruch nimmt, die Gewissheit, «daß es so und so gewesen ist»,114 alleine zu verbürgen, muss also hinter ihrem Rücken notwendig
die Operatoren des gesamten semiologischen Feldes in Anspruch nehmen, um
ihre unanfechtbare Evidenz hervorzubringen. Die Evidenz des Bildes verdankt
sich nicht allein der authentifizierenden Kraft der indexikalisch-ikonischen
Evidenz, sondern auch Bezugnahmeformen, die jenseits der Referenzebene auf
der Ebene der inferentiellen Bezugnahmen von Zeichen auf Zeichen liegen.
110 Vgl. zur Diskussion dieses Beispiels und zu dem folgenden Riedel (2002).
111 Barthes (1989), 45.
112 Vgl. zu der erhellenden Unterscheidung von «Objekt» und «Referent» Riedel (2002).
113 Ebd., 288.
114 Barthes (1989), 117.
117
V. Evidenz und Transkriptivität
Barthes’ Versuch, die Fotografie gegen die Vertreter «semantischer Relativität», die Verächter des Realen, als «Emanation des vergangenen Wirklichen»
zu rehabilitieren und ihr die «bestätigende Kraft» einer «Zeugenschaft»115 für
das, was gewiss gewesen ist, anzumuten, wirft die allgemeinere Frage nach
dem Verhältnis von Evidenz und Medialität auf. Vor dem Hintergrund der
Bartheschen Annahme einer mächtigen Evidenz des Fotografischen, in der
sich das Mediale in der Evidenz des Augenblicks zugunsten des Mediatisierten auflöst, möchte ich dafür argumentieren, dass es keine Form der semantischen Evidenz von Symbolsystemen gibt, die nicht ihrerseits als das Ergebnis intramedialer (rekursiver) bzw. intermedialer Bezugnahmen verstanden
werden müsste, als das Ergebnis von transkriptiven Prozeduren also, die als
medienimmanente Bezugnahmen die Möglichkeitsbedingung von medientranszendierenden Bezugnahmen zwischen Symbolsystemen und ihren
Gegenstandswelten darstellen. Die authentifizierende Kraft der semantischen
Evidenz lässt sich nicht allein und nicht einmal vorrangig aus der Referenzialität von Zeichen herleiten. Evidenz verdankt die Aura der unanfechtbaren
Gewissheit, die sie umgibt, dem Umstand, dass es ihr nicht selten gelingt,
die semiologischen Prozeduren zu maskieren, die sie allererst hervorbringen.
Evidenz – so lässt sich gerade mit Blick auf die (analogische) Fotografie feststellen, ist das Resultat von Operationen der Semiose, die mitunter in ihren
Ergebnissen verschwinden und so den Anschein unvermittelter Geltung
erwecken. Die mächtige Evidenz des Sichtbaren beleiht die symbolischen
Prozeduren des Sagbaren und bringt sie ebenso zum Verschwinden wie den
Bild-Signifikanten, der in dem, was er zeigt, unsichtbar bleibt: «es ist nicht
das Foto, das man sieht».116 Evidenz, so hat es den Anschein, ist grundsätzlich durch die untilgbare Einschreibung des Semiologischen in das Feld des
Ursprünglichen und Unvermittelten gezeichnet; dies gilt auch für das Feld
der indexikalischen Evidenz, auf dem – wie Barthes formuliert hatte – das
Medium bereit ist, sich selbst aufzuheben und «nicht mehr Zeichen, son115 Barthes (1989), 99.
116 Ebd., 14.
118
dern die Sache selbst zu sein».117 Grundsätzlich lässt sich Evidenz nur als
ein Resultat118 medialer Verfahren zur Sinngenerierung und nicht als deren
Grund im Sinne einer unanfechtbaren Gewissheitsbürgschaft verstehen. Der
Eigensinn des fotografischen Bildes verdankt sich der Medialität des fotografischen Verfahrens, aber die Evidenz, die ihm eigentümlich ist, steht am
Ende einer Kette von Transkriptionen und nicht an deren Anfang.119 Vertritt
man – wie ich dies hier tun möchte – eine solche Idee der Evidenz, dann
bezieht Sinn seine Fundierung nicht aus prädiskursiven Geltungsgründen,
sondern allein aus medialen Verfahren der Sinngenerierung und der Evidenzauszeichnung. Evidenzverfahren bringen dann als mediale Prozeduren
gleichsam Schauplätze der Evidenz hervor, Aushandlungsbühnen, auf denen
die kulturelle Semantik ihre Sinnzuschreibungen durchführt bzw. in ihren
verschiedenen dispositiven Formaten Sinn unter den Bedingungen von Rhetoriken der Evidenz inszeniert.120 Unter diesen nehmen gerade die Rhetoriken bildlicher Evidenzgenerierung eine prominente Rolle ein. Dies betrifft
nicht nur solche Formen der Evidenzauszeichnung, in denen die Zuschreibung von Evidenz in diskursiven Verfahren ausgestellt wird, sondern ebenso
auch die, in denen, wie bei der epistemischen Evidenz, die Herstellungsprozeduren maskiert sind.121 Die einzigartige Evidenz des fotografischen Bildes
lässt sich insofern als eine epistemische Evidenz verstehen, die ihre (subjektive) Gewissheit aus Prozeduren herleitet, die ihrerseits nicht wahrgenommen
werden. Für die Evidenz dieses Typs gilt, dass das semiologische Verfahren,
dem sie sich verdankt, unter bestimmten Bedingungen selber unsichtbar
bleibt, dann nämlich, wenn die kulturellen Rahmen, in denen sie hervorgebracht wird, vertraut sind. Sichtbarkeit erlangt das Verfahren hier nur dann,
wenn es gestört worden, d.h. die Evidenz des generierten Sinnes ungewiss
geworden ist.122 Epistemische Evidenz ist also dadurch bestimmt, dass in ihr
117 Ebd., 55.
118 Zur «Evidenz als Leistung» vgl. Husserl (1929), 113ff., 140ff., 184ff., 249ff.
119 Vgl. hierzu ausführlich Jäger (2006), 42ff.
120 Vgl. hierzu Holert (2001), 208.
121 Vgl. zur Unterscheidung von diskursiver und epistemischer Evidenz ausführlich Jäger
(2006).
122 Vgl. zum Begriff der «Störung» Jäger (2004a).
119
die sozialen (kommunikativen, diskursiven) Prozeduren ihrer Genese immer
wieder in ihrem Gegebenheitsmodus verschwinden und gleichsam unsichtbar werden. Gleichwohl verdankt auch sie sich symbolisch-medialen Prozessen, Evidenzverfahren, in denen das scheinbar Ursprüngliche in Prozeduren
der Nachträglichkeit erzeugt wird. Dies gilt für die indexikalische Evidenz
fotografischer Bilder ebenso, wie für die semantische Evidenz anderer Zeichen- und Mediensysteme. Evidenz ist deshalb, wie man sagen könnte, nicht
nur, wenn sie in der Sichtbarkeit rhetorischer Prozessualität als das Ergebnis
diskursiver Operationen auftritt,123 sondern auch, wenn sie in ihrer epistemischen Gestalt erscheint, eine Hervorbringung medialer, d.h. transkriptiver
Verfahren, die, weil sie als Verfahren transparent bleiben, hinter die Evidenz
des in Szene gesetzten Sinns zurücktreten und ihre medialen Hervorbringungen mit dem Anschein ursprünglicher Unvermitteltheit ausstatten. Auch
die Indexikalität der Fotografie verbürgt insofern nicht eine mächtige, d.h.
von den transkriptiven Leistungen der Semiose unabhängige und insofern
unmittelbare Evidenz. Es ist vielmehr allein die Unsichtbarkeit ihrer Inszenierungsbedingungen, die den Referenten in ontologischer Unmittelbarkeit
erscheinen lässt.124 Auch die indexikalische Bezugnahme kann sich deshalb
der Voraussetzung nicht entziehen, dass sich ihre Evidenz nur als Resultat der
konstitutiven Bewegung der Semiose einstellt.
VI. Kleines Resümee: bildlicher Sinn und Semiose
Als kleines Resümee meiner bisherigen Überlegungen zur bildtheoretischen
Konzeptualisierung des Bildlichen und zum epistemologischen Sonderstatus
der ikonischen Evidenz ließe sich etwa das Folgende festhalten: Wie auch
immer man die «eigentümliche Leistung des bildlichen Sinnes»125 verstehen
will, man wird sie – wie ich glaube – in ihrem Eigensinn nicht nur dadurch
angemessen würdigen können, dass man sie aus dem Horizont einer umfassenderen Semiose herauslöst. Eine solche Herauslösung aber scheint nach wie
123 Wie etwa in den Evidenzgewinnungsprozeduren eines Gerichtsverfahrens.
124 Vgl. Barthes (1989), 14.
125 Boehm (2010), 21.
120
vor die zentrale Option des bildtheoretischen Diskurses zu sein. Im jüngsten
Sammelband Die Rhetorik des Sichtbaren der Baseler Forschungsgruppe Eikones begründet Gottfried Boehm das Ausschlagen des «verlockenden Angebots» der Zeichentheorie (Peircescher Provenienz) für eine Theorie des Bildes
damit, dass die Verlockung verbunden sei mit einer «Überbrückung bzw.
Einebnung der Differenz von ‹sagen› und ‹zeigen› bzw. von Bild und Sprache
sowie anderer Medien auf der neuen Ebene des Zeichens und seiner Modi der
Bezugnahme».126 Er fordert deshalb eine Prüfung der zeichentheoretischen
Option für die Entfaltung des Bildbegriffs. Ohne Zweifel hat Boehm darin Recht, dass eine zeichentheoretische Konzeptualisierung des Verhältnisses
von «sagen» und «zeigen» der Prüfung ihrer Plausibilität und ihrer Tragweite
bedarf. Freilich scheint mir das «verlockende» Peircesche Angebot nicht in
dem Vorschlag einer Einebnung der Differenz von «sagen» und «zeigen» oder,
wenn man so will, von Bild und Sprache, zu bestehen, sondern vielmehr in
ihrer begrifflichen Schärfung. Es wird nämlich ohne einen zeichentheoretischen Rahmen nicht ganz leicht zu zeigen sein, was Bilder zu erkennen
geben, wenn sie etwa zeigen (und es nicht sagen), was also unter dem genuinen «bildlichen Sinn» des Bildes verstanden werden kann und vor allem,
wie wir Begriffe wie Deixis, Indexikalität, Repräsentation oder Ikonizität in
einem theoretisch befriedigenden Sinne verwenden können.127 Der Versuch,
das Bildliche aus dem Horizont des Sprachlich-Zeichenhaften herauszulösen,
ist ähnlich problematisch, wie der entgegengesetzte und von der Bildtheorie zurecht bekämpfte Versuch etwa Lessings, Hegels und Humboldts, die
piktorale Intelligenz der sprachlich-diskursiven unterzuordnen. So sehr auch
die Hegel-Humboldtsche Hierarchisierung von Logos und Ikon verfehlt ist,
so sehr lebt doch die Umkehrung der epistemologischen Rangordnung von
einer exklusiven Geste, von einem Ausschluss, der das Bild, indem er es feiert,
tatsächlich dadurch abwertet, dass er es aus dem Horizont von Sprache und
Zeichen ausbürgert. Die Evidenz des Bildes ist sicher durch einen ästhetischaisthetischen Eigensinn bestimmt. Aber durch diesen wird sie zu keinem für
die Semiose und den Raum des Semiologischen exzentrischen Phänomen.
126 Ebd., 21.
127 Das zeichentheoretische Begriffsfeld, das die Bildtheorie terminologisch beleiht, ohne es
theoretisch in sein Recht zu setzen, hat eine noch weit größere Extension.
121
Literatur
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a.M. 1989.
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125
Die Physis des Bildes
Ludger Schwarte
Bilder gestalten und prägen unser Weltverhältnis. Sie legen Äußerungs- und
Handlungsformen fest.1 Sie sind «kulturelle Tatsachen». Bilder zählen zu
den Grundlagen der kulturellen Welt. Aber was meinen wir, wenn wir von
Bildern sprechen? Das deutsche Wort «Bild» hat, im Gegensatz zu der im
Englischen üblichen Unterscheidung zwischen Picture und Image, den sehr
seltenen Vorteil, nicht zu differenzieren. Es umfasst sowohl das, was wir im
Kopf anschauen, wie auch das, was wir uns an die Wand hängen können.
Wird mit «Bild» zumindest immer auch das gemeint, was die eine bildhafte
Ansicht bedingt, ist keine Bildtheorie zufriedenstellend, die nicht auch die
Eigenschaften von Bildnissen, von Zeichnungen, Gemälden, Statuen, Photos,
Filmen usw., beschreibt. Bisher wird in bildtheoretischen Bemühungen der
Körperbau, die Physis, die Statur, die Konstitution, die Figur des Bildes aber
geflissentlich, fast schamhaft übersehen. Wir sollten zu erklären in der Lage
sein, wie sich ein Bild in einem Gemälde verkörpern kann, und inwiefern die
physische Konstitution von Bildern sie von anderen Dingen, die wir ebenso
ansehen, unterscheidbar macht. Im Hintergrund eines solchen Zuganges auf
die Physis des Bildes steht das «Primat des Objektes», wie Walter Benjamin
und Theodor W. Adorno es auf korrespondierende Weise herausgearbeitet
haben. Auch scheint eine vergleichbare Aufmerksamkeit in Heideggers Ter1
Cassirer (2001), 49: «Wenn alle Kultur sich in der Erschaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter symbolischer Formen wirksam erweist, so besteht das Ziel der Philosophie nicht darin, hinter all diese Schöpfungen zurückzugehen, sondern vielmehr darin,
sie in ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und bewusst zu machen (...)». Wollte
man eine unmittelbare Schau des geistigen Lebens hinter den Bildwelten erreichen, so
wäre dies eine Negation der symbolischen Form. «Geht man dagegen den umgekehrten
Weg, fasst man sie (...) als Funktionen und Energien des Bildes, so lassen sich an diesem
Bilden selbst, so verschieden und ungleichartig die Gestalten sein mögen, die aus ihnen
hervorgehen, doch gewisse gemeinsame und typischen Grundzüge der Gestaltung selbst
herausheben».
127
minus «das abbildende Gemäldeding» auf. Meine zentrale Frage ist: Ist nicht
ein Bild schon ein Bild, auch ohne dass jemand es entsprechend anschaut?
Oder wird etwas nur dadurch zu einem Bild, dass ich es als ein Bild ansehe?
Durch ein «Sehen-in», während ich eine mit Zeichen versehene Oberfläche
betrachte? Was kennzeichnet das Bild als Ding unter Dingen?
Die Frage scheint überflüssig, wenn man davon ausgeht, dass Bilder nur
für ein sehendes Bewusstsein innerhalb eines Kommunikationsprozesses exis­
tieren. Entsprechend sollte ich mich auf die Art konzentrieren, wie Bilder
etwas zur Darstellung bringen, repräsentieren oder symbolisieren. Doch
entgeht der Aufmerksamkeit einiges an den Gemälden und Photos, wenn
man sie lediglich an Ihrer Darstellungsleistung mißt und als Medien analysiert. Die in der Kulturphilosophie weit verbreitete Rede von «symbolischen
Medien» impliziert, dass sich in Bildern zwei konträre Dimensionen überlagern: Die Nachahmung und die Darstellung. Bilder wären, als «symbolische
Medien» betrachtet, einerseits in der Lage, durch die Symbolisierung etwas
zur Darstellung zu bringen, was überhaupt nur in dieser singulären Gestaltung anschaulich werden kann. In dieser symboltheoretischen Perspektive
tritt das Bild in seiner Eigenlogik, zumal auch in seiner Opazität, in den
Vordergrund. Betrachtet man das Bild jedoch hinsichtlich seiner Medialität,
so macht es sich selbst zumeist unsichtbar, transparent. Wir glauben, durch
das Bild gleichsam hindurch zu blicken, auf einen Sachverhalt, den das Bild
simuliert. Bilder wären, je nach Bildtyp in unterschiedlicher Weise, einerseits
eingebunden in eine Symbolsprache und andererseits in eine Medientechnik.
Diese Auffassung, dass Bilder symbolische Medien seien, halte ich für
revisionsbedürftig. Und zwar vor allem, weil man aus dieser Warte die spezifische Wahrheitsfähigkeit der Bilder nicht in den Blick bekommt. Wie ich
im Folgenden erläutern möchte, spielt diese Wahrheitsfähigkeit aber nicht
nur in naturwissenschaftlichen und politischen Grenzfällen eine wichtige
Rolle, sondern vielfach auch im Alltag: wenn der Arzt von mir ein Röntgenphoto macht, dann kann man das, was dort zu sehen ist, niemals jenseits
dieses Photos sehen, und doch interessiert dabei nicht das Photo mit seinen
Darstellungsqualitäten, sondern ob mein Knochen gebrochen ist oder nicht.
Ich verlange nicht vom Arzt, dass er das Photo interpretiert, sondern dass
er zuerst richtig hinschaut. Das Röntgenphoto ist weder ein transparentes
128
Medium noch ist es ein Symbol. Vielleicht aus dem Grund, dass vielfältigste
Kommunikationsprozesse über Bildschirme kanalisiert und organisiert werden, ist sich die überwiegende Mehrheit der heutigen Bildtheorien darin
einig, dass Bilder sichtbare Strukturen sind, die sich von den Bildträgern als
ihren Medien abheben.
In Oswald Schwemmers Buch Kulturphilosophie beispielsweise werden
Bilder als symbolische Medien definiert. Ein Bild, so Schwemmer, sei eine
«eigens angefertigte Konfiguration sichtbarer Formverhältnisse», die sich in
einem Medium, der begrenzten Fläche, präsentierte. Es sei daher nicht nur
Abbild, sondern erschließe Sichtbarkeit.2 Die Rede vom «symbolischen Medium» weist auf zwei Seiten des Bildes hin, die nicht auf der selben logischen
Ebene liegen. Wer von Bildern als Symbolen spricht, unterstellt eine strukturelle Ähnlichkeit von Sprache und Bild. Was heißt es, ein Bild als Symbol oder als Konfiguration von Symbolen innerhalb eines Symbolsystems zu
betrachten?
Nehmen wir eine weit verbreitete Zeichnung, die in jedem öffentlichen
Gebäude zu sehen ist. Wir können sie anschauen als Variante auf Magrittes
Ceci n’est pas une pipe oder wir können sie schlicht als «Rauchen Verboten»Schild interpretieren. Wir hätten in diesem Fall das, was die Zeichnung uns
zu sehen gibt, als Zeichen gedeutet. Nicht aber, wenn wir es lediglich als
geometrisches Muster sehen, obschon es das ist, was wir zuerst sehen. Wer
davon ausgeht, dass jenes Schild nur dann ein Bild ist, wenn ich darauf die
Aussage «Rauchen verboten» erkenne, folgt einem zeichentheoretischen
Bildbegriff. Der zeichentheoretische Ansatz geht davon aus, dass Bilder Zeichen sind, die eine Differenzierung in Dargestelltes, Darstellung und Darstellendes erlauben. Dabei kann durchaus offen bleiben, ob, wie Charles
Sanders Peirces Begriff des «Ikon» nahelegt, eine gestufte Ähnlichkeit zum
Bezeichneten gegeben ist oder ob, wie bei Goodmans Denotationsbegriff, für
2
Schwemmer (2005), 159, 161. Im Gegensatz zum «übersehenden Sehen» steht allerdings
das «Malbild»: «Im Bild des Malers wie in seinem Blick wird sozusagen eine Basisdemokratie des überhaupt Sichtbaren errichtet, in der die Herrschaft der Gegenstände aufgehoben ist und das durch unser alltäglich übersehendes Sehen visuell Entrechtete und
Vergessene wieder zum Vorschein gebracht wird» (Ebd., 169).
129
bildliche Repräsentation keine Ähnlichkeit erforderlich ist.3 Gleich welcher
Gegenstand kann zum Zeichen werden, wenn ihm ein Sinn und eine Bedeutung zugewiesen werden.4 Viele alltägliche Bilder können als Zeichensysteme
interpretiert werden. Doch Bilder sind nicht, wie Zeichen, in andere Medien
transformierbar. Zeichen können ohne Bedeutungsverlust geschrieben, gelesen, in Blindenschrift ertastet oder in Zahlenkombinationen programmiert
werden. Bilder aber müssen gesehen werden. Der Zeichengebrauch rekurriert
daher nur auf konventionalisierte Bilder, gewissermaßen auf informatisierte
Bildklischees.
Dass Bilder ebenso wie Stühle oder Brot als Zeichen gesehen werden
können, heißt aber noch nicht, dass Bilder Zeichen sind und dass bildliche
Darstellungen mit Notwendigkeit an Extensionen geknüpft sind. Die Gestalt
der bildlichen Darstellung kann auch nicht allein aus der semiotischen Pragmatik erklärt werden.5 Nun könnte man einwenden, dass ikonische Zeichen
in bestimmten Ähnlichkeitsrelationen zu dem von ihnen Abgebildeten stehen. So wäre weder eine besondere Leistung des Betrachters noch ein konventionalisierter Zeichengebrauch oder eine Bezugnahme auf etwas Äußeres
notwendig, wenn ich mich darauf beschränke anzunehmen, dass ein Bild
etwas abbildet, indem es die sichtbaren Unterschiede, Aspekte, zum Beispiel
die Umrissgestalt oder die Farbvolumen dessen enthält, was ich darauf erkennen soll, ob es dieses Dargestellte nun gibt (wie zum Beispiel ein Photo von
mir genügend Merkmale meiner Erscheinung aufweisen muss), ob dabei ein
Typ oder ein Allgemeinbegriff visiert wird (wie bei einem Bild vom Körperbau des Menschen oder das Bild einer durchgestrichenen Zigarette) oder ob
es sich um eine Fiktion handelt (das Bild von Zeus). So muss man beispielsweise, bevor man die symbolische Bedeutung der Erlösung von den Sünden
erfasst, auf einer christlichen Kreuzesdarstellung erst einmal den Menschen
Jesus am Kreuz hängend erkennen. Diese Erkennbarkeit der Abbildung liegt
in einer Gestaltähnlichkeit zwischen den Eigenschaften des Bildträgers und
der Abbildung. Doch gibt es alle möglichen visuellen Repräsentationssysteme
3
4
5
Mit «zeichentheoretisch» sind neben Peirce und Goodman auch Roland Posner, Klaus
Sachs-Hombach, Hans Dieter Huber u.a. gemeint. Siehe unter anderem Huber (2004).
Vgl. Goodman (1995), 212f. Hierzu: Seel (2000), 277.
Bildpragmatik entwickelt Scholz (2002).
130
und künstlich hergestellte Ähnlichkeitsrelationen, die keine Bilder sind, so
dass eine solche Erklärung kaum triftig genannt werden kann.
Bevor ich z.B. beim Rorschach-Test Formen deuten kann, muss ich die
Tintenkleckse als Bilder sehen. Was heißt das? Wenn ich Tintenkleckse auf
einem Papier als Bilder sehe, bedeutet das noch nicht, dass ich etwas darin
erkenne. Zunächst sehe ich sie nur als eine Konfiguration von Sichtbarem.
Wenn ich in einem öffentlichen Gebäude auf eine schematische Darstellung
von Kreisen und Balken treffe, muss ich darin nicht sofort ein «RauchenVerboten»-Zeichen sehen, aber ich muss einen Zusammenhang des geome­
trischen Musters, eine Konfiguration von Formen in einer artifiziellen Präsenz erkennen.
Der phänomenologische Ansatz innerhalb der Bildtheorie fokussiert auf
den Gegenstand, der sich in der Zeichnung, im Gemälde, in der Photographie etc. zu sehen gibt: in unserem Beispiel also auf den Tintenklecks oder
die Balken und Kreise des Verbotsschildes. Darauf zielt Husserls Idee eines
Bildobjekts. Mit dem Begriff «Bildobjekt» wird die gesehene Oberflächenstruktur, die Darstellungsform bezeichnet, die das Merkmal von Bildern
überhaupt abgeben soll. Ich muss erst die Form des Tintenkleckses sehen
lernen, bevor ich ihn z.B. als Fledermaus deuten kann. Dieses Sehen ist daher
kein Entziffern von Zeichen, es ist nicht schon von einer Regel oder einem
Schema geleitet, sondern zunächst die Entfaltung eines Gegenwartsbewusstseins, das sich auf einen imaginären Gegenstand richtet. Dieser Gegenstand,
also das, was Husserl «Bildobjekt» nennt, repräsentiert nicht. Es nimmt auf
keinen äußeren Gegenstand Bezug, sondern zeigt Eigenschaften des Aussehens.6 Für Husserl geht das Bild erst aus den Akten des Ich hervor, das im
Bildträger ein Bildobjekt erkennt. Jedoch gibt es bei Husserl eine Ausnahme:
Die Wachspuppe, die nicht als Bild fungiert:
Die Wahrnehmung des Puppendinges ist also nicht Unterlage
eines Abbildungsbewusstseins; vielmehr erscheint bloß in eins mit
der Puppe zugleich die Dame: zwei perzeptive Auffassungen, bzw.
zwei Dingerscheinungen durchdringen sich, nach einem gewissen
6
Vgl. Wiesing (2005), 36.
131
Erscheinungsgehalt sich sozusagen deckend. Und sie durchdringen sich in der Weise des Widerstreites, wobei der aufmerkende
Blick bald dem einen, bald dem anderen der erscheinenden, aber
sich im Sein aufhebenden Objekte zuwenden kann.7
Der phänomenologische Ansatz beschreibt einen Prozess, bei dem das Bildobjekt in der Wahrnehmung aus sichtbaren Formrelationen generiert wird.
Das Erscheinen eines Bildobjektes ist diesem Ansatz zufolge der wesentliche
Unterschied zwischen einem Bild und jedem anderen Artefakt. Dabei disqualifiziert er jedoch ebenso wie der semiotische Ansatz das physische Bild als
bloßen Bildträger, als Medium. Vom Bildmedium kann gesagt werden, dass
es die Sichtbarkeit des Bildobjektes bedingt und zugleich dessen mögliche
Verbreitung und Kommunikation. Das Medium materialisiert, speichert
und überträgt das Bild. Es beeinflusst, wie das Bildobjekt gesehen werden
kann. Es hätte aber nur eine technische Bedeutung, wenn es keine Bilder
tragen und übertragen würde, wie die leere Leinwand oder der ausgeschaltete Fernseher. Daher rührt die Rede vom bloßen Bildträger. Gernot Böhme
zufolge ist das Bild nicht an einen bestimmten materiellen Träger gebunden.8
Aus dieser Warte ist es gleichgültig, ob ich die Mona Lisa auf einem T-Shirt,
einem Poster, einer Kaffeetasse oder im Louvre sehe, solange es nur dieselbe
Mona Lisa ist. Dieser Ansatz berücksichtigt folglich auf Seiten des Bilddinges
lediglich die transparente Infrastruktur, das Sinnfällige, und vernachlässigt
seine opake Materialität im Übrigen vollständig.
Weil der zeichentheoretische und der phänomenologische Ansatz aber
nur die sinnfällige Formkonfiguration als bildkonstitutiv betrachten, disqualifizieren sie nicht nur das Bildding zum bloßen Bildträger, sondern sie
verkürzen auch das sich dem Bildbewusstsein zeigende Bild auf die Geltung
des gesehenen Bildobjekts, d.h. auf das Bestimmbare. Wichtig für die Konstitution des Bildes sind aber ebenso das Nicht-Sichtbare wie das Opake.
Dass mir beim Rohrschach-Test eine schwarzgraue Konfiguration mit fledermaus- oder schmetterlingsähnlichen Zügen auffällt, gelingt nur, wenn
7
8
Husserl (1913), 443. Siehe auch 54, 172, 422f., 501. Und Husserl (1980), 1–108.
Böhme (1999), 9, 46.
132
ich es vom bedeutungslosen weißen Umfeld abgrenze, das aber ein ebenso
notwendiger Teil des Bildes ist, ohne den ich nichts erkennen könnte. Bevor
wir sie in Form und Medium zerlegen, sollten wir berücksichtigen, dass Bilder vor allem Dinge sind: Dinge, die ein eigentümliches Spiel mit unserer
Wahrnehmung anfangen, wie der leuchtende Kasten, den wir sehen, bevor
wir ein Testbild erkennen. Anstatt lediglich auf eine mediale Pragmatik, auf
sinnfällige Strukturen bzw. dargestellte Objekte zu fokussieren, sollten wir
das Bild insgesamt gerade in seiner Unbestimmtheit in den Blick nehmen.
Und anstatt Bilder als nur sichtbare Zusatzwelten zu betrachten, sollten wir
die Wirkmächtigkeit der physischen Bilder kritisch überprüfen.
Wenn der zeichentheoretische Ansatz den alltäglichen Bildgebrauch
durchaus zu erklären vermag und der phänomenologische Ansatz beschreibt,
inwiefern sich mir im Bild etwas Phantomartiges, ein Bildobjekt, darbieten
kann, so schlage ich vor, noch eine Schicht darunter anzusetzen, dort, wo das
Bildding und das Bildobjekt ununterscheidbar ineinander übergehen. Wenn
wir das Bild vom Bildding ausgehend zu begreifen versuchen, so müssen wir
in der Lage sein zu erklären, was dieses Bildding mit anderen Dingen gemein
hat, so dass es als Ding unter Dingen, unabhängig von der Wahrnehmung
und der kommunikativen Pragmatik, sein kann. Das bedeutet nicht, dass die
Wahrnehmung nicht ebenso konstitutiv für das Bildding ist wie für Sternbilder oder für Musik, für die die Unterscheidung Konstellation und Lichtfleck oder Klang und Geräusch auch nicht ohne ein kulturspezifisches Wahrnehmungsraster zu haben ist. Und doch werden sie in ihrem Zusammenhang
nicht erst durch die Wahrnehmung hervorgebracht.
Diesem Bildding sind andererseits bestimmte Eigenschaften oder Gestaltungsmerkmale zueigen, die es von anderen Dingen unterscheiden und die
auf besondere Weise wirken. Bilder definiert Klaus Sachs-Hombach für den
semiotischen Gebrauch als artifiziell, flächig und dauerhaft. Diese Kategorien
sind allerdings zu eingeschränkt: Das Kriterium des Artifiziellen gilt nicht
für Spiegel- und Schattenbilder, die Annahme, dass Bilder vor allem flächig
sein müssen, sortiert skulpturale und plastische Bilder aus;9 das Merkmal der
9
Siehe Sachs-Hombach (2003), 74ff. Zur Kritik an dieser Definition, siehe Schulz (2005),
83f.
133
Dauerhaftigkeit gilt nicht für ephemere und prozessuale Bildphänomene wie
den Film. Auch Alexander Calders Mobiles zeigen Rückseiten, Grundstrukturen, Tiefenschichten und Bedingungen für die Sichtbarkeit von Flächen in
momentanen Konstellationen, die mal diese, mal jene Figur der Instabilität
und des Übergangs evozieren.
Das Bildding ist nicht nur ein beliebiger Träger eines Bildobjektes.
Vielmehr ist es gekennzeichnet durch Materialität, Dimensionalität und
Licht. Die Materialität zeigt sich oft im Zusammenspiel von Farben und
Textur, die Dimensionalität als Begrenztheit und Flächigkeit, das Licht in
Beleuchtung, Glänzen und Schatten. Selbst dort, wo, wie im Falle des vermeintlich digitalen Bildes, das Bild aus nichts anderem generiert wird als
einem Zahlenwert, treten diese Parameter zusammen, wenn uns ein Bild
vor Augen tritt, wie flüchtig auch immer. Ähnlich wie sich das Geräusch
mit dem Gehör verschränkt, so dass sich Klänge und Töne ergeben können,
so gehen gesehene Gebilde aus einer Art Bild-Granulat hervor, das die Sicht
affiziert.
Die Wirkmächtigkeit des aus Materialität, Dimensionalität und Licht
zusammengesetzten Bilddinges lässt sich deshalb weder auf die Attraktivität
des Trägermediums noch auf eine strukturierte Oberfläche reduzieren. Bei
wissenschaftlichen Bildern, aber auch bei jeder Urlaubsphotographie ist nicht
nur das wichtig, was zu sehen ist, sondern zunächst: dass es sie, als Bilddinge,
gibt. Schon hier, in diesem Auftreten und Sich-Manifestieren, und nicht erst
im Zeigen liegt die spezifische Wahrheitsfähigkeit der Bilder. Materialität,
Dimensionalität und Licht zusammengefügt, veranlassen das Sich-Ereignen
der Bilddinge in der Wahrnehmung. Sie konfigurieren eine visuelle Kraft, die
für Bilder kennzeichnend ist. Die Physis des Bildes materialisiert sich temporär. Dies kann am Besten beobachtet werden, wenn man Akte der Bildherstellung analysiert. Derartige Bildakte, wie man sie von kleinkindlichen
Kritzeleien her kennt, zielen nicht oder nicht notwendig darauf, etwas abzubilden, sondern gehen in der Explosion der Farben und Formen, im Prozess
des Welterschaffens auf.
Weil Bilder weder statische Oberflächen sind, die plötzlich aus dem Nirgendwo vor uns auftauchen, noch Mengen visueller Symbole, die eine Bedeutungsintention zusammenfügt, sollten wir die Handlungsfähigkeit genauer
134
untersuchen, die sich auf den verschiedenen Ebenen in der Begegnung mit
Bildern ins Spiel bringt. Ich schlage vor, dabei vier Prozesse zu differenzieren:
I. Verkörperung
Das Verkörpern ist ein räumlicher Figurationsprozess. Bilder exponieren sich
in einer Ausstellungsarchitektur. Bevor sie als durchsichtiges Medium fungieren können, müssen sie zunächst einmal selbst als Materialkonstellation im
Raum aufgefasst werden. Bilder treten uns im Kontrast zu ihrer Umgebung
als solche entgegen und ziehen uns in ihre Gegenwart. Weil sie in Opposition zum Raum der Betrachtung stehen und daher nie unabhängig von
diesem Kontrast als Bilder gesehen werden können, bringen sie eine besondere Erfahrung mit sich. Bilder sind dann nicht bloß Abbilder, Trugbilder,
Illusionen, Repräsentationen. Sie sind auch nicht nur opake Medien.10 Als
Verkörperungen sind sie Präsentationen physischer Dinge, sie sind welterschaffend, weil sie eine neue Sichtweise in die Welt bringen. Wie kommt es,
dass wir nicht nur «im Bild» Wirklichkeit sehen, sondern dass die Wirklichkeit des Bildes selbst uns in spezifischer Weise entgegen tritt? Wie kommt
es, dass wir, etwa im Falle des Dokumentarfilms oder auch der entlarvenden
Photographie, aller Einsicht in die Manipulierbarkeit von Bildern zum Trotz
diesen eine Evidenz zusprechen, weil sie uns etwas zu erkennen geben?
Bilder sind Dinge in Aktion. Zwischen der allgemeinen Bildhaftigkeit
der Dinge, die als Dinge einander ähneln und füreinander einstehen können,
und den gemachten Bildnissen stehen die imaginativen Dinge – natürliche
Konstellationen wie Spiegelungen, Wolkenformationen, Vogelschwärme,
Farbflächen, aber auch Straßenszenen, in denen Unübersichtlichkeit und
Versammlung ineinander übergehen. Diese momentanen Konstellationen,
Verstörungen und Übergänge sind unwillkürlich entstehende Bilder, die
nichts anderes zeigen als den Prozess ihrer Figuration. Hieran wird deutlich,
dass an der Bildwerdung nicht nur die subjektive Einbildungskraft oder die
künstlerische Technik, sondern auch die Akte der Dinge Anteil haben.
10 Zur Opazität als Teil der Repräsentation siehe Marin (2005); und Ders. (2001), 51f.
135
Wenn man die Installation des Ateliers von Fischli und Weiss in einer
ihrer Ausstellungen gesehen und diese Arbeit womöglich schon als ready
made abgebucht hat, bemerkt manch ein Besucher erst beim Hinausgehen, mit Blick auf das die Konstruktionsmaterialien aufzählende Schild,
dass alles aus Polyurethan nachgebaut wurde. Die Farbtöpfe, das Radio, die
Zigaretten, die Asche – alles aus Plastik. Dass es sich um Bilder handelt,
bemerkt man daher erst, wenn man den Unterschied zur Replik oder zur
Kopie erfasst hat. Verfremdung und Unähnlichkeit sind daher wesentliche
Züge, die Bilder qualifizieren. So liegt Bildern eine vielschichtige Erscheinung zugrunde, die auf einem ereignishaften, plötzlichen Verkörperungsprozess aufbaut. Die Erscheinung dieses Körpers baut auf Ähnlichkeiten
und Unähnlichkeiten mit anderen gegenwärtigen Dingen auf. Darauf mag
sich eine intuitiv künstlerische Ähnlichkeitsrelation entfalten (a = b), eine
imaginativ konventionelle Ähnlichkeitsrelation (a = a) oder eine symbolische Bezugname (a = x).
II. Negation
Dieser Verkörperungsakt ist zugleich eine Unterbrechung des alltäglichen
Erfahrungskontinuums. Das Bildding stellt sich entgegen und grenzt sich
ab, z.B. durch Rahmungen. Es kaschiert, was hinter ihm liegt, es negiert
die Existenzweise der Welt, in der es erscheint. Durch die negative Arbeit
des Bildes, sagt Georges Didi-Huberman, verliert der Blick des Betrachters
seinen Halt in der unmittelbaren Erscheinungswelt.11 Das Visuelle des Bildes
bricht in die Sichtbarkeit der Welt ein. Die Imagination der Betrachter wird
von diesem Fremdkörper angezogen und destabilisiert.
Das Bild negiert auf mindestens fünf verschiedenen Ebenen: a) Es negiert
die Welt, aus der es heraussticht, b) es negiert auf der Ebene seiner Struktur,
wenn es zum Beispiel aus einem Widerspruch hervorgeht, der als Unterschied
von Grund und Oberfläche wahrnehmbar ist, c) es bietet eine Oberfläche als
Raum der Erscheinungen dar, d) dieser Raum wird wiederum durchkreuzt
11 Didi-Huberman (1990).
136
von Gestalten aus einem imaginären Tiefenraum, die sich zu Zeichen verdichten können. Schließlich e) kann es auf Abwesendes verweisen.
Das bedeutet auch, dass die Vorstellung zu kurz greift, derzufolge Bilder
überhaupt definiert werden können als Darstellungen dessen, was sie selbst
nicht sind.12 Bilder sind nicht erst durch die Abwesenheit dessen gekennzeichnet, was sie darstellen, denn die Möglichkeit einer Negation des Gegenstandes
durch das Anschauungsphänomen hängt nicht nur von der Reflexion des
Betrachters ab. Die imaginative Leistung des Betrachters baut auf den strukturellen Negationen des Bilddinges auf. Derartige Negationen zeichnen selbst
solche Bilder aus, die die reale Präsenz dessen beanspruchen, was sie darstellen.
III. Abdruck
Die Materialität der Bildnisse zeigt die Spur eines Ereignisses, einer Kraft
oder eines abwesenden Dinges. Schattenwürfe und Photographien sind Körperspuren, Abdrucke, Oberflächen, in denen sich verschiedene Energien einprägen. Auf diese Art und Weise können Bilder für uns nichtwahrnehmbare
Strahlungen sichtbar machen (z.B. Wärme-, magnetische oder radioaktive
Strahlung). So basiert nicht nur die «Vera Icon», sondern auch die Darstellung des Gehirns in der Magnetresonanztomographie auf diesem im Abdruck
bewahrten Kontakt. Das Bild bewahrt die Form seiner Prägungskräfte, bildet
sie nach. Die diagnostische Evidenz der Bilder des Gehirns belegt, dass Bilder
als Spuren gelesen werden können, in denen sich erkenntnisrelevante Prozesse abdrücken.13 Die Spur der Gestaltung weist, als geschichtetes Material,
einen historischen Index auf. Darin zeigt sich nicht nur Autorschaft. Es ist
auch ein Abdruck der Zeit.14 Die Produktion von Bildern ist ein Prozess, bei
12 Brandt (1999), 10. Die Negation sei Sache der Anschauung, nicht der Gestaltung: «Erst
durch diese reflektierte Negation des Betrachters selbst gibt es Bilder» (Ebd., 106).
13 Hagner (1994) und (1996).
14 Lazzarato (2002), 14f.: «Die Zeitkristallisationsmaschinen arbeiten im Inneren dieser
Zeitlichkeit: sie repräsentieren die Welt nicht, sie kristallisieren sie durch Kontraktion
und Ausdehnung der Zeit und tragen so zu ihrer Konstitution bei. Aber um dieses neue
Verhältnis von Körper und Geist zu begreifen (wie der Geist auf den Körper wirkt und
137
dem Zeit eingefangen, verdichtet oder aufgetrennt und fragmentiert wird.
Dieser Prozess prägt das Bild als Abdruck; es ist Zeugnis seiner Entstehungsgeschichte und bildet nicht zuletzt dadurch Geschichte ab.
Arthur Goodspeed hat – darauf hat Peter Geimer eindrücklich hingewiesen – im Jahr 1890 das erste Röntgenphoto der Welt hergestellt, ohne es
gewollt oder bemerkt zu haben. Goodspeed hatte im Verlaufe seiner Experimente an der Induktionsmaschine die Funkenentladung direkt auf Photoplatten aufgenommen und dabei auch elektrisch aufgeladene Münzen verwendet. Nach der Entwicklung dieser Platten hatte er diese seltsamen Scheiben
gesehen und die Platten daher gesondert aufbewahrt, ohne sie sonderlich zu
untersuchen. Als fünf Jahre später die Arbeit «Über eine neue Art von Strahlen» Wilhelm Conrad Röntgen weltweit bekannt machte, ging Goodspeed
zurück in sein Laborarchiv, nahm die alten Photoplatten heraus und verstand, dass er unabsichtlich die ersten Röntgenphotos geschaffen hatte.15 Mit
dieser Erkenntnis ändert sich aber nicht nur der Blick auf die Photoplatten
oder ihre Sichtbarkeit. Er hatte diese Platten aufbewahrt, weil sie merkwürdige Spuren und Muster zeigten. Erst später fand er heraus, dass sie etwas
abbildeten. Manchmal dauert es Ewigkeiten, bis die Bilddinge so gesehen
werden können, wie es ihnen entspricht. Auch einzelne Details, die im Bild
immer schon vorhanden waren, werden erst Ewigkeiten später wahrgenommen. Aber das Bild stellte sie immer schon vor Augen, und zog nur deshalb
die Aufmerksamkeit auf sich. Gleichwohl ist nicht jedes Detail bedeutsam.
Was Georges Didi-Huberman mit dem Begriff des «pan» belegt, ist der Ort
in einem Gemälde, der das System der Darstellung unterbricht. Es ist ein
reines Ereignis der Farbe, wie das kleine rote Rinnsaal unter Vermeers Spitzenklöpplerin. Ähnlich wie das punctum Roland Barthes zufolge die photographische Repräsentation, das studium, bedingt, lässt sich keine Darstellung
auf dem Gemälde denken, an der nicht an irgendeiner Stelle die Farbe selbst
unterhalb der Darstellung hervorträte. Das Hintergründige und das Opake
sind Teil der Bildkonstitution. Ebenso wie das Unsichtbare, die Rückseite des
umgekehrt), muss man jede Theorie der Repräsentation, die das Sein in Reales und Bild
spaltete, ebenso aufgeben wie jede Phänomenologie, die die Objekte in den Raum und die
Bilder in den Geist verlegt».
15 Siehe Geimer (2002), 331f.
138
Sichtbaren, die vermeintlich kontingenten Eigenschaften des Abgebildeten.
Diese sind kein «visueller Lärm», den es herauszufiltern gälte, sondern das,
was ein Bild ausmacht. Denn Bilder sind keine künstlichen Welten, in denen
wir versinken, sie sind keine Kopien oder Klone. Dies wird schon in Wittgensteins Bildtheorie des Satzes deutlich. Denn Wittgenstein unterstreicht,
dass neben der Logischen Form (der kohärenten Struktur), der Form der
Abbildung (der Ähnlichkeit) auch die Form der Darstellung (der Unähnlichkeit) in Betracht gezogen werden muss, damit etwas als Bild fungieren kann.
Bilder unterscheiden sich, im Prozess des In-Erscheinung-Tretens, von dem,
dessen Spuren sie tragen. Es ist daher nicht erforderlich, ein permanentes
doppeltes Bildbewusstsein zu unterstellen, das zwischen Bildträger und Bildobjekt hin und her wandert. Es ist ein geschichteter Prozess. Bevor wir das
Bild in seiner Gegenwart wahrnehmen, müssen wir es antizipieren.
Im Ereignis der Wahrnehmung tritt das Bild als Zukünftiges in eine
Erwartung. Die Antizipation ist Teil des Imaginationsprozesses, bei dem die
Aufmerksamkeit das Bild abtastet, auf verschiedene Aspekte fokussiert und
die Details zu einem Ganzen zusammensetzt. Dieses Bildsehen wird gespeist
von einem Vorratsspeicher an Bildern, die aus der Erinnerung abrufbar sind
oder die, um in die Gegenwart der Aufmerksamkeit zu gelangen, getilgt und
vergessen werden müssen. Neben diesen produktions- und rezeptionsästhetischen Momenten ist die Zeitlichkeit des Bildes selbst Grundlage seiner
Wahrheitsfähigkeit: Die Bild-Zeit ist ein Augenblick, der sich in einer Dauer
entfaltet, sie ist ein Ereignis, das sich aus Serien von Blickfragmenten in einer
Montage zusammensetzt. Die Bild-Zeit ist ein Werden und Fließen, in dem
plötzlich ein Jetzt steht und die Erfahrung staut. Wenn zu den Merkmalen
des Bilddinges daher nach der Verkörperung und der Negation nun noch der
Abdruck gerechnet wird, so impliziert dies folglich weder eine Abbildungsrelation noch die These eines Kausalverhältnisses zwischen der Darstellung
eines Dinges x und desselben Dinges x als relevanter Ursache der Darstellung. Dies ist beispielsweise bei einer überbelichteten Photographie der Fall,
die weder die Lichtquelle abbildet noch darstellt und doch Aufschluss über
die Situation ihrer Entstehung bietet. Der Abdruck lenkt den Blick auf die
Oberfläche.
139
IV. Bildung
Ein Bild ist eine Setzung. Es verknüpft heteronome Eigenschaften von Dingen in einer Situation und gibt damit, anders als andere Dinge, vor, wie es zu
betrachten ist, damit man es sieht. Indem es größere physische Aufmerksamkeit als andere visuelle Objekte, eine kultivierte Sorge der Annäherung und
eine trainierte Imagination stimuliert, sind Bilder sowohl leichter zugänglich
als auch schwieriger zu verstehen als andere kulturelle Artefakte. Je mehr man
über Bilder weiß, desto mehr erfährt man, dass man erst lernen muss, wie
man sie anzusehen hat. Ihre Physis zwingt uns dazu, die Dinge anders anzusehen, nämlich mehr als Potential und Reservoir denn als Funktionsgerät.
Sie erheben Anspruch auf eine Ethik des Blicks, die den Bedingungen ihrer
schieren Existenz nachspürt, um zu begreifen, dass wir Teil des Bildes sind,
wenn wir es ansehen.
Literatur
Böhme, Gernot. Theorie des Bildes, München 1999.
Brandt, Reinhard. Die Wirklichkeit des Bildes. Sehen und Erkennen – Vom
Spiegel zum Kunstbild, München 1999.
Cassirer, Ernst. Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 11, Hamburg 2001.
Didi-Huberman, Georges. Devant l’image, Paris 1990.
Geimer, Peter. «Was ist kein Bild? Zur ‹Zerstörung der Verweisung›». In:
Ders. (Hg.). Ordnungen der Sichtbarkeit, Franfurt a.M. 2002.
Goodman, Nelson. Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie,
Frankfurt a.M. 1995.
Hagner, Michael. «Hirnbilder. Cerebrale Repräsentationen im 19. und 20.
Jahrhundert». In: Michael Wetzel / Herta Wolf (Hg.). Vom Entzug der
Bilder, München 1994, S. 145–160.
Hagner, Michael. «Der Geist bei der Arbeit. Überlegungen zur Visualisierung
cerebraler Prozesse». In: Cornelius Borck (Hg.). Anatomien medizinischen
Wissens, Frankfurt a.M. 1996, S. 259–286.
140
Huber, Hans Dieter. Bild, Beobachter, Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft, Ostfildern 2004.
Husserl, Edmund. Logische Untersuchungen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Bd. 2/1, Tübingen 1913.
Husserl, Edmund. «Phantasie und Bildbewusstsein». In: Husserliana XXIII,
Den Haag 1980, S. 1–108.
Lazzarato, Maurizio. Videophilosophie, Berlin 2002.
Marin, Louis. Über das Kunstgespräch, Zürich / Berlin 2001.
Marin, Louis. Das Opake der Malerei. Zur Repräsentation im Quattrocento,
Zürich / Berlin 2005.
Sachs-Hombach, Klaus. Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer
allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 2003.
Scholz, Oliver R. Bild, Darstellung, Zeichen, Freiburg 2002.
Schulz, Martin. Ordnungen der Bilder, München 2005.
Schwemmer, Oswald. Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München 2005.
Seel, Martin. Ästhetik des Erscheinens, München 2000.
Wiesing, Lambert. Artifizielle Präsenz, Frankfurt a.M. 2005.
141
Bilderschwund.
Forschen mit optischen Datenquellen
Christoph Hoffmann
Vor einiger Zeit erhielt ich ein kleines Paket zugestellt. Der Inhalt: zehn
CD-ROMs und ein dickes Bündel Papier. Auf den Datenträgern waren
mehrere Stunden Videoaufzeichnungen aus verschiedenen biowissenschaftlichen Experimenten mit Insekten und Fischen gespeichert. Die beiliegenden
Papiere lieferten teils Beschreibungen des Versuchsaufbaus und Angaben
über die Forschungsziele, teils handelte es sich um Notizen und Protokolle
aus dem Versuchsbetrieb. Das vor mir ausgebreitete Material stellte nur einen
winzig kleinen Ausschnitt aus der Gesamtmenge von Aufzeichnungen dar,
die der Zürcher Künstler Hannes Rickli seit den 1990er Jahren aus verschiedenen biowissenschaftlichen Laboratorien zusammengetragen hatte; anfangs
noch aus Mülleimern, nachher über eine eigene Schnittstelle direkt von den
Forschungsservern. Hieraus entstanden eine Reihe von Installationen, die im
Herbst 2009 im Helmhaus in Zürich zu sehen waren, sowie ein großer Band,
in dem das Material aus verschiedenen Perspektiven diskutiert wurde.1
Auf den Inhalt des erwähnten Pakets werde ich später zurückkommen.
Für den Augenblick soll mir die geschilderte Szene nur gestatten, das Wort
«Bilderflut» aufzugreifen. Denn was sich auf meinen Schreibtisch ergossen hatte, war in der Tat eine Bilderflut. Dieses Paket war nicht zufällig
an mich adressiert. Hannes Rickli hatte mir im Rahmen seines Projekts
Videogramme die Aufgabe zugedacht, aus der Sicht der Wissenschaftsgeschichte einen Kommentar zu dem Material zu schreiben. Er hätte aber
im deutschsprachigen Raum ebenso gut ein Dutzend anderer Kolleginnen
und Kollegen um diesen Gefallen bitten können. Denn kaum etwas hat
in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte und -forschung mehr Konjunktur
1
Vgl. Rickli (2011).
143
gehabt, als die Beschäftigung mit den Bildwelten der Natur- und Lebenswissenschaften.
Skizze und Zeichnung, Diagramm, Graph, Holzschnitt und Lithografie,
Fotografie, Röntgenapparat, CT und MRT, Film, Nebelkammer, CCD-Sensoren, Computergrafik, alle diese Verfahren und zahllose andere sind in den
letzten dreißig Jahren ausgiebig in ihrem Einsatz im Forschungsprozess, in der
Darstellung von Forschungsergebnissen und bei der Popularisierung wissenschaftlichen Wissens untersucht worden.2 Die Bilderflut auf meinem Schreibtisch lässt sich so betrachtet metonymisch für die inzwischen kaum mehr übersehbare Zahl von Publikationen zu diesem Thema nehmen. Es spricht für sich,
dass Bruno Latours Aufsatz Drawing things together aus dem Jahr 1990 und
Lorraine Dastons und Peter Galisons Aufsatz The Image of Objectivity aus dem
Jahr 1992 zu den Texten gehören, die im Bereich der Wissenschaftsforschung
in den letzten zwanzig Jahren am häufigsten zitiert worden sind.3
Auf den ersten Blick ist dies das Ergebnis einer gewandelten Erkenntnisabsicht.4 Mitte der 1970er Jahre begannen einige aus der Soziologie und Philosophie versprengte Forscherinnen und Forscher damit, die Naturwissenschaften etwa so zu untersuchen wie die Ethnologie eine fremde Kultur. Man
bezog Posten in den Laboratorien, schaute den Akteuren bei ihren Experimenten und Messungen zu, befragte sie über ihre Verrichtungen und nahm
an den Meetings teil. Etwas Ähnliches geschah in der Wissenschaftsgeschichte, wo man nun die Studien nicht mehr allein aus der Bibliothek heraus
schrieb, sondern in die Archive eintauchte und aus den Hinterlassenschaften
des Experimentierens und Beobachtens Fallgeschichten der Forschungsarbeit
zusammensetzte. Diese Verschiebung ist unter einigen Formeln bekannt:
etwa praktische Wende, Science in Action, Investigative Pathways oder Eigenle2
3
4
Hier eine kleine, nicht repräsentative Auswahl aus der Literatur: Fyfe / Law (1988);
Lynch / Woolgar (1990); Le Grand (1990); Taylor / Blum (1991); Galison (1997); Jones
u.a. (1998); Heintz / Huber (2001); Hennig (2001); Geimer (2002); Gugerli / Orland
(2002); Dommann (2003); Francoeur / Segal (2004); Hinterwaldner / Buschhaus (2006);
Landecker (2006); Voss (2007); Bredekamp u.a. (2008); Burri (2008); Wittmann (2008);
Adelmann u.a. (2009); Wilder (2009); Nasim (2010).
Vgl. Latour (1990) und Daston / Galison (2002).
Vgl. hierfür Hagner (1997).
144
ben des Experiments. Dabei kamen unterschiedliche methodische und theoretische Konzepte ins Spiel, die sich aber in dem einen Punkt trafen, dass man
beabsichtigte, um eine weitere gern gebrauchte Wendung zu benutzen, die
black box Wissenschaft zu öffnen, die Wissenschaftswirklichkeit zu erfassen
und nach den Umständen und Bedingungen der Geltungskraft von Erkenntnissen am Ort ihrer Entstehung Ausschau zu halten.
Bei diesem Gang in die Praxis stellte sich heraus, dass ein ganz erheblicher
Teil der wissenschaftlichen Arbeit anscheinend darin bestand, alle möglichen
Arten von grafischen Aufzeichnungen zu erstellen und zu bearbeiten. Der
eben schon erwähnte Bruno Latour berichtet rückblickend über seine erste,
zusammen mit Steve Woolgar durchgeführte Studie Laboratory Life aus dem
Jahr 1979:
I was struck, in a study of a biology laboratory, by the way in
which many aspects of laboratory practice could be ordered by
looking not at the scientists’ brains (I was forbidden access!), at
the cognitive structures (nothing special), nor at the paradigms
(the same for thirty years), but at the transformation of rats and
chemicals into paper (...). Focusing on the literature, and the way
in which anything and everything was transformed into inscriptions, was not my bias, as I first thought, but was for what the
laboratory was made.5
Beobachtungen wie diese legen nahe, dass das große Interesse der neuer­en
Wissenschaftsforschung an allen möglichen Verfahren der Aufzeichnung –
die Latour letztlich im Sinn hat, wenn er von «Inskriptionen» spricht – einfach nur deren Bedeutung in der Wissenschaftspraxis widerspiegelt. Die
Bilderflut auf meinem Schreibtisch stünde demnach für den Normalbetrieb
der Forschung ein. Ins Grundsätzliche gewendet begegnet dieser Punkt bei
Hans-Jörg Rheinberger. In einem jüngst erschienenen Aufsatz bemerkt er
einleitend: «Es ist wohl nicht zu weit hergeholt, wenn man behauptet, dass
das Sichtbarmachen von etwas, das sich nicht von sich aus zeigt, das also
5
Latour (1990), 21f.
145
nicht unmittelbar evident ist und vor Augen liegt, den Grundriss und Grundgestus der modernen Wissenschaft überhaupt ausmacht».6 Inskriptionen als
das Ergebnis von Prozessen der Sichtbarmachung wären nach dieser Auffassung nicht etwas, das zum Forschungsprozess nur hinzutritt. Inskriptionen
wären vielmehr das erste Werkzeug des Forschens, unter dessen Gebrauch
Phänomene und Vorgänge im Labor oder im Feld als Objekte der Forschung
materiell verfügbar würden.
Es fällt auf, dass weder Latour noch Rheinberger von Bildern oder Abbildungen sprechen. Stattdessen tauchten zwei andere, nahestehende, aber
deutlich abgrenzbare Begrifflichkeiten auf: Zunächst war von Inskriptionen
die Rede, dann von Sichtbarmachung. Daraus folgt nicht, dass Latour und
Rheinberger Bilder, was auch immer damit im Besonderen bezeichnet wird,
aus ihren Überlegungen ausschliessen. Diese werden nur einfach einer grösseren Klasse von Objekten beziehungsweise Praktiken subsumiert. Inskriptionen können auch Bilder sein und Sichtbarmachung kann auch in Bildern
resultieren. Dennoch liegt man nicht ganz falsch, wenn man vermutet, dass
hier absichtlich ein Bogen um den Ausdruck «Bild» geschlagen wird. Warum
dies so ist, macht das folgende Statement deutlich: «Dort, wo es zur wissenschaftlichen Repräsentation kommt, sind wir also immer schon jenseits
des Bildes als Abbild».7 In diesem «immer schon» drückt sich unübersehbar
die sprachliche Geste der Dekonstruktion aus, mit der gerne liebgewonnene
Gewissheiten verabschiedet werden. Und es ist auch bereits der Begriff gefallen, der die verwaiste Stelle einnimmt: der Begriff der Repräsentation.
Die Gegenüberstellung von Repräsentation und Abbild deutet an, dass es
mit diesem Begriff in unserem Kontext eine besondere Bewandtnis hat. Das
eben zitierte Statement stammt aus einem Aufsatz Rheinbergers über Repräsentationen in der Molekularbiologie, dessen Titel in Anlehnung an Kleists
berühmte Formel aber ebenso gut auch lauten könnte: Über das allmähliche
Verfertigen von Wissenschaftsobjekten durch Verrichtungen des Repräsentierens.
Denn in der Forschungspraxis kommt Repräsentieren nach Rheinbergers
Ausführungen – und von dort weiter ausstrahlend auf das Feld der Wissen6
7
Rheinberger (2009), 127.
Rheinberger (1997), 271.
146
schaftsstudien – «dem Wirklichwerden einer Sache» gleich, in dem Sinne beispielsweise, in dem in der Chemie von der Darstellung eines Stoffes gesprochen wird.8 Geht man hiervon aus, dann ist klar, dass mit Repräsentation
nicht mehr herkömmlich ein Stellvertreterverhältnis bezeichnet wird, dass
man vielmehr mit Repräsentation ein Handeln meint, eine «repräsentati­onale
Aktivität», wie Michael Hagner das einmal genannt hat,9 in deren Ablauf
repräsentiertes und repräsentierendes Objekt ineinander verwickelt sind.
Bedient man sich im Forschungsprozess beispielsweise der Fotografie, dann
liegt deren Bedeutung nicht zuerst darin, einen Sachverhalt festzuhalten, vielmehr bildet sich dieser Sachverhalt erst im Fotografieren und wenigstens zum
Teil von den Bedingungen des Verfahrens gelenkt aus.10 Weiter zugespitzt
folgt daraus, dass mit Repräsentieren mehr noch als ein Werkzeug ein Exis­
tenzmodus heutiger Forschung bezeichnet wird. Eben dies war ja bereits in
Rheinbergers Feststellung angeklungen, dass Sichtbarmachen «den Grundriss und Grundgestus der modernen Wissenschaft überhaupt ausmacht».
Es ist sicher nicht zu viel gesagt, dass Repräsentation in den Wissenschaftsstudien einige Zeit ein Kampfbegriff gewesen ist. In Reaktion hierauf
hat der Wissenschaftsforscher Michael Lynch 1994 einen Aufsatz mit dem
schönen Titel Representation is Overrated publiziert; vielleicht nicht ganz
selbstironisch, denn vier Jahre früher, 1990, hatte Lynch den wegweisenden
Sammelband Representation in Scientific Practice mitherausgegeben. Lynchs
Argument bezieht sich nicht auf Visualisierungen, sondern auf sprachliche
Darstellungen und es lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass Sprache
im Kontext des Labors mindestens so sehr performativen wie beschreibenden
Charakter hat, dass Sprechen hier ebenso dabei hilft, Sachverhalte zu bewerkstelligen wie auszudrücken.11 Der Schlag ging allerdings etwas ins Leere, insofern unter Repräsentation in der Wissenschaftsforschung, zumindest wenn
man Rheinbergers Verständnis voraussetzte, ja gerade ein produktiver Prozess
begriffen wurde. Nichts an Aktualität verloren hat hingegen Lynchs Forderung, sich klarer zu machen, wovon jedes Mal die Rede ist, wenn wir von
8
9
10
11
Ebd., 266.
Hagner (1997), 338.
Vgl. am Beispiel der Forschungspraxis von Ernst Mach Hoffmann (2009).
Lynch (1994), 141–145.
147
Repräsentation sprechen.12 Selbst dann, wenn mit Repräsentieren explizit
nicht Abbilden, Vertreten, Wiedergeben gemeint ist, fällt hierunter immer
noch eine Menge ziemlich diverser Praktiken. Ein Stück Gewebe zu präparieren, die Struktur eines Biomoleküls mit Hilfe eines Grafikkits am Bildschirm
durchzuprobieren oder die Bahnen von Beta-Teilchen mit der Nebelkammer hervorzubringen, stützt sich jeweils nicht nur auf ganz unterschiedliche
Techniken, die damit verbundenen Tätigkeiten stehen auch für ein je anderes
«Wirklichwerden einer Sache» ein. Ich will aber nicht die Unterschiede im
Einzelnen durcharbeiten, sondern einen ganz bestimmten Punkt herausgreifen. Vielleicht nämlich wird die repräsentationale Aktivität, allerdings anders
als Lynch glaubte, in der Wissenschaftsforschung doch überschätzt.
Mir scheint, Latour hatte teilweise recht, wenn er, wie zitiert, für einen
Augenblick erwog, ob es nur sein bias sei, dass er alle Tätigkeiten im Labor
auf das Verfertigen von Inskriptionen zulaufen sah. Vermutlich ortete Latour
die Gefahr eines solchen bias darin, dass ihm als Philosophen und Anthropologen Prozesse der «Inskription» gewiss näher stehen als andere Elemente
der Laborarbeit, etwa der Umgang mit Ratten und Chemikalien. Ich meine hingegen, dass weniger die disziplinäre Herkunft als das übergeordnete
Erkenntnisinteresse den Fokus der Untersuchung möglicherweise beeinflusst
hat. Denn mit der Absicht, die Praxis zu erfassen, werden notwendig all jene
Aspekte der «Wissenschaftswirklichkeit» privilegiert, die Spuren hinterlassen
oder zumindest zur Sprache kommen und dann mittels Notizbuch und Tonband festgehalten werden können. Es liegt entsprechend auf der Hand, dass
mit dieser Parteinahme für alles sinnlich Erfassbare solche Forschungsoperationen ins Abseits geraten, die sich nicht in Inskriptionen manifestieren.
Wie ich nun an zwei Beispielen zeigen möchte, werfen diese «unsichtbaren»
Forschungsoperationen die Frage auf, ob man in Bezug auf sie noch von
repräsentationaler Aktivität sprechen kann. Die Tragweite dieser Frage dürfte
durch das bisher Gesagte hinreichend umrissen sein. Meine Beispiele haben
dabei den Vorteil, dass sie auf den ersten Blick geradezu den Eindruck von
Musterfällen repräsentationaler Aktivität machen. Hierin steckt aber, und
darin liegt der Vorteil dieser Beispiele, eine lehrreiche Verkennung.
12 Ebd., 148.
148
Ich kehre damit zurück zu der Bilderflut auf meinem Schreibtisch. Wie
bereits erwähnt war es meine Aufgabe, zu diesem Material einen Kommentar zu schreiben. Es handelte sich um eine Auftragsarbeit. Ich hatte mir den
Gegenstand nicht selbst ausgesucht, er war an mich herangetragen worden.
Ich erwähne dies, um klar zu machen, wie die Situation damals beschaffen war. Mich verband nichts mit dem Material außer einer Mischung aus
Neugierde und Ratlosigkeit. Als ich die CDs auf dem Videoplayer meines
Rechners durchklickte, verstand ich nicht, was ich sah, und die beiliegenden
Papiere halfen auch nicht weiter. Nur ansatzweise gelang es mir, die Informationen dort mit den Vorgängen auf meinem Bildschirm in Verbindung
zu setzen. Meine Antwort auf diese Situation war ziemlich schlicht. Ich legte
nach dem ersten Hineinpicken einen Großteil der CDs beiseite und konzentrierte mich auf ein einziges Experiment: Eine Untersuchung über akus­
tische Kommunikation bei Fischen. Hier sah ich das gesamte mir vorliegen­de
Video­material durch, machte mir Notizen und hielt alles fest, was ich für
bemerkenswert hielt. Wie sich wenig überraschend in der Diskussion mit
dem Leiter des betreffenden Forschungsprojekts herausstellte, waren die Vorgänge und Begebenheiten, die mir aufgefallen waren, für ihn in seiner Arbeit
eher Randmomente. Ich hatte also das Material mit den falschen Augen
angesehen. Gemeint ist damit zunächst, dass ich das Material nicht so ansah,
wie ein Mitglied der Forschungsgruppe. Mit Ludwik Fleck gesagt,13 war ich
nicht fähig, es im Denkstil eines Fischökologen zu analysieren. Ich habe es
aber auch nicht als Wissenschaftsforscher angeschaut, denn dafür fehlte mir
die innere Bindung, die selbst gewählte Forschungsfrage. Ich habe es letztlich
so angeschaut wie einen Dokumentarfilm im Fernsehen, in den man beim
Zappen hineingeraten ist und sich nun fragt, worum es hier geht.
Stellen Sie sich ein Becken vor: Grundriß 2 x 2 m, auf dem Boden liegen
einige Zylinder aus Ton, ein Wassereinlauf und ein Hydrofon, das unter die
Wasseroberfläche ragt (Abb. 1).14 Darin schwimmt ein Fisch, erst am Rand entlang, dann verkriecht er sich in einer der an beiden Enden offenen Tonröhren,
kommt wieder heraus, schwimmt zum Beckenrand, wieder an diesem entlang,
13 Vgl. Fleck (1980).
14 Vgl. für die Versuchsanordnung Rickli (2011), 175.
149
Abb. 1: Hydrofon (heller Punkt am Kabel, unten rechts), Sauerstoffausströmer
(unten links), zwei Lautsprecher (unten links, Mitte), Wasserzulauf (oben links),
div. Hohlziegel, Steine, zwei Infrarotleuchten (unten links, oben rechts). Screenshot,
Akus­tische Kommunikation bei der Trüsche Lota lota, Universität Konstanz, Aufnahmen und Kooperation Philipp Fischer © 2011 Philipp Fischer / Hannes Rickli.
dann stößt der Fisch mit einem Gegenstand im Becken zusammen, es gibt
ein Geräusch. Die Szene dauert etwa eine Minute. Man schaut sie sich ein
zweites und ein drittes Mal an, hält das Bild an, fährt langsam vor und zurück.
Offenkundig ist der Fisch mit dem Hydrofon kollidiert. Nun achtet man
vielleicht auch auf die Kameraposition und auf das Licht oder man fragt sich,
warum sich der Fisch fast immer am Rand des Beckens aufhält oder warum
das Becken so leer ist; keine Pflanze, kein anderer Fisch zu sehen. Wichtig ist
hieran aber nur, dass nichts von all diesen Überlegungen und Beobachtungen
für ein Mitglied der Forschungsgruppe, die mit diesen Aufzeichnungen arbeitet, von Bedeutung wäre. Erst mit der Zeit ist mir jedoch klar geworden, dass
150
es mit den «falschen Augen» noch viel weiter geht. Nicht nur mangelte es mir
an der Schulung, um die Videofilme «richtig» in Betracht zu ziehen. Das, was
ich getan hatte, dieses stundenlange Hinstarren, war auch nicht das, was die
Forscher mit dem Material machten oder zumindest machen würden, wenn
das Experiment endlich einmal ordentlich am Laufen wäre. Niemand im
Laboratorium würde sich das bis zu 24 Stunden am Tag über Wochen abgespeicherte Material vollständig, durchgängig anschauen – nicht weil dafür
keine Zeit wäre, das auch, sondern weil an dem Material nur Bruchteile von
Sekunden interessieren. So gab es auch in dem Ausschnitt, von dem ich eben
berichtet habe, gar nichts zu bemerken.
Aus der Art, wie ich mich zu dem Material verhalten habe, geht hervor,
dass ich doch nicht einfach als unbeleckter Ignorant hingeschaut habe, sondern in die Falle meiner Profession getappt bin. Ich habe die Videoaufzeichnungen vorbehaltlos für Zeugnisse repräsentationaler Aktivität genommen.
Dabei habe ich zunächst, dumm genug, nicht berücksichtigt, dass es in der
Untersuchung nicht um ein visuelles Phänomen geht, sondern um ein akustisches, um die sogenannten «Fischtöne» – einer wird als Tok-tok bezeichnet,
andere als Knurren, Quak und Knarren – und um die mögliche Funktion dieser Fischtöne als Kommunikationsträger. Im Mittelpunkt steht deshalb die
synchron zum Bild aufgezeichnete Tonspur. Aber auch diese wird keineswegs
komplett durchgehört, sondern vorab am Rechner auf interessante Frequenzmuster abgesucht. Erst wenn ein solches gefunden wird, kommt das Bild ins
Spiel. Zunächst wird nachgeschaut, welche Ursache das zum Frequenzmuster
gehörende Geräusch hat, ob es von den technischen Einrichtungen im und
um das Versuchsbecken herum herrührt, ob es unabsichtlich durch den Fisch
im Becken verursacht worden ist, wie in dem geschilderten Ausschnitt durch
den Zusammenstoss mit dem Mikrofon, oder ob es sich tatsächlich um einen
Fischton handelt. Die Sache ist aber noch komplizierter, da man auch nicht
weiß, welche der Geräusche, die der Fisch aktiv von sich gibt, Kommunikationsträger sind. Im Blick aufs Bild interessiert deshalb in den Fällen, in denen
das Geräusch vom Fisch stammt, weiter, ob gleichzeitig irgendeine Aktion
oder Reaktion des Fisches beobachtbar ist. Denn die Prämisse lautet, dass
Kommunikation und Verhalten bei Fischen ineinandergreifen, dass Fische
also nicht einfach absichtslos vor sich hin «blubbern» können.
151
Die Details dieses Identifizierungsprozesses spare ich heute aus.15 Meine
Aufmerksamkeit gilt einzig dem Umgang der Forschenden mit den primären
Video- und Audiodateien. Dass in dem vorliegenden Versuch so gewaltige
Mengen an Material entstehen, hängt mit drei Umständen zusammen: Die
Phänomene, die interessieren, sind selten, zwei bis drei Fischtöne pro Stunde
sind schon eine sehr gute Rate. Sie sind darüber hinaus (im Augenblick noch)
nicht vorhersagbar und ihre Produktion soll auch nicht durch Interventionen
der Forschenden angereizt werden. Es bleibt darum gar nichts anderes übrig,
als für jeden Beobachtungstag stundenlang Bild und Ton abzuspeichern. In
einer späteren Phase soll dieser Prozess aber erheblich ökonomischer ablaufen. Erstes Ziel der Versuche ist es, einen Akustikfilter zu programmieren, der
alle bis dahin identifizierten Fischtöne automatisch herausgreift.
In seinem Kern besteht dieser erste Schritt darin, das vorhandene Material in «wichtige» und «unwichtige» Vorgänge aufzutrennen und die als «wichtig» gekennzeichneten im weiteren als kleine gekoppelte akustisch-optische
Sequenzen dauerhaft zu speichern. Diese Aufgabe kann mit Hilfe von Ohren
und Augen bewerkstelligt werden. Wie die beabsichtigte Automatisierung
belegt, kann sie aber ebenso gut durch einen Algorithmus erfolgen, der Kamera, Mikrofon und Rechner in einen geschlossenen Zusammenhang bringt.
Die Möglichkeit, diesen Arbeitsschritt in eine programmierbare Routine zu
übersetzen, besagt zugleich etwas über die Funktion, die Augen und Ohren
in dem noch nicht automatisierten Procedere zukommt. Es geht an dieser
Stelle des Forschungsprozesses nicht um ein Sehen und Hören im starken
Sinne, um ein ausdauerndes «Hinhören» auf den übertragenen Ton und ein
intensives «Studium» der Videobilder, sondern um einen von wenigen Kriterien gesteuerten Prozess der Filterung und Verknüpfung von Signalen.
Der Punkt, der mich beschäftigt, wird an meinem zweiten Beispiel noch
deutlicher werden. Auch dieses Beispiel verdanke ich der Arbeit von Hannes
Rickli, es wird aber gleich verständlich werden, warum sich davon keine
Spur auf den eingangs erwähnten CDs fand. Das Forschungsunternehmen,
von dem zu berichten ist, lässt sich grob dem Bereich der Neuroinformatik
15 Vgl. Hoffmann (2011).
152
zuschlagen.16 Forschungsziel war es, die neurophysiologischen Grundlagen
der visuell-motorischen Steuerung der Flugbewegungen bei der Taufliege
(Drosophila melanogaster) aufzuklären und die biologischen Regelprinzipien
ingenieurstechnisch anzuwenden. Einen wichtigen Aspekt in dieser Untersuchung bildet die Sammlung von Daten über die Stellung der Flügel bei wechselnden Geschwindigkeiten. Diese Daten können auf verschiedenen Wegen
gewonnen werden, besonders gute, nämlich realistische, den natürlichen Verhältnissen nahekommende Daten gewinnt man dabei durch das sogenannte
Freiflug-Verfahren.
Mit freiem Flug hat dieses Verfahren freilich wenig zu tun. Für die
Untersuchung wird die Fliege in einen kleinen, ca. 1 Meter langen, 50 cm
hohen und breiten Windkanal gebracht, in dem eine leichte Gegenströmung
herrscht. Auf die Seitenflächen des Windkanals können, wie auf einer Filmleinwand, als künstlicher Horizont sogenannte Streifenmuster projiziert werden, die von der Fliege als eine Art visueller Geschwindigkeitsmesser verarbeitet werden. Abänderung der Streifenbreite, das heißt der Frequenz des
Hell-Dunkel-Wechsels, führt zu Abänderung der Fluggeschwindigkeit. Um
diesen Vorgang kontrolliert zu untersuchen, wird die Fliege in ihrem Flug
kontinuierlich von zwei Kameras verfolgt. Aus den optischen Signalen kann
die aktuelle Geschwindigkeit errechnet werden und in einer Schleife in Echtzeit der künstliche Horizont, also das «Fliegenkino» auf den Seitenwänden,
so verändert werden, dass die Fliege «gebremst» oder «beschleunigt» wird.
Gleichzeitig ist eine dritte hochauflösende Digitalkamera so ausgerichtet,
dass sie jeweils die Stellung der Flügel und den Neigungswinkel des Körpers
einfängt. Die Sache klingt in meiner Darstellung ziemlich simpel, in der Praxis behindern aber mannigfaltige Störquellen und limitierende Umstände die
Untersuchung. Schon eine kleine Staubflocke im Windkanal kann beispielsweise nicht nur die Fliege ablenken, sondern ebenso die beiden Kameras, die
die im Flug befindliche Fliege verfolgen bzw. tracken.
Für unseren Zusammenhang interessant an dieser Arbeit ist, dass das System vollkommen optisch organisiert ist, dass es vollkommen auf die visuelle
16 Vgl. für die Versuchsanordnung Rickli (2011), 157. Für Forschungsziele, Vorgehensweise
und erste Resultate siehe ausführlich Fry u.a. (2008).
153
Orientierung der Fliege abgestellt ist, dass auch der Flug der Fliege von den
Mitgliedern der Forschungsgruppe jederzeit visuell verfolgt werden kann,
dass aber niemals in dem ganzen Ablauf eine integrale Videoaufzeichnung
der im Flug befindlichen Fliege stattfindet. Die optischen Signale, welche die
zwei Videokameras des Tracking-Systems liefern, werden überhaupt nicht in
Bilder verwandelt und sie werden auch nicht aufgezeichnet, sie laufen einfach durch den Rechner, der das «Fliegenkino» steuert, durch. Das von der
dritten, hochauflösenden Kamera übertragene Signal, wird zwar aufgezeichnet, aber auch hier entsteht niemals ein Bild im Ganzen. Es wird auch keine
kurze, aber zusammenhängende Sequenz aus dem Zeit-Raum-Kontinuum
herausgegriffen wie im Falle des Fischsettings, vielmehr werden aus dem
ganzen übertragenen optischen Signal nur einzelne interessante Segmente,
einzelne Pixel festgehalten, die auch nicht visuell inspiziert werden, sondern
wiederum die Grundlage für einen rechnergesteuerten Auswerteprozess bilden, an dessen Ende numerische Daten zur Flügelstellung und zur Fluglage
der Fliege stehen.
Nun ist klar, warum auf den CDs kein Material aus dieser Untersuchung
zu finden war: Es gibt keine Aufzeichnungen aus dem Experimentalbetrieb,
die sich «anschauen» lassen, es gibt nur einige Abfälle aus Tests mit der Versuchsanordnung. Wir sind hier mit einer Weise des Forschens konfrontiert,
die sich in wichtigen Teilen unsichtbar abspielt. Das heißt nicht, dass die
untersuchten Phänomene für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar sind.
Selbstverständlich könnte man sich Flügelstellung und Fluglage der Fliege in
Slow-Motion auf einem Videomonitor ansehen. Gemeint ist vielmehr, dass
dieser Teilschritt des Forschungsvorgangs nicht auf Sicht gestellt ist, sondern,
wie schon am Fischsetting vermerkt, in einem geschlossenen System zwischen Apparaturen stattfindet. Gegenüber dem Fischsetting kommt dabei
noch hinzu, dass die Verarbeitung der optisch detektierten Signale nur teilweise auf ihre weitere, dauerhafte Fixierung abzielt, teilweise aber der Selbststeuerung der Versuchsanordnung dient.
Etwas Ähnliches lässt sich in der heutigen auf bildgebende Verfahren
gestützten Radioonkologie bemerken. Die von den Detektoren des Computertomografen gelieferten Signale werden als Daten teilweise herkömmlich in Bilder umgesetzt, teils werden aber auf derselben Datenbasis The154
rapiepläne entworfen und auch umgesetzt.17 Zwar bewegen wir uns mit
der medizinischen Bildgebung nicht mehr im Kontext der Forschung, aber
der Grundzug ist derselbe. Daten, die auf der Auswertung (hier im weiteren Sinne) optisch detektierter Signale gründen, gewinnen nicht notwendig
noch als visuell erfahrbare Darstellungen Präsenz. Diese Spannung zwischen
einer geradezu unermesslichen Zahl von Bildern, die von optisch basierten
Settings potentiell generiert werden, und dem Umstand, dass davon häufig nur noch Bruchteile gespeichert und in Betracht gezogen werden, gilt es
zu würdigen. Die Bilderflut auf meinem Schreibtisch könnte man deshalb,
zugespitzt gesagt, auch als letzte Regung einer gerade untergehenden Epoche des bildbasierten Forschens verstehen. Sie lässt uns glauben, es käme im
Forschungsprozess weiterhin auf das Bild an, während dessen Rolle für die
Gewinnung von Erkenntnissen schon erheblich im Schwinden begriffen ist.
Die Formel: Images scatter into data, data gather into images, auf die Peter
Galison vor einigen Jahren das Verhältnis von Daten und Bildern im wissenschaftlichen Alltag des digitalen Zeitalters gebracht hat, beschreibt unter
Umständen nur eine vorübergehende Situation auf dem Durchgang zu einer
Forschungspraxis, die wesentlich stärker darauf ausgerichtet ist, Daten mit
Daten zu verknüpfen und aus Daten neue Daten zu gewinnen.18 So pauschal
wäre das aber nicht richtig. Abgesehen von den Unterschieden in einzelnen
Bereichen der Wissenschaften verschwinden die Prozesse der Inskription,
der Sichtbarmachung keinesfalls, sie tauchen jedoch erst an einem späteren
Punkt in der Kette der Forschungsoperationen auf. Im Falle des Fischsettings werden die archivierten Ausschnitte aus dem Rohmaterial sehr genau
auf charakteristische Muster von Geschehensabläufen untersucht. Im Falle
des Fliegensettings kehren grafische, auf das Sehen berechnete Inskriptionen
wieder, wenn die gespeicherten Daten über Flügelstellung und Fluglage in
quantitative Modelle umgesetzt werden, wenn also aus Zahlen mit Hilfe von
Werkzeugen wie Diagrammen Erkenntnisse hervorgebracht werden.
Dessen ungeachtet lässt sich festhalten, dass immer mehr Operationen
im Forschungsprozess ohne repräsentationale Zwischenschritte auskommen.
17 Vgl. Badakhshi (2006).
18 Galison (2002), 322. Zur Herausbildung einer «datengeleiteten Forschung» in der Molekularbiologie siehe Rheinberger (2007), 123f.
155
Man kann sogar sagen, dass es beim Speichern und Prozessieren von Daten
streng genommen nicht einmal zu einer Inskription kommt. Diese Feststellung klingt, zugegeben, kontraintuitiv, ist es doch üblicher Sprachgebrauch,
dass Daten «geschrieben» und «gelesen» werden. Mir scheint aber, dass in der
näheren Ausfüllung des Begriffs der Inskription eine Voraussetzung gemacht
wird, die in unserem Fall nicht erfüllt wird. Nach Latour fixieren Inskriptionen Aspekte des Forschungsobjekts und gestatten es, diese vom Ort der
Untersuchung abzulösen. Eine gute Inskription zeichnet sich dadurch aus,
dass sie zum immutable mobile taugt.19 Sie hält ein Forschungsobjekt fest
und kann gleichzeitig unbegrenzt zirkuliert werden. Ein Protokoll, ein Foto,
eine aufgezeichnete Kurve kann man an jedem beliebigen Ort hervorholen,
man kann sie als Belege anführen, man kann auf sie verweisen, statt das Forschungsobjekt in seiner ganzen Anordnung mit sich zu führen, man kann
diese Inskriptionen untereinander und mit anderen vergleichen, kombinieren usw. Dieses «man» ist aber niemand anderes als der Forscher oder die
Forscherin. Inskriptionen sind, wenn man so will, rezeptiv verfasst. Sie blühen auf und werden erst zu Inskriptionen, wenn ein paar Augen oder besser
mehrere Paare Augen sie in Betracht ziehen und mit ihnen etwas anstellen.
In diesem Sinne sind Daten, so lange sie im Speicher liegen, keine Inskriptionen, weil keine Interaktion mit einem menschlichen Akteur stattfindet.
Hier deutet sich zugleich eine Wendung meiner Beobachtung ins Allgemeine an. Es scheint so, dass repräsentationale Aktivität für Wissenschaftsgeschichte und -forschung die Beteiligung einer Forschungsperson voraussetzt.
Für Latours Begriff der Inskription ist dies eben gezeigt worden, für Rheinbergers Begriff der Sichtbarmachung braucht dies nicht größer ausgeführt
werden. Im Akzent auf Sichtbarkeit ist ein Forscher oder eine Forscherin, die
wahrnimmt, von vornherein in den Vorgang eingeschlossen; keine Sichtbarkeit ohne Hinsehen. Meine zwei Beispiele zeigen jedoch, dass (1) nicht jede
optisch basierte, auf Kameras oder bildgebende Verfahren gestützte Wissenschaftspraxis notwendig auf das Auge baut und damit zur Sache einer «visuellen Epistemik»20 wird. Und meine zwei Beispiele führen damit (2) auf ein
19 Latour (1990), 26.
20 Hässler / Mersch (2009), 10 und 13-18.
156
Dilemma. Denn nehme ich an, dass es zur repräsentationalen Aktivität einen
menschlichen Akteur braucht, der in die Hervorbringung einer Sache der
Forschung, ihrem «Wirklichwerden» verwickelt ist, dann fallen in meinen
Beispielen beachtliche Teile der Forschungsoperationen aus dieser Aktivität
heraus. Zugleich ist aber offensichtlich, dass diese Operationen – Korrelieren, Extrahieren, Speichern, Berechnen – die heute in der Wissenschaftsforschung gängige Bestimmung des Repräsentationsbegriffs als Formierung und
Begrenzung des Forschungsobjekts bestens erfüllen.
Es lässt sich nun einwenden, dass es sich hier um ein Scheinproblem
handelt: Dass die Operationen zwar ohne Beteiligung menschlicher Akteure
ablaufen, aber von diesen Akteuren geplant und durch die Anordnung der
Apparaturen und die Programmierung der ablaufenden Routinen geprägt
sind. Es lässt sich dann aber ebenso gut einwenden, dass diese Art der Beteiligung der Forschungsperson am Geschehen nicht recht gut mit dem Eindruck
in Deckung zu bringen ist, der uns von der Charakteristik repräsentationaler
Aktivität vermittelt wird. Obwohl man dem trivialen Abbildverständnis
von Repräsentation entkommen ist, obwohl, wenn von den Bildwelten der
Forschung gesprochen wird, sehr zurecht die operativen und performativen
Funktionen von Repräsentationen herausgestrichen werden, bleibt man beim
Verständnis der Rolle von Forschungspersonen in der repräsentationalen Aktivität in einer ziemlich konventionellen passiven, wahrnehmenden, betrachtenden Auffassung stecken. Und mehr noch: Man kann sich die Gesamtaktivität
«Repräsentation» gar nicht ohne diese Teilaktivität «Rezeption» vorstellen.
Wir können nun entweder diese Begrifflichkeiten auf unsere Beispiele
ausdehnen und davon sprechen, dass die von den Detektoren gelieferten
Signale vom Rechner nicht zu Daten verarbeitet, sondern als Daten rezipiert werden. Was die Frage aufwirft, ob Rechner wahrnehmen können, und
im nächsten Schritt, welche Seinsweise wir Rechnern zuordnen wollen. Wir
können die geschilderten Situationen des Forschens als Spezialfälle repräsentationaler Aktivität einkapseln oder wir nehmen hin, dass repräsentationale
Aktivität zwar weiterhin einen sehr wichtigen Vorgang, aber nicht mehr einen
umfassenden Grundzug heutiger Forschung bildet. Im letzten Fall müsste
man dann zwischen Repräsentationsarbeit einerseits und Datenarbeit andererseits unterscheiden, müsste neben Inskriptionen durch Sichtbarmachung
157
auch die Präskripte nicht sichtbarer Operationen studieren. Man müsste
nicht mehr (nur) über die Bildwelten der Forschung nachdenken, sondern
über Daten, nicht allgemein über Daten, sondern über Daten im Forschen:
Was definiert Daten, wie ist ihre Wirklichkeit beschaffen, wie werden Daten
gewonnen, was passiert beim Übergang vom Signal zum Datum, was beim
Übergang vom Datum zur Spur, zur Inskription? Zugang zu diesen Fragen zu
finden, ist nicht ganz einfach, denn anders als Visualisierungen, Bilder und
Inskriptionen, richten sich Daten nicht an uns. Ob eine Fotografie, ein Diagramm, eine Formel, eine Notiz, ein Präparat usw., sie sind auf ihre Rezeption angewiesen und auf diese Rezeption hin zugerichtet. Daten sind hingegen
selbstgenügsam. Sie kommen ohne unsere Teilnahme aus.
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160
Die Identität des Andern.
Henri Bergson und die Pariser Weltausstellung 1889
Beat Wyss
I. Der Raum als Irrtum
Wir brauchen keine Weltausstellungen mehr. Im Zeitalter von Fernsehen
und Internet ist der stets verfügbare Blick auf die «ganze Welt» zur banalen
Gewohnheit geworden. Doch wie überholt sie heute auch anmuten mögen,
die Weltausstellung als Institution eröffnete die erste performative Kulturtechnik, die versuchte, die kulturellen, ökonomischen, sozialen und poli­
tischen Erscheinungen der Globalisierung vor einer großen Öffentlichkeit
in Szene zu setzen. Wenn wir unter Globalisierung den weltweit unmittelbaren und gleichzeitigen Austausch von Information und Kommunikation
verstehen, so bildeten die Weltausstellungen den ersten Versuch, die Welt als
homogenen Ort der Erfahrung lesbar zu machen.
Ist der Abbau raumzeitlicher Distanz eine Errungenschaft des technischen Fortschritts? Hier möchte ich im Sinne der Mentalitätengeschichte eine
Gegenposition entwickeln zu einer mechanistischen Auffassung, wonach die
Technologie die Grundlage der Globalisierung sei. Die Auffassungen über die
Ausdehnung der Erde waren durch die Jahrtausende starken Schwankungen
ausgesetzt. Amerika wurde mehrmals «entdeckt» und auch wieder vergessen
von denen, die etwa im eurasischen Raum siedelten. Erst im Zeitalter von
Kolumbus bricht die Kenntnis von der Beschaffenheit der Erde nicht mehr
ab und gewinnt einen Umriss, den wir heute für selbstverständlich nehmen.
Man mag im Sinne einer mechanistischen Epistemologie betonen, dass
der Buchdruck und die Weltumseglungen im selben Zeitalter stattfanden.
In der Tat war die stetige Vermehrung des Wissens vom Erdball nur möglich, weil die Seefahrer, dank Johannes Gutenberg, die Entdeckungen ihrer
Vorgänger nachlesen konnten. Die koloniale Welteroberung erfolgte in einer
161
unerbittlichen Zangenbewegung zwischen Theorie und Praxis. Doch eine
vergleichende Kulturwissenschaft lehrt uns, dass technische Kenntnisse nicht
notwendigerweise in Herrschaftspraktiken übersetzt werden. China kannte
das Druckverfahren schon vor der ersten Jahrtausendwende christlicher Zeitrechnung, die Erfindung von Kompass und Schießpulver geschah wohl unabhängig und etwa gleichzeitig wie in Europa. Doch nur hier wurden gedruckte
Seekarten, Kompass und Schießgewehr zu Instrumenten der Welteroberung.
Zum technischen Wissen gehört immer auch ein Wille zur Macht. Nur in
Europa gab es den Anspruch, über den eigenen Kulturkreis hinaus zu greifen.
Selbst wenn Christoph Kolumbus Königin Isabella und König Ferdinand von
Spanien nicht hätte überzeugen können, die Expedition für einen Westweg
nach Indien zu finanzieren, es hätte eine andere Allianz sich ergeben, die zur
Entdeckung Amerikas führte. Der italienische Abenteurer bekam den Auftrag schon allein um die Möglichkeit auszuschließen, dass die französische
Krone mit einer Expedition erfolgreich zuvorkäme. Dass die Welt zu erobern
war, weil es sonst die anderen tun würden: dieser Wettbewerb um die Hegemonie unter den europäischen Großmächten war der Motor für den Prozess
der Globalisierung, in dessen Sog wir noch heute stehen.
Kurzum: Globalisierung beginnt da, wo das Wissen über die Beschaffenheit der Erde unumkehrbar wird und die Entfernungen in den gewohnheitsmäßig befahrenen Eroberungs-, Handels- und Kriegsrouten zu schrumpfen
beginnen. Im Kolonialismus des 19. Jahrhunderts fand die Globalisierung
ihren Höhepunkt. In dieser Zeit entwickelte sich auch das Bedürfnis, «die
ganze Welt» für die Massen darstellbar und erlebbar zu machen. Die technischen Möglichkeiten, welche die Weltausstellungen boten, mochten zwar
neu sein, ihre Semantik knüpfte aber an die longue durée von Inszenierungen,
wie wir sie auch heute noch bei internationalen Sportanlässen vor den Fernsehzuschauern beobachten können.
Abbildung 1 zeigt den Umzug der Vietnamesen an der Exposition Universelle von 1889. Die Landesvertreter einer Weltausstellung stellten sich dem
Publikum vor in typischer Tracht und musikalischer Begleitung. Das Ritual
des introitus zieht sich von römischen Triumphzügen über kirchliche Prozessionen bis zu den Eröffnungszeremonien Olympischer Spiele.
162
Abb. 1: Umzug der Vietnamesen an der Esplanade des Invalides, No. 621
Ein Unterschied bestand darin, dass es noch kein Fernsehen gab, um das
Ereignis den nicht Anwesenden in Bildern zu übertragen. Aber es gab die
Eisenbahn, welche die Besucher das Ereignis vor Ort erleben ließ. 32.250.297
Besucher kamen 1889 nach Paris. Mit 61.722 Ausstellern aus 54 Nationen
und 17 französischen Kolonien erwirtschaftete die gigantische Schau sogar
einen Nettogewinn von acht Millionen Francs für die damals noch junge
Republik Frankreich. Die Expo 1889 war getragen von einem ungebrochenen
Fortschrittsglauben und dem kolonialen Optimismus, mittels der modernen
Zivilisation weltweit die beste aller möglichen Welten zu schaffen.
Unter den deutschen Ausstellern war ein gewisser Carl Benz aus Karlsruhe, Ingenieur, der für seine Erfindung warb: einen dreirädrigen Wagen, der
«von selbst» fuhr, ein auto mobil. Es fand kaum Beachtung. Populär hingegen
war die neue Generation von Fahrrädern, deren Modelle sich der heutigen
Form annäherten. Der Star unter den Erfindern aber war Thomas Alva Edison
aus den USA. Neben dem Phonografen und dem dampfgetriebenen Elektrodynamo präsentierte er die Kohlefadenglühlampe, deren Verkauf inzwischen
1
Die folgenden Illustrationen stammen aus der Zeitschrift L’exposition de Paris 1889.
163
nach 120 Jahren aus Gründen des Umweltschutzes eingeschränkt wird. Überhaupt: Elektrizität war der «clou» der Expo Universelle 1889. Bis heute ist sie
die Bedingung der Möglichkeit aller gegenwärtigen Technologie. Elektrizität
ist eine Energie, für deren Ausbreitung mit Lichtgeschwindigkeit die raumzeitlichen Distanzen des Erdballs eine vernachlässigbare Größe darstellen.
Abb. 2: Edisons Phonograf in der Galerie des Machines, No. 39
164
Im Jahr jener Weltausstellung publiziert der dreißigjährige Henri Berg­
son sein Essai sur les données immédiates de la conscience. Die Zeit war reif für
diesen Gedanken. Sich die Welt als ein sensomotorisches Erlebnis vorzustellen, in der die Bewegung das Kommando übernimmt, während Raum und
Zeit als abstrakte Kategorien der Messbarkeit an Bedeutung verlieren. Die
Weltausstellung lässt sich verstehen als eine spektakuläre Erscheinungsform
des Bergsonianismus, denn sie ermöglichte die Vermittlung von Sinneswahrnehmungen, deren Quellen nicht, wie gewohnt, im raumzeitlichen Kontinuum des Wahrnehmenden standen.
Da gab es Edisons Phonografen, an dessen Stand Gedränge herrscht.
Zwei Herren warten geduldig, bis sie an der Reihe sind, ein Paar Kopfhörer
an die Ohren zu drücken, um, vorgebeugt, Geräuschen zu lauschen, die aus
einem Apparat kommen, den ein junger Operator bedient (Abb. 2). Wohin
blickt der Hörer, der etwas vernimmt, was nicht im Raum ist? Der Zeichner,
Paul Desteu, hat solche Menschen in der Galerie des Machines genau beobachtet. Sie scheinen ihre Umwelt zu vergessen und schauen irgendwie verzückt in
die Luft. Der wartende Herr mit Melone und Kurzmantel nimmt diese Haltung schon vorweg, wenn er selbstvergessen in sich hineinhört in Erwartung
des technischen Wunders: dass Musik an seine Ohrmuscheln pocht, die in
einer anderen Zeit und in einem ganz anderen Raum erzeugt worden ist. Das
Bild verzückter Expo-Besucher mit Kopfhörer erinnert mich an jene Zeit, gut
hundert Jahre später, als das Mobiltelefon aufkam. Ich lebte damals gerade in
Rom, wo der Umgang mit dem cellulare spektakuläre Formen annahm. Der
in aller Öffentlichkeit Telefonierende verwandelte sich in ein solipsistisches
Wesen, das in seinem eigenen Universum lebte, während es mitten auf der
Straße in sein winziges Gerät am Ohr hinein weinte, lachte und schrie. Die
Passanten, wenn nicht gerade auch mit ihrem telefonino beschäftigt, nahmen
von den Veitstänzern keine Notiz. Dass man Zustände der Verzückung in
der Römer Öffentlichkeit für normal hielt, konnte ich, der zurückhaltende
Schweizer, mir nur damit erklären, dass solche Szenen zwischen Erleuchtung
und Besessenheit hierorts schon auf barocken Altarbildern vorgelebt wurde.
Neben dem Fernhören gab es an der Expo auch schon Fernsehen avant
la lettre in Gestalt von Dioramen. Im Pavillon der französischen Forstverwaltung gab es drei illusionistisch beleuchtete Landschaftsbilder zu sehen.
165
Die Raumwirkung wurde dadurch verstärkt, dass der Besucher die Szene von
einer verdunkelten Rampe aus betrachtete. Den Zauber der black box hat
der Zeichner für das Journal de l’Exposition trefflich übersetzt, wenn er das
Interieur des Dioramas in die Außenfassade des Pavillons hineinmontiert
(Abb. 3). Die Damen in modisch eng geschnürten, reich drapierten Röcken,
mit Hüten, wie auch die Herren in ihren dunklen Straßenanzügen, sie alle
sind buchstäblich «ver-rückt», erscheinen vom Pariser Champ de Mars in ein
unwegsames Felssturzgebiet in den französischen Alpen versetzt, wo sie jetzt
die Befestigungsarbeiten auf der Aussichtskanzel bequem studieren können.
Den Flaneuren an der Pariser Weltausstellung erteilt so moderne Ingenieurskunst eine Lektion in der Beherrschung von Wildnis.
Die neuen Reproduktionsmedien entstehen parallel zu einer philosophischen Erkenntnistheorie, welche die a priorischen Kategorien von Raum
und Zeit verabschiedet. Im Jahr der Weltausstellung 1889 unterzieht Bergson
die transzendentale Ästhetik Immanuel Kants einer Kritik. Mit ihr habe der
Philosoph aus Königsberg nichts anderes festgeschrieben als die Auffassung
des gewöhnlichen Bewusstseins, wonach der Raum eine Größe darstellt, die
unabhängig und isolierbar sei von den Dingen, die er umgibt. Dieses Raumbewusstsein unterscheide den Menschen vom Tier. Für einen erwachsenen
Lachs, der zur Vermehrung an die Laichstelle seiner Gattung zurückkehrt,
ohne den Weg zu kennen, gibt es ein sensomotorisches Sich-Bewegen im
Raum, das ohne Maß und Zahl auskommt.
Ein Körper bewegt sich von einer Position zur anderen im Rahmen einer
Dauer (durée), die nur für den Betrachter von außen als räumliche Abfolge erscheint. Im Körper selbst erlebt sich Bewegung als mentale Synthese,
als psychischer Prozess ohne Ausdehnung.2 Nachmessen lässt sich nicht die
Bewegung, sondern nur deren Positionen im Raum. Bergson unterscheidet
so eine homogene und eine heterogene Seite der Bewegung: Homogen ist der
durchlaufene Raum, der sich als messbare Quantität darstellen lässt, heterogen hingegen der Akt des Durchlaufens, der reine Intensität ist, eine Qualität,
der nur im Bewusstsein Wirklichkeit zukommt. Da man an einer Bewegung
nur deren Positionen im durchlaufenen Raum nachmessen kann, misst die
2
«un processus psychique et par suite inétendu», siehe Bergson (1927), 82.
166
klassische Mechanik im Grunde immer nur Stadien der Bewegungslosigkeit.
In diesem Sinne drücken algebraische Gleichungen einen fait accompli, ein
erzieltes Resultat aus.
Zu diesen «erreurs de l’associationisme»3 sollte Bergson später auch den
Film zählen. Das neue Medium, das um die Jahrhundertwende die Massen mit
Abb. 3: Pavillon der französischen Forstverwaltung, No. 37
3
Ebd., 100.
167
scheinbar bewegten Bildern verblüfft, lässt eigentlich das Wesen der Bewegung verkennen, weil diese in der Tat immer schon in Positionen zerlegt ist.
Sie besteht zunächst aus 18, dann aus 24 unbewegten Phasenbildern, die
pro Sekunde auf Leinwand projiziert werden. In seiner Schrift L’évolution
créatrice von 1907 unterscheidet Bergson zwischen realer Bewegung bei konkreter Dauer und unbeweglichen Schnitten plus abstrakter Zeit und gibt
dieser den Namen «illusion cinématographique». Gilles Deleuze hat später
Bergsons Konzept der durée zu einer dekonstruktiven Filmtheorie ausgebaut.
Die kinematografische Illusion bezeichnet ein anthropologisches Bedürfnis
des Menschen, sich durch Bilder täuschen zu lassen. «Soll das heißen, dass –
Bergson zufolge – der Film lediglich die Projektion, die Reproduktion einer
konstanten, universellen Illusion ist? Dass man immer schon gefilmt hat,
ohne es zu wissen?»4 Diese Vermutung von Deleuze eröffnet die Kritik einer
mechanistischen Theorie, wonach eingleisig immer nur das Medium das
Bewusstsein bestimme.
In Bergsons Denken verkehrt sich die Auffassung von der Realität. Real
ist nicht die messbare Raumzeit, sondern die inkommensurable Intensität von
Abb. 4: Eine Spazierfahrt im fauteuil roulant, No. 36
4
Deleuze (1989), 14.
168
Dauer. Begriffe und Zahlen überspielen geradezu das unmittelbare, das
le­ben­dige Bewusstsein pseudomorph mit ihren abstrakten Formeln.5 Die
reale Dauer ist reine psychische Intensität. Soll diese etwa in Gestalt eines
Kunstwerks ausgedrückt werden, unterlegt man ihr unwillkürlich die Idee
von Raum und Zeit.6 Homogener Raum und heterogene Dauer werden
erlebbar in der Erfahrung der Simultaneität, die Bergson als «intersection du
temps avec l’espace» definiert. Simultaneität ist, wie die Bewegung, «le symbole vivant d’une durée en apparance homogène».7
Ein Vergnügen, speziell den Damen empfohlen, war es, zwischen vier
und fünf Uhr abends, zur happy hour, sich auf einem der fauteuils roulants
durchs Gewühl fahren zu lassen (Abb. 4). Hier wurde aus der Bewegung der
Reibungsverlust durch körperliche Anstrengung herausgefiltert, sodass sich
der Beobachter ganz dem sensomotorischen Strom des Wahrnehmens überlassen konnte. Ein Menschenalter bevor der Fernseher erfunden wird, gab es
dieses Bedürfnis, im Lehnstuhl durch die Welt zu zappen, die, auf Zeit zwar
nur, an einem Ort, in Paris, stattfand. Der Expobesucher ist ein solipsistisches
Sinnenwesen in Bewegung, das simultan Couscous aus Algerien schmecken,
den Fellmantel eines Lappländers betasten, Indische Gongs hören, das Ozon
einer elektrischen Entladung riechen und Samoanerinnen tanzen sehen kann.
II. Das kulturelle Siegelstadium
Die Exposition Universelle bildete den utopischen Vorschein einer Welt jenseits der riesigen Distanzen, die den Erdball geografisch voller natürlicher
Hindernisse erscheinen lassen. Damit komme ich zur Hypothese zurück, wo­‑
5
6
7
Vgl. Bergson (1927), 98.
Vgl. ebd., 79: «La vraie durée, celle que la conscience perçoit, devrait donc être rangée parmi les grandeurs dites intensives, si toutefois les intensités pouvaient s’appeler des
grandeurs; à vrai dire, ce n’est pas une quantité, et dès qu’on essaie de la mesurer, on
lui substitue inconsciemment de l’espace». Der Lebensphilosoph versäumt aber nicht zu
bemerken, dass die Begriffe Raum und Zeit überschattet seien von der «Erbsünde» des
Messens («entachés d’un vice originel»), siehe ebd., 91.
Ebd., 82.
169
Abb. 5: Die Eseltreiber an der rue du Caire, No. 24
nach die Abschaffung der physischen Distanz nicht Nähe bringt, sondern die
unmittelbare Wahrnehmung von Fremdheit verdichtet. Am Nullpunkt der
Distanz beginnt die Differenz.
Urzelle des Exotismus an den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts
waren die sogenannten ethnologischen Dörfer. In Paris hießen sie seit 1878
rue du Caire und erfreuten sich großer Beliebtheit als Vergnügungszentrum
(Abb. 5). Hier gab es Kaffeetrinken für die Damen, Bauchtänze für die Herren,
Kamelreiten für Kinder. Hier fand der Besucher bestätigt, was er sich unter der
großen weiten Welt immer schon vorgestellt hatte. Bis zu 1.000 Angestellte
arbeiteten in der «Straße von Kairo», einer Kulissenstadt mit dem maurischen
Charme, den wir heute noch in den Bauten des Club Méditerrané antreffen.
Wie schon erwähnt, wird im Prozess der Globalisierung räumliche
Distanz abgebaut und dabei kulturelle Differenz freigelegt. Wie gehen die
Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert damit um? Im Gegensatz zu einer
postkolonialen Theorie, die eher statisch zwischen Tätern und Opfern unterscheidet, möchte ich zeigen, dass sich selbst die Kultur der europäischen
Kolonialstaaten einer allmählichen «Kreolisierung» unterzieht. Ursprünglich
170
Abb. 6: Eingang zur Weltausstellung am Quai d’Orsay, No. 13
geprägt zur Beschreibung kultureller Phänomene in den Kolonien Portugals
von Cap Verde, Guinea-Bissau, Angola bis Brasilien und Guyana, wird der
Begriff in den letzten Jahren auch angewandt für die Beschreibung postkolonialer Mischkulturen überhaupt. Ich möchte ihn noch weiter ausdehnen
und erklären, dass Kreolisierung ein Prozess ist, der auch die Kulturen AltEuropas erfasst hat. Globalisierung ist ein dialektischer Prozess, der mit der
Verwestlichung der Welt zugleich eine Orientalisierung des Westens hervorbringt.
171
Das Portal beim Quai d’Orsay, das aussieht wie eine fantastische Mischung
aus laotischer Pagode und Portal für ein Elefantengehege, ist nichts anderes
als der Haupteingang zu jener Weltausstellung 1889, die dem hundertsten
Geburtstag der Französischen Revolution und dem Triumph des technischen
Fortschritts huldigte (Abb. 6).
Es gibt, mit Hegel gesprochen, eine List postkolonialer Vernunft. Die
Kolonisierung der Welt dringt spätestens im 19. Jahrhundert in die kulturelle
Identität der Kolonisten ein. Die Weltausstellungen bilden das Laboratorium
einer allmählichen Subversion von selbsternannter Hochkultur und Primitivität. Die Riesenspektakel waren angelegt als Leistungsschau der Kolonialmächte, die neben den Errungenschaften des technischen Fortschritts als
Kontrast die kolonisierten Untertanen in landesüblichen Behausungen beim
Maisstampfen, Holzschnitzen und Tanzen vorführten. Der Eiffelturm bot
ein Sinnbild für die Überlegenheit Europas über die schäbigen Negerhütten
der Kanaken und Senegalesen, die bei der Esplanade des Invalides aufgebaut
waren. Den Völkern, deren Leistung es im Lauf der Geschichte nicht über ein
Strohdach hinausgebracht hatte, konnte nichts Besseres geschehen, als von
der fortschreitenden Menschheit bevormundet zu werden.
Abbildung 7 zeigt nicht etwa den Palast eines fernöstlichen Märchenprinzen, sondern den Pavillon für Kinder, wo die Eltern ihren Nachwuchs
während der Ausstellung betreuen lassen konnten. Hier gab es auch eine Ausstellung zur Geschichte der Erziehung, mithin ein durchaus ernsthaftes und
gerade in Frankreich auch ein katholisches Thema. Dem heiter-hybriden Bau
ist das nicht mehr anzusehen.
In diesem Zusammenhang muss vom kulturellen Spiegelstadium gesprochen werden. Das Spiegelstadium nach Jacques Lacan8 beschreibt die Selbstwahrnehmung eines Kleinkinds zwischen sechs und achtzehn Monaten über
die Identifikation eines Gegenübers als Gestalt, entsprechend zur eigenen
Erscheinung. Sie entspricht der Wahrnehmung seines Spiegelbildes. Zum
ersten Mal erlebt sich das Kleinkind, noch bevor es vor seinem Ebenbild aufrecht stehen, geschweige denn, bevor es «Ich» sagen kann, die Einheit seines
Körpers im Anderen. Die Koordination seiner Gestalt als äußeres Erschei‑
8
Vgl. Lacan (1949), 1–7.
172
Abb. 7: Kinderpalast und Theater der Weltausstellung, No. 23
nungsbild geht der inneren Koordinierung der Glieder voraus. Das Kleinkind
macht sich im Spiegelstadium jenes erblickte Alter Ego zum ersten Ideal-Ich,
mit dem es sich narzisstisch identifiziert.
Entscheidend ist der «imaginäre» Charakter der Identifikation. Den
Ursprung vom Ich vertritt ein Imago. Über das Bild meiner selbst, sei es im
Spiegel, sei es in meinem Gegenüber, einem Andern, stellt sich eine analoge
Beziehung her zwischen Organismus und Gegenstand, zwischen innerer und
äußerer Wahrnehmung, zwischen «Innenwelt» und «Umwelt». Im Spiegelbild entdecke ich mein Inneres als Gegenstand.9 Dieser Gedanke ist geeignet,
vom individuellen auf den kollektiv-kulturellen Prozess der kulturellen Identität übertragen zu werden. Es würde hier zu weit führen, die ethischen und
politischen Dimensionen einer Konstruktion des Anderen fortzuspinnen wie
es Frantz Fanon in Les damnés de la terre (1961), Jean-Paul Sartre in L’être et le
néant (1944) und Emmanuel Levinas in Le temps et l’autre (1946) vorgedacht
haben.
Es gelte die These: Die interkulturelle Begegnung ist ein Spiegel, der
mich als Innenwelt in den Kontext der Umwelt versetzt. Auch in diesem
9
Ebd., 4: «Thus, to break out of the circle of the ‹Innenwelt› into the ‹Umwelt› generates
the inexhaustible quadrature of the ego’s verifications».
173
Sinne hat Henri Bergson vorgedacht, wenn er von einer doppelten Wahrnehmung der Welt spricht. Es gibt einerseits die von innen heraus erlebte durée
und andererseits die Erfahrung meiner Selbst als Körper im Raum, gespiegelt
durch meine Umwelt, durch die Anderen. Die Anderen im Raum, die ich
wahrnehme, bilden «une multiplicité distincte».10 Somit zeigt sich das Leben
immer doppelt: im direkten inneren Erleben und als Spiegelung durch meine
Umwelt.11 «Ainsi se forme un second moi qui recouvre le premier».12 Das
erste Ich ist dieses umittelbare Selbst, das seine Dauer erlebt, während jenes
zweite Ich mir von den Anderen im Raum her zurückgespiegelt wird. Aus
einem «Selbst» («même») wird ein «Anderer» («autre»).13 Ich werde mir selber ein Anderer, während ich mich als einen wahrnehme, der sich im Raum
bewegt. Schon Bergson entwickelt also einen Gedanken, der mit Rimbauds
berühmtem Satz «Je suis un autre» Karriere machen sollte: Lacan hat ihn
aufgenommen, wenn er betont: «Le je n’est pas le moi».
Im Spiegelstadium kommt es zu einer Ich-Spaltung zwischen je und moi.
Das je (je spéculaire) entspricht dem sozialen Ich, dem kontrolliert-kontrollierenden, dem Ich als Maske der Persona, durch die ich erfahre, wie ich selber
von anderen gesehen werde. Im moi (moi idéal) identifiziert sich das Je mit
dem Größen-Selbst, dem, was Freud «Ideal-Ich» nennt. Dieses moi ist zwar
im je spéculaire bereits angelegt, stellt aber eine «sekundäre Identifikation»
dar, eine narzisstische Identifikation des je spéculaire mit seinem Ideal, das
unerreichbar bleibt.14 Das Ideal-Ich ist ein Bild, das vom Anderen her gespiegelt erscheint. Dieses Imago, dem ich mich anzunähern versuche, liegt, wie
der Andere selber, außerhalb meines eigenen Körpers.
Ein Akt des Spiegelstadiums ist die symbolische Einverleibung des Andern,
was ich «kulturellen Kannibalismus» nenne. Dies beginnt in seiner wörtlichen
Bedeutung; der Einverleibung des Andern durch Konsum. Die Gastronomie
10 Bergson (1927), 89. Es gibt dabei eine doppelte «multiplicité»: eine in der «temps-qualité
où il se produit, ou dans le temps-quantité où il se projette». Siehe ebd., 96.
11 Vgl. ebd., 102: «La vie consciente se présente sous un double aspect, selon qu’on l’aperçoit
directement ou par réfraction à travers l’espace».
12 Ebd., 103.
13 Ebd., 90.
14 Siehe dazu Evans (1996), 139–143 .
174
Abb. 8: Imbissbuden am Quai d’Orsay, No. 42
erzielte an den Weltausstellungen die größten Gewinne; Imbissbuden mit Landesspezialitäten waren die populärsten Treffpunkte. Exotisch essen: Das ist eine
zivilisierte Form, die Kultur des Andern zu kannibalisieren. Weltläufig sein
heißt: einen starken Magen haben, während über den Provinzler das Sprichwort geht: «Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht».
Abbildung 8 versetzt uns in die Gegend des Spanischen Pavillons: Hier
werden herzhafte Tapas unter der Allee des Quai d’Orsay gereicht, während ein
vietnamesischer Rischka-Fahrer im Hintergrund für multikulturelles Kolorit
sorgt. Im Essen wird die Distanz zur Welt physisch überwunden. Körperhafte
Dinge im Raum verschwinden in mir. Das Essen in Gemeinschaft ist ein
Ritual, das ein Sich-Näherkommen begleitet. Seien es Geschäftspartner, seien
es Liebende: Übereinkünfte werden mit einem guten Essen besiegelt. Diese
Kulturtechnik gehört zu den anthropologischen Konstanten, die weltweit
von allen Menschen sofort verstanden werden.
Spanien war überhaupt nur mit einem Degustationstempel vertreten
an jener denkwürdigen Weltausstellung 1889, an der schon die Jahreszahl
verdächtig war. In der Tat feierte die junge Republik Frankreich den hundertsten Geburtstag der Französischen Revolution. Kein Wunder, dass die
europäischen Monarchen die Veranstaltung boykottierten. Dies hatte für
175
die Ausstellung einen durchaus globalisierenden Effekt: Es dominierten die
Staaten und Kolonien jenseits von Europa. Queen Victoria ging dagegen
soweit, ihren Diplomaten, Lord Lytton, am Tag der Eröffnung zurückzurufen. Spanien war also in bester Gesellschaft, wenn es neben dem Deutschen
Reich, Österreich-Ungarn, Belgien, Luxemburg, Monaco, Holland und Portugal nur mit einem inoffiziellen Pavillon für gastronomische Produkte vertreten war.
Im Innern des Fresstempels herrschte die Rhetorik der abundancia. Wie
keine andere Nation ruht die spanische Warenästhetik auf barocker, ja gegenreformatorischer Grundlage. Während andere Länder ihre Produkte protes­
tantisch-puristisch zurecht legen, liegen hier Trophäen von Weinflaschen,
Schinkenbergen, Eingemachtem in bauchigen Töpfen, als wäre alles von der
Allegorie der Fortuna direkt aus dem Füllhorn geschüttet worden.
Eine architekturgeschichtliche Lektion in Sachen Stil-Kannibalismus
lässt sich an der Fassade des spanischen Nahrungsmittelpavillons ableiten.
Zitiert werden Zierformen der mudayyan, der «Unterworfenen», der steuerpflichtigen Araber in den christlichen Gebieten der iberischen Halbinsel.
Flach wie ein Teppich breiten sich die abstrakten Zierformen über der Fassade aus, die Komposition des unendlichen Rapports herrscht vor und findet
im Stalaktitenfries in der Dachzone einen krönenden Abschluss. Der Farbwechsel erinnert an die Alhambra, farbig leuchtende Fayencen durchsetzten
die Außenhaut der Fassade wie Edelsteine. Doch unwillkürlich verrät sich das
Herrschaftsverhältnis in dieser neo-morisken Architektur. Die Ziegelmauer,
jene von den Arabern erlernte Bautechnik, beschränkt sich auf das Untergeschoß. Die belle étage adelt abendländische Neugotik in Form von zweilanzettigen Maßwerkfenstern, während das moriske Motiv des Vielpasses in der
Zwerggalerie ins nämliche Untergeschoß verbannt ist. Diese historistische
Architektur hat den kolonialen Akt der reconquista semantisch verinnerlicht.
Die Kannibalisierung einer Fremdkultur findet seinen Abschluss, wenn das
unterworfene Andere als das Eigene ausgegeben wird. Maurische Vergangenheit ist dann altspanische Tradition geworden.
176
Abb. 9: Paul Gauguin, Krug in Form eines Selbstporträts, 188915
Kannibalisierung beschränkt sich nicht auf konventionelle Stilmaskeraden. Die Kunst der Avantgarde verfährt in gleicher Weise. Im Winter 1889,
die Exposition Universelle hatte eben ihre Pforten geschlossen, modellierte
Paul Gauguin ein Selbstporträt in Form eines Trinkgefäßes (Abb. 9). Das
Abbild seines Kopfs erscheint als Opferschale für einen unbekannten Kult.
Angeregt wurde die sonderbare Form durch Erinnerungen an seine Kindheit,
die er mit der Familie in Peru verbracht hatte. Seine Mutter sammelte präkolumbianische Keramik, darunter Kopfgefäße der Mochita-Indios. Die nar15 Peru, Peabody Museum, Harvard University.
177
zisstische Identifikation mit dem Andern im kulturellen Spiegelstadium zeigt
viele Facetten, die wir in der gebotenen Kürze nicht beschreiben können.
Eine davon vollzieht sich in Gauguins Werk: Die Existenz des Andern macht
mir bewusst, dass auch ich ein Anderer bin. Zwei Jahre nach der Expo reiste
der Maler nach Tahiti, um der Exotik der schönen Mädchen nachzureisen,
die in jener Metropole der Spektakel aus vergänglichen Kulissen gearbeitet
hatten. Was die Kunst betrifft, so zeitigte diese örtliche Verschiebung, getrieben von einem imaginären Wunsch, eine erneuernde Wirkung. Was das Privatleben des Künstlers betrifft, so fielen dessen Erfahrungen ernüchternd aus.
Das Ideal-Ich lässt sich in keinem Abenteuer, so real es auch sei, je erhaschen.
Literatur
Bergson, Henri. Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1927.
Deleuze, Gilles. Das Bewegungs-Bild, Kino 1, Frankfurt a.M. 1989.
Evans, Dylan. An introductory dictionary of Lacanian psychoanalysis, London
1996.
Lacan, Jacques. «The mirror stage as formative of the function of the I
(1949)». In: Ders. Écrits. A selection, Paris 1977, S. 1–7.
178
Mediale Konfigurierung eines Ereignisses.
Der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York
am 11. September 2001
Dietrich Erben
Es gehörte zum Konsens in der politikwissenschaftlichen Forschung, dass der
Terrorismus eine «Kommunikationsstrategie»1 sei. Diese Überzeugung wird
zum Schlagwort mit dem viel zitierten Satz von Brian Jenkins, der als Terrorismusberater für die US-Regierung fungierte, wonach «Terroristen wollen,
dass viele Leute zuschauen, nicht, dass viele Leute sterben».2 Mochte diese
Formel denn überhaupt von analytischem Gehalt sein, so hat sie sich spätestens mit den Massenmorden als terroristischen Akten erledigt. Offensichtlich beruht das Verständnis vom Terrorismus als einer medial vermittelten,
symbolischen Gewalt auch auf der linguistischen und ikonischen Wende
in den ästhetischen und historischen Wissenschaften. Diese beruht – grob
gesagt – auf der Behauptung, dass sprachliche oder visuelle Kommunikation
ein geschlossenes Referenzsystem ist, hinter dem die wie auch immer geartete
historische Realität nicht mehr zu erreichen ist. Man muss dieser Zuspitzung
aber nicht folgen. Die Anschläge auf das Welthandelszentrum in New York
waren kein Bild, sondern eine Handlung höchst verschiedener Akteure. Sie
waren auch dann kein Bild, als wir als Fernsehzuschauer dem Töten beiwohnen konnten, und die Fernsehbilder die Gleichzeitigkeit von Geschehen und
Abbildung sicherstellten.
Auf der Faktizität des Attentats, die Medienwissenschaftler und Kunsthistoriker in bisweilen erschreckender Weise aus den Augen verloren haben,
1
2
Waldmann (1998), 13: Einleitende Definition: «Terrorismus, das gilt es festzuhalten, ist
primär Kommunikationsstrategie». Vgl. ebd. 48, 56ff., 191.
«Terrorists want a lot of people watching, not a lot of people dead»; Interview mit Brian
Jenkins 1988; www.lib.uci.edu/quest/index.php?page=jenkins.
179
Abb. 1: Das World Trade Center beim Anflug des zweiten Flugzeugs auf den Nordturm, TV-Stills
soll beharrt werden, wenn im Folgenden von der medialen Vermittlung
der Ereignisse vom 11. September 2001 die Rede ist. Dabei richtet sich das
Augenmerk nicht auf die Intentionen der Attentäter und damit auch nicht
auf deren Absicht, eine globale Medienöffentlichkeit zu erreichen. Es geht
um die unmittelbaren Folgen der Attentate auf der Ebene der Bildlichkeit,
das heißt um Bildentwürfe als Teil des Umgangs der US-amerikanischen
Gesellschaft mit dem Terrorismus. Das Interesse gilt dem Prozess, in dem
sich das Geschehen des Attentats zu einem historischen Ereignis konfigurierte, und der Frage, in welcher Weise dieser Prozess als gesellschaftliche
Konsensbildung aufzufassen ist. Damit sind im Grunde auch die inhaltlichen
und methodischen Akzente der folgenden Überlegungen angedeutet. Unter
medialer Konfigurierung verstehe ich – in Analogie zur Computersprache –
einen Vorgang der Systemanpassung: Die Bilder, die das New Yorker Attentat
am 11. September 2001 hervorbrachte und die seither produziert wurden,
um das Ereignis bildlich zu repräsentieren, wurden in Medien und Politik
schrittweise mit einem Kommentarrahmen versehen, indem sie konventio-
180
nellen Bilderfahrungen und Verständnisgewohnheiten angepasst wurden.3
Man hat sie damit aber auch auf politische Interessen einjustiert und zu
Bildakteuren aufgewertet. Dabei wurden sie auf der einen Seite der bloßen
alltäglichen Vorgänglichkeit enthoben und sie dienten dazu, das Geschehen vom 11. September als historisches Ereignis zu konstituieren. Auf der
anderen Seite wurde das Ereignis durch Bilder mit historischen Vergleichen
angereichert, um das Ereignis selbst verstehbar zu machen und um daraus
Handlungsoptionen für die Zukunft zu begründen.
I. Die Rekapitulation der Vorgänge und die Bildpolitik
Die Betrachtung der aus einer Filmsequenz geschnittenen Fotos erzeugt
beim Betrachter den Reflex, die Bilder gemäß der eigenen Erinnerung zum
Geschehensablauf zu komplettieren (Abb. 1). Nachdem das erste von den
Selbstmordattentätern entführte Flugzeug um 8.46 Uhr Ortszeit in den
nördlichen Turm des Welthandelszentrums in New York gerast war, wurde
das zweite Flugzeug eine Viertelstunde später in den Südturm gelenkt. Aus
südlicher Richtung aufgenommen zeigen die Bilder den bereits getroffenen
Nordturm, aus dem Rauchschwaden steigen, und den Anflug sowie den
Einschlag des zweiten Flugzeugs in den anderen Turm. Die Explosionen im
Einschlagbereich der von den Terroristen als Raketen benutzten Passagiermaschinen führten zum Zusammensturz der in ihrem äußeren Erscheinungsbild identischen Zwillingshochhäuser. Als am Morgen des 11. Septembers
2001 um halb elf Uhr Ortszeit der zweite Turm des World Trade Centers
in sich zusammenstürzte, waren nach dem Einschlag des ersten Flugzeugs
knapp zwei Stunden vergangen. Das Niedersinken des Südturms und dann
des zuerst getroffenen Nordturms vollzog sich wie in einer Zeitlupe, die vom
Riesenmaß der 417 Meter hohen Türme erzeugt wurde und deren Dimensionen zuletzt noch einmal sichtbar werden ließ. Von den Türmen blieb am
ehemaligen Standort der Hochhäuser an der Südspitze von Manhattan ein
immenses Ruinenfeld zurück, für das in Analogie zum Epizentrum einer
3
Allgemein zur Bildpolitik vgl. Hofmann (2006).
181
Atombombenzündung die Bezeichnung ground zero gebräuchlich wurde.
Die Schuttmassen bargen für Monate die Überreste der Toten. Nach offiziellen Angaben sind bei den Attacken 3.066 Menschen ums Leben gekommen, mehrere zehntausend Menschen wurden verletzt.
In vieler Hinsicht sind die Anschläge vom 11. September 2001 in der
Geschichte des Terrorismus ein bis dahin neuartiges Ereignis gewesen.4
Gleichzeitig stehen sie aber auch als drastische Steigerung in der Kontinuität
eines kriegs- oder bürgerkriegsartigen Terrorismus, der seinerzeit schon seit
gut anderthalb Jahrzehnten zu beobachten gewesen war. Diese ambivalente
Einschätzung betrifft wenigstens vier Faktoren: 1. die zerstörerische Dimension der Anschläge auf die USA; 2. die ihnen zugrunde liegende Planungsstrategie; 3. die weltpolitischen Folgen der Attentate und nicht zuletzt 4. ihre
unmittelbar erzeugte und bis heute andauernde mediale Gegenwart.
Die gesamte, mit insgesamt vier Flugzeugen geplante Attentatserie
beruhte auf einem vorher nicht bekannten Maß an geheim gehaltener Logis­
tik und Koordination. Die weltpolitischen Konsequenzen stehen mit einem
immens gesteigerten, weltweiten zivilen Sicherheitsbedarf und mehreren
Militärinterventionen seitens der USA außer Frage. Gleichzeitig bleiben die
Kontinuitäten zu bedenken, denn natürlich haben sich die Lebensrealitäten
der überwältigenden Mehrzahl von Menschen gar nicht oder allenfalls beiläufig verändert. Am 11. September eskalierte ein Ausmaß an terroristischer
Gewalt, die auch schon vorher hätte ernst genommen werden müssen. Alles
in allem ist der viel beschworene Satz, nach dem 11. September sei «die Welt
nicht mehr wie vorher», zugleich richtig und falsch. Die Formel hatte von
Anfang an einen beschwörenden Gestus und ihr haftet der Beigeschmack
einer instrumentellen Phrase an. Wer sie aufruft, meint: Was noch nicht ist,
wird schon noch werden.
4
Die Literatur zu den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 in den USA stellt sich mit
zahllosen Beiträgen von der politischen Analyse über den individuellen Erfahrungsbericht
bis zur idiosynkratischen Verschwörungstheorie als kaum überschaubar und höchst disparat dar. Die hier zugrunde liegende historische und politische Einschätzung der Ereignisse
verdankt maßgebliche Anregungen Rapoport (1988); Münkler (2002); Sofsky (2002);
Waldmann (2003); Pedahzur (2005); Schneckener (2006); Wright (2007); Sageman
(2008).
182
Eine ähnliche Ambivalenz von Alt und Neu, wie sie das Geschehen
selbst kennzeichnet, gilt auch für die Bilder von den Attentaten und der Zeit
danach.5 Die Bildgeschichte dokumentiert sich in der Fülle visueller Mitteilungen in der Spannbreite vom Video über das Pressefoto und die Internetsequenz bis zum Kunstbild. Üblicherweise sind Terrorattentate erst im Augenblick, in dem die destruktiven Folgen sichtbar sind, öffentlich und damit für
die Bildberichterstattung zugänglich. So will es die Logik des Überfalls, der
Terrorattentate immer gehorchen. Hingegen waren am 11. September durch
die serielle Abfolge der Anschläge nicht nur die Folgen der Zerstörung sichtbar. Wie es die Fotos zeigen, richteten sich die Kameras auf den Moment der
zerstörerischen Aktion selbst, die in ihrem sequentiellen Ablauf die terroristische Willkür der Verbreitung von Schrecken noch steigerte. Die Bildlichkeit
der gesamten Attentatserie war von Beginn an von den Aufnahmen der Twin
Towers in New York dominiert. Dies hatte vor allem mit dem Simultanwert
der Aufnahmen zu tun, durch die man als Fernsehzuschauer in Echtzeit den
Angriffen, der Destruktion und den Rettungsmaßnahmen beiwohnen konnte. Die Filmaufnahmen machten in ihrem dokumentarischen Status nicht
nur die Zerstörung der Wolkenkratzer ablesbar, mit dem Sehen war auch das
Wissen um eine Unzahl von Menschen verbunden, die während des Betrachtens der live ausgestrahlten Bilder durch die Zerstörung der Gebäude starben.
Man hat von Anfang an konstatiert, dass die Filmsequenzen von den in
die Hochhäuser hinein rasenden Passagierflugzeugen jedweden Erklärungskontext des Geschehens verweigerten.6 Flugzeuge und Hochhäuser sind
höchst unterschiedliche Werkzeuge. Während erstere Bestandteile eines hoch
technisierten Massenverkehrssystems sind, beherbergten die Wolkenkratzer
im New Yorker Financial District die Büros einer hoch verdichteten Finanzbürokratie. Die Passagierflugzeuge und die Türme wurden ineinander zerrieben, waren aber in ihrer parallelen Zerstörung rational nicht aufeinander zu
beziehen. Die in den Stunden nach den Anschlägen nicht enden wollende,
5
6
Zur medialen Vermittlung und zur Bildlichkeit des 11. Septembers vgl. Schicha / Brosda
(2002); Schwerfel (2002); Fricke (2003); Beuthner u.a. (2003); Leggewie (2004); Werckmeister (2005); Kröner (2008).
Dies konstatieren bereits die ersten Augenzeugenberichte und Analysen; vgl. die Sammlung von Aufsätzen in: Morrison u.a. (2001).
183
über weite Strecken unkommentierte Wiederholung der Aufnahmen zielte
offensichtlich darauf ab, das Geschehen als realen Vorgang überhaupt erst
einsichtig zu machen. Es mag sein, dass die permanente Wiederholung die
wohl bei jedem Zuschauer auf Anhieb vorhandene Assoziation an einen fiktiven Filmplot, dessen Spannungsmoment ja entscheidend in seiner Plötzlichkeit und Einmaligkeit liegt, tilgen sollte. So kam es zunächst zu einer Paralyse
der Filmreportage, die durch den tatsächlichen Ablauf des Geschehens in
groteske Nähe zu Actionfilmen gelangt war. Durch die andauernde Wiederholung der Filmsequenzen mit eingeblendeten Kommentarstreifen distanzierte sich die Reportage wieder vom Thriller.
Vielleicht schwerer als die Orientierungslosigkeit, die durch die Überlagerung zweier Filmgenres zustande kam, wog es, dass in den ersten Bildern
keine Akteure erkennbar hervortraten. Eine Selbstmitteilung der Attentäter
nach ihrer Tat war durch die Suizide der Terroristen ausgeschlossen, es gab
aber auch keine schriftliche oder bildliche Botschaft der terroristischen Zentrale. Anders als frühere Terrorbewegungen hielt es von den verantwortlichen
Hintermännern niemand für nötig, sich zu erklären oder die Tat zu rechtfertigen. Da ideologische und religiöse Begründungen auch lange danach ausblieben, fehlte für die ersten Fernsehbilder der Attentate zunächst auch ein
Verständnisrahmen. Nach dem ersten Erstaunen über den Realitätsgehalt der
Bilder sprach aus ihnen nichts anderes als die schiere Gewalt des Faktischen.
Auf die faktizistische Bildlichkeit der ersten Stunde und das Schweigen der
Akteure antworteten bildliche Kommentierungen. Schon einen Tag nach
den Attentaten wurde die Fotografie von drei Feuerwehrleuten, die in den
Ruinen des World Trade Centers die amerikanische Flagge hissen, publiziert
(Abb. 2). Die Fotografie ist in vieler Hinsicht ein Traditionsbild mit Identifikations- und Appellcharakter, als solches ist sie auch ein Gegenbild zu
den ersten Fernsehaufnahmen. Sie stammt von dem Fotografen Thomas E.
Franklin und wurde am 12. September 2001 erstmals als Titelfoto der Zeitschrift The Record veröffentlicht. Allein schon die gegenüber dem Fernsehfilm
traditionsgebundene Gattungswahl des Pressefotos zeigt, dass das Bild nicht
nur einen dokumentarischen Wert verbürgen soll, sondern auch für einen
individuellen Betrachter kalkuliert ist. Dies gilt umso mehr für die Darstellung selbst. Drei Feuerwehrleute haben in schwerer Montur in den Ruinen
184
Abb. 2: Thomas E. Franklin, Feuerwehrleute beim Hissen der amerikanischen Flagge in den Ruinen des World Trade Centers 2001, Pressefotografie
des World Trade Centers Stellung bezogen, sie folgen offensichtlich dem
militärischen Reglement der Flaggenparade. Zwei hantieren gemeinsam am
Seilzug der halb gehissten Nationalfahne. Der dritte Feuerwehrmann hat sich
185
etwas abseits gestellt und den Kopf noch weiter als die beiden anderen in den
Nacken geworfen, um die Aktion zu beaufsichtigen und ihrem Abschluss
erwartungsvoll entgegenzusehen. Es bleibt offen, ob die Männer die Flagge
auf Halbmast setzen wollen oder ob sie bis zum Ende des Mastes hoch gezogen werden soll. Die Gruppe ist auf einem diagonal ansteigenden Schuttplateau in Positur gegangen, dessen Kontur von der Linie der drei Köpfe
nachgezeichnet wird. Der Fahnenmast ist in der Gegendiagonale aufgerichtet, wobei das Sternenfeld der Flagge genau im Bildzentrum fixiert ist. Eine
den linken Bildrand vertikal durchmessende Säule stabilisiert dieses Gefüge
architektonisch. Die bereits mit diesen Mitteln erzeugte Bildordnung wird
schließlich durch die scharfe, durch Licht und Staub überzeichnete Modellierung der Personengruppe vor dem diffusen Hintergrund gewährleistet.
Die Schuttberge sind unscharf aus dem Fokus der Kameralinse gerückt und
türmen sich formatfüllend als Steilwand unbestimmbarer Ausdehnung auf.
Dem rückwärtigen Chaos scheint eine Szenerie provisorischer, aber immerhin rudimentär wieder gewonnener Ordnung regelrecht abgerungen.
Kaum hat man sich diesen Bauplan der Bildregie vor Augen geführt, so
stellen sich Nachfragen im Hinblick auf die motivischen und inhaltlichen
Dimensionen des Fotos. Offen bleibt etwa die Herkunft des Flaggenmasts.
Er mag ins Ruinenfeld geschleppt worden sein oder es mag sich um eine aus
den Trümmern herausgelesene Stange handeln, die mit einem Rollenzug zum
Flaggenmast improvisatorisch zurechtgerüstet wurde. Bei beiden Optionen
bleibt die schiefe Aufrichtung allerdings auffällig genug. Man kann außerdem eine dünne Stange erkennen, die offenbar als zu leicht befunden und zur
Seite gestellt wurde. Dieser Sorgfalt bei der Auswahl der Utensilien entspricht
am Ende das zeremonielle Reglement, das über der gesamten Szenerie des
Flaggenappells waltet. Die Feuerwehrleute sind während ihrer gefährlichen
Rettungs- und Sicherungsarbeiten in den Ruinen des Welthandelszentrums
in einem gemeinschaftlichen, patriotischen Akt des Innehaltens vor Augen
gestellt.
Die scheinbare Momentaufnahme erweist sich endgültig als ein Produkt
minutiös kalkulierter Bildregie, als sie sich – natürlich – einer älteren Bildformel verdankt. Es handelt sich um Joe Rosenthals berühmtes Foto aus dem
Zweiten Weltkrieg, das die Aufpflanzung der amerikanischen Flagge auf Iwo
186
Jima am 23. Februar 1945 zeigt. Rosenthals Foto erinnert an die verlust­reiche
Eroberung der Pazifikinsel, die die Landung der Amerikaner in Japan einleitete. Die Aktion einer fünfköpfigen Gruppe von Soldaten, die in energischem
Vordringen eine Fahnenstange ins öde Gelände einrammen, ist eine durch
und durch nachgestellte Inszenierung. In vielfältigen Reproduktionen rückte
das Foto in den populären Bestand der amerikanischen National­ikonografie
ein.7 Es wurde nach dem Krieg als Briefmarke ausgegeben. Im Marinedenkmal auf dem Soldatenfriedhof in Arlington erfuhr es eine monumentale Steigerung zur Bronzegruppe. Edward Kienholz hat es auf dem Höhepunkt des
Vietnamkrieges einer kritischen Revision unterzogen, als er in dem Environment The Portable War Memorial (Köln, Museum Ludwig) die Gruppe
zu einer Figurenassemblage technoider, leerer Hüllen umfunktionierte. Auf
diese Weise im Bildgedächtnis verankert, genügte der Aufruf weniger Signalmotive, um bei dem Aktionsbild der New Yorker Feuerwehrleute mit dem
schräg gestellten Flaggenmast als Sammelpunkt einer Gruppe von Uniformierten die historische Referenz unmissverständlich mitzuliefern.
Für die Bedeutung des Fotos hat diese Referenz immense Folgen. Erst
durch den Rückverweis auf die Ikonografie des Zweiten Weltkriegs wird es
dem Betrachter ermöglicht, die Leerstellen des Bildes zu schließen und letztlich
das Attentatsgeschehen des 11. Septembers als historisches Ereignis – nämlich
in Analogie zu den Schlachten des Zweiten Weltkriegs – einzuordnen. Das
Foto der Feuerwehrleute erscheint vor der Folie des «Iwo Jima»-Fotos auf eine
ganz paradoxe Weise als ein ziviles, aber gleichermaßen triumphales Eroberungsbild. Dieser Gehalt hat wesentlich mit dem Ruinenfeld des ground
zero zu tun, das nun in der Gattungstopik des Schlachtenbildes ebenso als
Schlachtfeld wie als erobertes Territorium zu begreifen ist.8 Ruinenbilder von
Hochhäusern dieser Dimensionen erwiesen sich nach dem 11. September
als ein neuer Anblick. Moderne Hochhäuser waren mit ihrer geschichtslosen
Oberfläche zuvor nicht als Ruinen denkbar gewesen. Natürlich wurden auch
Hochhäuser immer wieder in Sprengungen niedergelegt, bei solchen Zerstörungen handelt es sich aber um planmäßig organisierte Abbruchkampagnen,
7
8
Vgl. Marling / Wetenhall (1991); Scorzin (2003); Schmidt (1988); zur Fotografie von
Jenkins vgl. Mügge (2005).
Vgl. Hüppauf (2002).
187
bei denen von den Bauten in der Regel keine Ruine, sondern eine säuberlich ausgebreitete Schutthalde übrig bleibt. Nach dem 11. September hat
man sich recht bald an die Sprengung der Wohnsiedlung Pruitt-Igoe in Saint
Louis erinnert. Diese war von Minoru Yamasaki, dem Architekten der Twin
Towers, geplant und knapp zwei Jahrzehnte nach ihrer Fertigstellung im Jahr
1972 schon wieder gesprengt worden. Die Rhapsoden der Postmoderne feierten das Foto als Fanal des Scheiterns der funktionalistisch­en Moderne.9 Im
Gegensatz zu solchen Sprengungen haben die Attentate auf das Welthandelszentrum gigantische Ruinenreste hinterlassen. Sie waren für die Rettungskräfte gefährlich wie Minenfelder. Am Tag der Attentate und in den darauf
folgenden Tagen starben 343 Feuerwehrleute bei ihrer Arbeit in den Ruinen.
Das Foto von den Feuerwehrleuten wies der Wahrnehmung eine Richtung, die Ruinen als Überreste eines Schlachtfeldes nach dem Bombardement aufzufassen. Diese Konnotation wird schließlich überlagert von der
Topik des eroberten Territoriums. Denn nach dem Eindringen der Terroristen in das Staatsgebiet der USA dokumentiert das Bild eine symbolische
Rückeroberung des Landes. Auch dieser fundamentale Gehalt des New Yorker Fotos begründet sich entscheidend aus dem Rückverweis auf die Bildlichkeit des Zweiten Weltkriegs. Ging es bei der Aufrichtung des Sternenbanners auf Iwo Jima um die territoriale Eroberung des Pazifikraumes, so wird
dieselbe symbolische Handlung im New Yorker Bild für die Restituierung
der territorialen Integrität des Landes in Dienst genommen. Erst so wird es
erklärbar, dass das New Yorker Foto auch wieder zurück ins Kriegsgeschehen
eingespeist werden konnte. Dies dokumentiert ein Anfang Dezember 2002
aufgenommenes Foto von Soldaten der amerikanischen Invasionstruppen in
Afghanistan, die der geläufigen Regieanweisung gemäß die Nationalflagge
aufrichten. Bei der Flagge handelt es sich um ein Geschenk der New Yorker
Feuerwehr, die sie zusammen mit der Stadtfahne von New York den Invasionstruppen vermachten.
Die noch viele Jahre später in Autos und an Gebäuden aufgehängte und
damit im New Yorker Stadtbild allgegenwärtige Fotografie der Feuerwehr9
Zur Geschichte der Fotos von der Sprengung des Wohnkomplexes Klotz (1999), 76f.
sowie die Fotoillustrationen in Jencks (1977) und Wolfe (1981).
188
leute in den Ruinen des World Trade Centers macht eine Mitteilung, deren
Verständnisrahmen in den öffentlichen politischen Diskussionen und offiziellen Verlautbarungen abgesteckt ist. Zugleich erfahren diese Debatten in
dem Bild eine sinnfällige Umsetzung und Bekräftigung. Die Titulierung der
Attentate als «Krieg» gegen die USA war schon in den ersten Schlagzeilen
aufgetaucht und wurde spätestens drei Tage später Teil der offiziellen politischen Doktrin eines militärischen Gegenschlags. Diese Strategie wurde in
den darauf folgenden Monaten unter dem Stichwort des globalen war on
terror zum zentralen außenpolitischen Paradigma der Bush-Administration
erhoben.10 Die eminente Tragweite dieser Entscheidung hat sich in den Jahren seit 2001 mit den Interventionen in Afghanistan und im Irak gezeigt. Der
Gleichsetzung von Terrorismus und Krieg wurde zusätzlich Vorschub geleistet durch den historischen Vergleich der Anschläge mit dem japanischen
Angriff auf Pearl Harbor, der die USA im Dezember 1941 zum Eintritt in
den Zweiten Weltkrieg veranlasste. Insofern erscheint es als ein konsequenter
bildstrategischer Zugriff, für das New Yorker Foto eine Bildepisode aus dem
Pazifikkrieg zu reaktivieren. Das Foto, das auf ein militärisches Gepräge weitgehend verzichtet, erscheint so als ein Appell an die amerikanische Zivilgesellschaft, sich der Kriegsoption als Antwort auf die Attentate anzuschließen.
Gleichermaßen entscheidend ist, dass sowohl auf der Ebene der politischen
Debatten wie auf der Ebene der bildlichen Äußerungen eine Historisierung
des Geschehens vollzogen wurde. Die Attentatserie wurde in eine historische
Kontinuität eingereiht und die Bildlichkeit war wieder in den Stand gesetzt,
den zunächst ausgebliebenen, nun freilich auch erheblich ideologisierten Verständigungsbedarf über das Ereignis zu befriedigen.
Die Historisierung der Attentate im Sinne von deren Zurückbindung in
eine geschichtliche Kontinuität blieb bei ihrer bildlichen Kommentierung
und Deutung ein Grundanliegen. Sie konnte freilich weit weniger staatstragend ausfallen als auf dem Foto von den Feuerwehrleuten. Im bildlichen Niederschlag, den das Ereignis jenseits der ikonisch erstarrten Fotografien bald
nach den Attentaten gefunden hat, gehört eine im Internet veröffentlichte
10 Die Literatur zum war on terror ist mittlerweile immens; vgl. nur die neueren Untersuchungen aus kriegsideologischer und mediengeschichtlicher Sicht Jackson (2005); Steuter /
Wills (2008); Mackiewicz (2008); Steger (2008).
189
Abb. 3: Auszug aus der Bildsequenz «Touristguy», Oktober 2001, im Internet veröffentlichte Bildserie
Sequenz von Fotomontagen zu den irritierendsten und eindrücklichsten
Zeugnissen. Die Serie wurde Anfang Oktober 2001 ins Netz gestellt und
umfasste mehrere Dutzend Bilder. Danach wurde sie beträchtlich erweitert
und auch in Teilen überarbeitet. Die Abbildung zeigt eine Montage der ersten
Fassung vom Oktober 2001 (Abb. 3).
Die Bildfolge stellt einen Mann, der als Touristguy abrufbar ist, fast
identisch wiederkehrend, ausdruckslos und eigentümlich blasiert vor einer
Bildchronik von Katastrophen dar. Die Explosion des Zeppelin in Lakehurst
1937, der Absturz der Concorde-Maschine in Paris 2000, die Atombombenabwürfe in Japan 1945, die Zerstörung des World Trade Centers 2001 – die
Ereignisorte scheinen dem Touristguy jenseits seiner Anwesenheit nicht viel
zu bedeuten. Auf dem Dach des World Trade Centers findet er sich fatalerweise noch rechtzeitig zum Anflug des Flugzeugs ein. Es mag sich erübrigen,
auf die einzelnen Bilder detaillierter einzugehen. Die Serie verleugnet ja keineswegs den Charakter des zusammen gelesenen, eilig fabrizierten Trashs,
wie er dem ephemeren Medium des Internets auch nur zu angemessen ist.
Im Gegenzug stellt sich die Bildsemantik aber als ganz und gar nicht banal
heraus. Der Tourist ist ein Wiedergänger durch die Historie, der durch Zeiten
190
und Räume hindurch stets zur Stelle ist. Der enzyklopädische Sammler von
Sensationen erweist sich darüber hinaus auch als ein Aktivist des globalen
Sightseeing. Das New Yorker Attentat, das immerhin den Anlass für die
retrospektive Ausarbeitung der Bildfolge gab, reiht sich völlig unauffällig in
die Serie ein. Das Ergebnis führt einen auf Abwege. Denn die Historisierung
des Geschehens leistet nicht der Relativierung der einzelnen abgebildeten
Ereignisse Vorschub, sondern fügt nur jeder Katastrophe eine weitere hinzu.
Mit dieser Einreihung der Terroranschläge des 11. Septembers in eine nicht
enden wollende Chronik von Katastrophen wird durch die Bildserie eine ins
absurde Extrem vorangetriebene Konventionalität der New Yorker Attentate
behauptet.
Der so verstandene Rekurs auf eine geschichtliche Konvention ist bereits
im Bildtypus der Fotomontagen angelegt. Offensichtlich ist die Formel des
Andenkenfotos, die ihre Wurzeln im Reiseporträt des 18. Jahrhunderts hat,
geradezu insistierend monoton reproduziert. Ein berühmtes Beispiel ist das
von Wilhelm Tischbein 1787 gemalte Porträt, das Goethe vor den antiken
Ruinen in der römischen Campagna zeigt (Frankfurt, Städelsches Kunst­
institut). Gemäß dem populären Bildtypus soll die Postierung des Reisenden
an einem signifikanten Ort seine Augenzeugenschaft und darüber hinaus
die innere Affinität des Reisenden mit dem Ziel der Reise beglaubigen. Das
Schema der Zuordnung von Person und Hintergrund signalisiert den neuen, durch die Reise gewonnenen und erweiterten Erfahrungshorizont. Nun
sind auf den Fotomontagen im Hintergrund des Internet-Touristen aber
nicht dauerhafte Wahrzeichen abgebildet, sondern plötzlich hereinbrechende
Ereignisse. Die für den arglos Anwesenden letztlich tödlichen Katastrophen
werden in der Bildfolge arretiert, das Ereignis wird mit einem monumentaldauerhaften Wahrzeichen gleich gesetzt. Da es sich bei den Ereignissen um
Katastrophen handelt, wird auch deren Wahrzeichenwert ins Destruktive
gewendet.
Die ebenso distanzierte wie aussichtslose Hintergründigkeit des Bildes
vom emblematischen Wanderer geht zu den offiziell verordneten Bildwelten
über das New Yorker Ereignis auf denkbar weite Distanz. Auch hier wird eine
Historisierung erkennbar, nun ist sie aber nicht mehr in den Dienst der Affirmation gestellt, sondern bietet einen illusionslosen Gegenentwurf.
191
Abb. 4: John Baldessari, Two Highrises (With Disruption) / Two Witnesses (Red and
Green), 1990. Übermalte Farbfotografie, Los Angeles, Museum of Contemporary
Art.
192
Trotz dieser skeptischen, geschichtskritischen Tendenz äußert sich auch
in der Bildserie der Fotomontagen das Grundanliegen geschichtlicher Einordnung und Historisierung. Die Attentatserie des 11. Septembers war nicht
nur ein Gewaltausbruch gegen Menschen, sondern auch ein Anschlag auf
Geschichtsbilder. Dadurch, dass in der Bildserie ein Geschehen zum Wahrzeichen und ein Ereignis zum Monument umformuliert werden, verweist sie
auf das Problem des Ereignisses selbst.
II. Der Begriff des Ereignisses
Es ist ein seltsamer Zufall, dass die Differenz von historischem Ereignis und
Alltagsgeschehen in einer Fotomontage von John Baldessari ausgerechnet
am Beispiel der Zerstörung des World Trade Centers bildlich durch­exerziert
wurde. Die Fotomontage entstand bereits 1990, also lange vor den Anschlägen (Abb. 4).11 Das Doppelbild zeigt im oberen Teil ein Personenpaar in
der Kleidung der späten 60er Jahre, ein Mann steht neben einer Frau mit
Hand- und Einkaufstasche. Vor die Gesichtsfelder sind ein roter und grüner
Punkt gesetzt, ein bei Baldessari wiederkehrendes Motiv, das seine Herkunft
im Blick durch den Sucher einer Kamera oder in den bei Sehtests verwendeten Probefarblinsen hat. Die Gesichter werden durch die in den Grundfarben aufgemalten Venylpunkte fokussiert aber auch verborgen. Die kreisrunden Leerstellen verdecken die Gesichter, und der Betrachter ist durch
die gleichzeitige Markierung und Tilgung der Gesichter herausgefordert,
sich die Physiognomien der Personen vorzustellen. In der unteren Bildhälfte erscheinen die Twin Towers im Moment der Destruktion. Unter einem
vom Himmel hereinrasenden Feuersog zerbersten die oberen Bereiche der
Türme und scheinen sich in den Schlieren der Materialfragmente ineinander
zu verschlingen. Die Zwillingstürme und das Personenpaar darüber sind axial
aufeinander bezogen. Bei allen offensichtlichen Kontrasten ist es die Paarbildung als Verkörperung einer perfektionierten oder zumindest konventionell
akzeptierten Ordnung, die Baldessari zu deren künstlerischer Infragestellung
11 Vgl. Aigner (1999), 125; zum Werk vgl. Baldessari (1999); Ders. u.a. (2009).
193
provoziert hat. Die angespannte Beziehung zwischen der oberen und unteren
Bildhälfte ist auch im Bildtitel aufgenommen: Two Highrises (With Disruption) / Two Witnesses (Red and Green). So wie in der Fotomontage anonyme
Figur gegen Figur gestellt ist, so sind im Titel Begriff gegen Begriff gesetzt.
Durch den Titel wird auf das in beiden Fotos latent vorhandene gemeinsame Thema angespielt. Gezeigt werden eine banale Alltagssituation und das
katastrophale Ereignis. Beide treten in Baldessaris Arrangement in einen formalen und inhaltlichen Dialog mit offenem Ausgang. Beide Bilder bilden
Ausschnitte aus Handlungssträngen ab, es bleibt aber unklar, ob sich diese
verknüpfen lassen. Baldessaris combined photograph verweist durch die Parallelität der Abbildung auch auf die mögliche Simultaneität des Geschehens:
In der Imagination des Betrachters passieren das Alltagsgeschehen und das
katastrophale Ereignis gleichzeitig.
Baldessaris Werk reflektiert eine Differenz, die auch in der historiographischen Methodendebatte während der letzten drei Jahrzehnte wieder in
den Vordergrund gerückt ist und im Zuge derer der Ereignisbegriff eine
nachdrückliche Aufwertung erfahren hat.12 Als ein entscheidendes Kriterium dieses Begriffskonzepts erscheint die Tatsache, dass Ereignisse als ebenso unerwartet wie außergewöhnlich wahrgenommen werden. Nach einer
Formulierung von Reinhart Koselleck zeitigt jedes Ereignis «mehr und
zugleich weniger als in seinen Vorgegebenheiten enthalten ist: daher seine
jeweils überraschende Novität».13 Die Qualitäten des Überraschenden und
Außerordentlichen prägen beim Ereignis jedoch nicht nur das Verständnis einzelner Zeitgenossen, sondern erreichen einen sozial geteilten, kollektiven Erfahrungs- und Erwartungshorizont, der durch breit vermittelte
Geschichtstraditionen und gemeinsam verbindliche Konventionen konturiert wird. Ereignisse sind – so hat sie Andreas Suter bezeichnet – «kulturelle
Schöpfungsleistung kollektiver Akteure».14 So wie sie in der zeitgenössischen
Wahrnehmung aus der Wirklichkeit hervorbrechen, kommt ihnen selbst ein
die Realität verändernder Charakter zu. Beruht einerseits die Individualität
12 Vgl. Koselleck / Stempel (1973); Verhein (1990); Blänker / Jussen (1998); Suter / Hettling (2001); Erben (2002); Hölscher (2003).
13 Koselleck (1973), 566.
14 So die Definition von Suter (1998), 210.
194
und Veränderungskraft von Ereignissen auf ihrer Differenz zu längerfristig
angelegten Strukturen, so verändern Ereignisse andererseits die strukturellen
Gegebenheiten, aus denen sie hervorgegangen sind. Am 11. September wurde die anfänglich erlebte Singularität des Ereignisses im Diktum, «die Welt
sei nicht mehr wie vorher», in eine Formel gefasst. Mit der Einschätzung des
Singulären geht die Wahrnehmung einher, dass ein Ereignis in alle Lebensbereiche diffundiert. Auch diese Vorgänge waren nach dem 11. September
beispielhaft in der Berichterstattung der Zeitungen nachzuvollziehen. Das
Ereignis bestimmte nicht nur die harten Sektoren der Berichterstattung von
Politik und Wirtschaft, sondern auch die Bereiche von Kultur und Sport bis
hinein zu den vermischten Meldungen.
Der Wahrnehmung eines durch das Ereignis ausgelösten beschleunigten
Wandels entsprechen schließlich ebenfalls kollektive Formen der Bewältigung. Dazu gehört eine mehr oder minder konsensfähige Verständigungsformel für die Bezeichnung des Geschehens. Dies war nach dem 11. September
an der schrittweisen Eindämmung der Begriffsvielfalt abzulesen. Gegenüber
den biblischen Analogien wie Doomsday, den kulturkritischen Benennungen
wie Clash of Civilisations oder den sprachlichen Hybridbildungen wie Terrorangriff oder Kamikaze-Attacken setzte sich am Ende der Kriegsbegriff als
Bezeichnung für die Angriffe durch.15 In dem Maße, in dem er dann definitorisch die Oberhand gewann, folgte er nicht nur manifesten politischen
Interessen. Mit ihm wurde auch das Ereignis zur Geschichtstradition in Relation gesetzt. Diese Verständigungsprozesse und Bewältigungsstrategien sind
auf mediale Vermittlung regelrecht angewiesen. Auch diese konstituiert den
Ereignisbegriff. Wenn ein Geschehen nicht publik wird, ist es kein Ereignis. Die Bewertung eines Geschehens als Ereignis verdankt sich einer zutiefst
visuellen Form der Wirklichkeitserfahrung. Ereignisse sind sowohl in ihren
Handlungsträgern, in ihrem Aktionsverlauf wie in ihren Folgen sichtbar.
Dies gilt auch für die Aktionen und Destruktionen, die Akteure und Opfer
des 11. Septembers. Mehr als Texte dies zu leisten im Stande sind, wird das
Ereignis durch die Anschauung glaubhaft. Nicht nur die Fernsehbilder der
Angriffe, sondern auch die von den Attentaten provozierten bildlichen Kom15 Hierzu die Dokumentation Die erste Seite (2001).
195
mentare dienten dazu, das Ereignis des 11. Septembers in seiner Evidenz zu
konstituieren. Dies verweist eindringlich auf die etymologische Wurzel der
historischen Erkenntniskategorie des Ereignisses im Begriff des Eräugens (lat.
evidere).
Blickt man noch einmal auf die ersten Fernsehbilder der Attentate zurück,
so gehört es sicherlich zu den zentralen Aporien, mit denen der Betrachter
konfrontiert war, dass die von der Realität erzeugten Bilder einerseits aus den
genannten Gründen als bisher ungesehen erlebt wurden, dass sie aber andererseits in der Imagination schon vorweg genommen waren. Die Zerstörung
der Hochhäuser des Welthandelszentrums war seit der Fertigstellung der
Türme in zahlreichen Kunstwerken zum Thema gemacht worden, und diese
Werke entstanden aus jener «terroristischen Imagination, die in uns allen
wohnt».16 Es mag genügen, aus der Fülle von Beispielen aus Literatur, Film
und Bildender Kunst auf die Fotomontage von John Baldessari hinzuweisen.
III. Die Bildmotive und die Frage der Motivation
Solche Imaginationen und die Bilder, die von den Attentaten in den dokumentarischen Medien selbst erzeugt wurden, sagen nichts über die Motive
der Attentäter und über die Gründe für die Auswahl ihrer Ziele. Die Spekulationen darüber begannen unverzüglich. Dabei evozierten die Bilder
des Anschlags wissenschaftliche Gegenbilder, und die Kunstgeschichte griff
geradezu reflexhaft zum Bildvergleich. Die Antworten fielen einigermaßen
grundsätzlich aus. Einer der häufigsten Vergleiche war die Gegenüberstellung der Twin Towers und mittelalterlicher Stadttore oder Doppelturmfassaden von Kathedralen. Man reibt sich verblüfft die Augen. Solche geradezu absurden Bildassoziationen wären nicht der Rede wert, würden sich mit
ihnen nicht weitreichende Deutungsabsichten verbinden. Der Bildvergleich
unterstellt auf der einen Seite dem Architekten der Twin Towers solcherart
historische Reminiszenzen als Teil seiner Planungsidee. Auf der anderen Seite
wurde zugleich insinuiert, die Terroristen hätten ihre Attacken gegen die Idee
16 Baudrillard (2002), 12.
196
westlicher Urbanität ebenso gerichtet wie gegen die christlichen Grundlagen
des Abendlandes.
Weder die Bilder noch unser Wissen von den Aktionen selbst reichen
für solche Behauptungen aus. Der Entwurf des Welthandelszentrums war
für lange Jahre ebenso umstritten wie die Bauplanung und -errichtung, die
von den Vorwürfen der Korruption, der Gentrifizierung des Stadtviertels und
der ökologischen Verantwortungslosigkeit begleitet waren. Erst allmählich
fanden die Türme bei der Stadtbevölkerung Akzeptanz und etablierten sich
wegen ihrer Aussichtsplattformen als touristische Attraktion. Als der Architekt Minoru Yamasaki die Hochhäuser, die im Jahr 1973 nach nur achtjähriger Bauzeit eingeweiht wurden, entwarf, stellte er sich selbstbewusst in die
Tradition des Hochhausbaus seit der klassischen Moderne.17 Bereits Le Corbusier konzipierte nach dem ersten Weltkrieg seine kühnen Stadtentwürfe
mit Hochhausrastern, schon hier marschieren die einzelnen Türme mit völlig identisch­en Fassaden auf. Ludwig Mies van der Rohe postierte 1951 am
Ufer des Michigansees in Chicago seine North Lake Shore Drive Apartments als
Zwillingstürme, die in spannungsvoller Gegenüberstellung ähnlich wie später
die am Hudson gelegenen Twin Towers in New York die Stadtsilhouette akzentuieren. Kurz darauf realisierte er ebenfalls in Chicago die Commonwealth
Apartments als Doppeltürme. Der Gedanke der völlig identischen Spiegelung
eines Hochhauses mochte bei Yamasaki auch durch das serielle Bildprinzip
der Pop Art angeregt worden sein. Seit den frühen 1960er Jahren schuf Andy
Warhol seine berühmten Porträtreihen im Siebdruckverfahren, in denen er
das Verschwinden des Einzelnen in der Masse und die Selbstbehauptung des
Individuums gegen seine anonyme Vervielfältigung gleichermaßen zum Thema machte. Ähnlich ist bei den Zwillingstürmen auf ambivalente Weise die
Individualität des Solitärs durch die Doppelung sowohl aufgehoben als auch
bekräftigt. Die Hochhäuser wurden nicht aus dem Geist der Kathedralbaumeister errichtet, sondern stehen in der Tradition eines aktualisierten Funktionalismus, der sich die Maximierung bei der Ausnutzung des Baugrundes
und die bildhaften Qualitäten von Architektur zum Programm gemacht hat.
17 Zu Entstehung, Form und Nutzung des Gebäudes vgl. Gillespie (2001); Andrieux / Seitz
(2002).
197
Es gibt bislang weder ein Indiz noch einen Beweis dafür, dass sich die
Terroristen des 11. Septembers 2001 bei der Auswahl ihres New Yorker Ziels
von anderen Motiven als desjenigen des logistischen Erfolgs leiten ließen.
Dies umfasst die Garantie medialer Aufmerksamkeit ebenso wie die radikale
Indifferenz im Hinblick auf das eigene Leben und die Anzahl der Opfer.
Die Attentate des 11. Septembers zielten auf Negation: An dieser Einsicht
kommt gerade auch die seitdem unternommene akribische historische Analyse der Attentate nicht vorbei. Der islamistische Terrorismus ist geprägt von
der Inanspruchnahme einer antagonistischen Ideologie, die sich politischer
und religiöser Identifikationsmittel reduktionistisch bedient. Die Ideologeme folgen der Notwendigkeit, extrem vielfältige, geographisch weit gestreute
transnationale Milieus – der Bogen spannt sich von Pakistan und Afghanis­
tan über Saudi-Arabien, Irak, Iran und den Jemen und Äthiopien bis Ägypten und Nordafrika – zu homogenisieren. Innerhalb des terroristischen Netzwerks handelt es sich meist um adhoc-Koalitionen, deren Programmatik sich
auf formelhafte Ziele wie die Berufung auf den Ur-Islam und die Verwirklichung islamischer Würde jenseits von Staat und Nation in Analogie zum
Gottesstaat. Eines der wenigen konkreten institutionellen Ziele besteht in der
Errichtung des Kalifats.18 All dies kann nicht davon absehen lassen, dass der
internationale Terrorismus im strengen Sinn unpolitisch ist. Er ist weder mit
einem intentionalen Politikbegriff, der vor allem die Handlungsinte­ressen
und -strategien bei der Organisation von Entscheidungen beschreibt, noch
mit einem kommunikativen Politikbegriff, der auf ein Verständnis von der
Gesamtheit gesellschaftlicher Austauschprozesse abzielt, vereinbar. Der Terrorismus lässt absichtsvoll keinen Raum für verhandelbare Forderungen und
bricht mit der Übereinkunft rationaler Verständigung.19
Eine solche Einschätzung zieht auch Konsequenzen dahingehend nach
sich, wie die visuellen Zeugnisse der Attentate zu verstehen sind. Sie zeigen
die Durchsetzung und die Folgen einer Massendestruktion, die von Seiten
der Akteure die vorsätzliche Wahl der verwendeten zerstörerischen Mittel
voraussetzt. Jede Absicht, aus den Bildern eine über diese Mitteilung hin18 Vgl. die in Anm. 4 genannte Literatur.
19 Zu dieser Bewertung Enzensberger (1993); Ders. (2006). Zum Politikbegriff vgl. die lexikalischen Hinweise: Sellin (1997); Schulze (2010).
198
ausgehende Symbolik herauszulesen, läuft Gefahr, den Attentaten selbst eine
Programmatik zuzuschreiben, die ihnen vermutlich nicht zukommt.
IV. Monument und Ereignis: Denkmal- und Wiederaufbaupläne
Kein Ereignis – so kann man als Faustformel festhalten – ohne Denkmal.
Schon zwei Wochen nach den Attentaten wurde eine Denkmalkommission
eingesetzt, die darüber befinden sollte, wie des Ereignisses in monumentaldauerhafter Form zu gedenken sei. Man stellt mit ziemlicher Verblüffung fest,
in welchem Ausmaß die Analogie zum Zweiten Weltkrieg auch die Wiederaufbau- und Denkmalprojekte für den ground zero bestimmten. Die ersten
Überlegungen der New Yorker Denkmalkommission waren von Rückgriffen
auf Erinnerungsformen geprägt, die aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs
und der Nachkriegszeit bekannt sind. Dies galt für die anfängliche Idee, das
Welthandelszentrum in seinen Ruinenresten zu bewahren, ebenso wie für das
zunächst erwogene Projekt, die Türme völlig zu rekonstruieren, um mit ihrer
ökonomischen Funktion auch ihren Wahrzeichenwert zu restituieren. Für
die Ruinen-Option mag nur an die im Zweiten Weltkrieg zerstörte und dann
als Ruinenmahnmal bewahrte Kathedrale in Coventry oder an die Berliner
Gedächtniskirche erinnert sein. Die zweite Option lässt an den Wiederaufbau zerstörter Städte insbesondere in Osteuropa – wie Warschau oder St.
Petersburg – denken. Deutschland hat diese Wiederaufbaudebatte bekanntlich erst im Zuge der Restauration des Gesamtstaates nach 1989 erreicht.
Offensichtlich bildete sich in solchen von der New Yorker Denkmalkommission erörterten, historisierenden Rückgriffen auf Erinnerungsmodi,
die sich nach dem Zweiten Weltkrieg eingebürgert haben, erneut die politische Intention ab, die Terrorangriffe als kriegerische Akte zu klassifizieren.
Gerade deshalb blieb auch ein Unbehagen gegenüber diesen konzeptionellen Vorschlägen für das Erinnern zurück. Dies gilt auch für das Projekt, die
Türme des Welthandelszentrums mit Scheinwerferprojektionen als ephemerfeierliche Lichtarchitektur wiedererstehen zu lassen. Die Lichtinstallation der
Twin Towers wurde zum ersten Jahrestag der Anschläge einmalig realisiert.
Sie entging nicht der öffentlichen Kritik, weckte sie doch auf fatale Wei199
se Erinnerungen an die von Flakscheinwerfern als Lichtgehäuse erzeugten
«Lichtdome», in denen ab 1934 auf dem damaligen Reichsparteitagsgelände
in Nürnberg nächtliche Kundgebungen abgehalten wurden.
Die Kritik ist bei dem ersten, ebenfalls zum Jahrestag öffentlich ausgestellten Versuch, der Erinnerung dauerhaft-monumentale Gestalt zu verleihen, vernichtend ausgefallen. Die Tumbling Woman des New Yorker Künstlers Eric Fischl tauchte in der Woche, in die der erste Jahrestag der Anschläge
fiel, vor dem Rockefeller Center in Manhattan auf (Abb. 5). Sie wurde dort
in Absprache zwischen der Galeristin Fischls und dem Rockefeller Center
postiert. Nachdem das Werk erhebliche Kritik in der Öffentlichkeit auf
sich zog, hat das Center selbst umgehend dementiert, die Figur in Auftrag
gegeben zu haben. Sie wurde nach einer Woche mit einer Stellwand verhüllt
und am Nachmittag des 18. September 2002 wieder fort geschafft. Heute
befinden sich die fünf Exemplare, die von der Statue gegossen wurden, in
Privatsammlungen. Die lebensgroße Bronzestatue stellt eine gestürzte nackte
Frau beim Aufprall auf den Boden dar. Der Ikonografie wurde mit einer sentimental anmutenden Inschrift auf einer Bodenplakette, bei der es sich um
ein Gedicht des Künstlers handelt, aufgeholfen: «We watched, / disbelieving
and helpless, / on that savage day / People we love / began falling / helpless
and in disbelief».
In der konfliktträchtigen Rezeption der Statue verstärkten sich wechselseitig die Widersprüche des Werks und die Aporien innerhalb einer Öffentlichkeit, die weder damals noch heute zu einem Konsens über Formen und Inhalte
der Erinnerung gelangt ist. Dem Künstler selbst wurde vorgeworfen, er sei zur
künstlerischen Auseinandersetzung mit den Attentaten nicht berechtigt, da er
sich am 11. September nicht in New York aufgehalten habe. Die Anfeindungen
gegenüber Fischls Statue bezogen sich auf die Motivwahl ebenso wie auf die
gegenständliche Bildsprache. Der Künstler verletzte das Tabu der Darstellung
der Menschen, die sich aus den Fenstern der Hochhäuser zu Tode stürzten.
Deren Bilder waren schon früh aus den Endlosschleifen des Fernsehens verschwunden, und man findet sie kaum in den vielen Fotobüchern, die zum 11.
September erschienen sind. Verbreitung fand zwei Tage nach den Attentaten
das Foto von Richard Drew mit dem Titel The Falling Man, das einen zum
Schemen distanzierten Menschen im Sturz vor dem völlig abstrakten Streifen200
Abb. 5: Eric Fischl, Tumbling Woman, 2002, Bronzeplastik © Eric Fischl
lineament der Gebäudefassade zeigt und durch die Fernsicht auf den Stürzenden sowie durch Retouchen am Bild den Schrecken des Geschehens an das
Erleben des Betrachters zurück verweist. Fischl bewahrt hingegen eine nahsichtige Gegenständlichkeit und geht mit seiner Stürzenden sogar noch einen
Schritt weiter. Denn er stellt nicht den Sturz, sondern den Aufprall dar. Er legt
es darauf an, mit einem Bild zu provozieren, für das es keine Darstellungskonventionen gibt und verstrickt sich doch zugleich in einer konventionellen
Formensprache. Die Aktdarstellung entrückt das Opfer in eine unangemessene Zeitlosigkeit. Die geknickte Körperhaltung erinnert an die aus aktuellem
Anlass invertierte Statuarik einer Sitzfigur in der Art von Michelangelos Ignudi
an den Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle. Schließlich spielt die Figur
in ihrer gegenständlichen Prägung auf eine Ikonografie des Jüngsten Gerichts
an, die den Sturz der Verdammten als gerechte, durch den Teufel vollzogene
Strafe der Sünder vorführt. Die Opfer der Anschläge – so lässt sich das aus
der Formensprache des Werks dargelegte Bildargument verstehen – erleiden
den Sturz aus eigener Schuld. Damit hat sich der Künstler in kaum mehr aufzulösende Widersprüche hineinbegeben, die in der öffentlichen Kritik teils
aufgenommen, teils auch polemisch zugespitzt wurden. Das Werk, das als ein
201
erstes Denkmal geplant war, wurde von der Öffentlichkeit delegitimiert und als
Monument der Erniedrigung der Opfer aus der Öffentlichkeit verbannt.
Fischls Figur und die sich daran entzündende Empörung hatten in den
Monaten nach den Attentaten symptomatischen Charakter. An der Statue
lässt sich beispielhaft ablesen, dass die künstlerische Verarbeitung der Ereignisse zumindest mit den traditionellen Mitteln der Kunst nicht gelungen
ist. Durch die Tumbling Woman wurde eine amerikanische Öffentlichkeit
alarmiert, die noch auf der Suche nach geeigneten Formen des öffentlichen
Gedenkens an die Anschläge war und bis heute ist. Darüber hinaus fügt sich
die Statue Fischls auch in eine breite Front der Ablehnung bündig ein, die
sich gegenüber den ersten Plänen für den Wiederaufbau der Trade Towers
formierte.
Die ersten Entwürfe für die Neubauung des Grundstücks, auf dem das
World Trade Center gestanden hatte, wurden im Juli 2002 vorgestellt. Es
handelte sich um einen Masterplan des New Yorker Büros Beyer-BlinderBelle, das den Auftrag von der nach der Zerstörung der Bürotürme gegründeten Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) erhalten hatte,
worüber die Öffentlichkeit nicht informiert worden war. Nun wurde der Ruf
nach der Ausschreibung eines internationalen Wettbewerbs umso lauter. Von
einer Bürgerinitiative, die unter dem Veranstaltungstitel Listening to the City
einen ganztägigen Kongress organisierte, wurde nicht nur den Plänen des
Investors eine Absage erteilt, sondern auch die Kernpunkte eines differenzierten Bauprogramms formuliert. Gefordert wurde eine Wettbewerbsausschreibung sowohl für die Gebäude als auch für eine Gedenkstätte. Verlangt
wurde sowohl eine wahrzeichenhafte Gestalt der neuen Hochhausbauten als
auch die Mischnutzung der Gebäude, die neben Büros auch Wohnungen
und Bildungsinstitutionen beherbergen sollten. Die plebiszitäre Euphorie
dieser Initiative konnte bereits damals nicht übersehen lassen, dass neben den
technischen Problemen die juristischen Grundlagen für die Kooperation und
die geteilte Planungsverantwortung zwischen der New Yorker Port Authority
als dem Grundstücksbesitzer und dem Immobilientycoon Larry Silverstein
als dem Pächter des World Trade Centers nicht geklärt waren.
Als im Januar 2002 in der New Yorker Galerie von Max Protetch eine
Ausstellung mit Architekturprojekten zum Wiederaufbau des Areals eröff202
net wurde, handelte es sich dabei um einen weiteren Schritt plebiszitärer
Eigen­initiative und Selbstbeteiligung seitens einer kritischen Öffentlichkeit.
Bereits der Titel der Ausstellung, Unofficial Design Proposals, signalisierte die
Distanz zu den Kommunalbehörden sowie zu den Investoren. Die mehr
als fünfzig Architekturbüros, die sich weltweit beteiligten, verstanden ihre
Entwürfe zunächst als Diskussionsvorschläge für die Wiederbebauung und
sie nutzten die Präsentation darüber hinaus auch als Möglichkeit, sich als
Kandidaten für einen Auftrag ins Spiel zu bringen. Mehrere funktionale und
formale Aspekte werden bei der Durchsicht der Projekte als zentrale Anliegen
der Architekten deutlich: Die Option einer variierten Rekonstruktion des
alten World Trade Center wurde nach wie vor aufrecht erhalten, jedoch mit
einem Konzept erweiterter privater und öffentlicher Nutzungen verbunden.
Entsprechend der Erwartung, die Neubauten müssten wie die zerstörten Vorgängerbauten eine städtebaulich dominierende Baugruppe darstellen, halten
die Architekten an der Gebäudetypologie des Hochhauses fest, doch den
Entwürfen steht – wenn man so will – der Schrecken ins Gesicht geschrieben.
In zahlreichen Projekten sind auf der einen Seite die Tragwerksstrukturen so
ausgelegt, dass sie einem erhöhten Horizontaldruck wie bei einem Flugzeugaufprall standhalten, auf der anderen Seite sollen gebündelte Turmsysteme
oder Gitterstrukturen Verbindungen zwischen den Türmen und Fluchtwege
nach unten gewährleisten.
Diese Ideen bildeten die Grundlage für den weltweit offenen Wettbewerb, der im August 2002 von der Lower Manhattan Development Corporation und der New Yorker Port Authority ausgelobt wurde. In mehreren Verfahrensschritten wurden am Ende sieben Architekturbüros mit der weiteren
Ausarbeitung ihrer Projekte beauftragt. Zu ihnen gehörte das Berliner Studio
Daniel Libeskind, das im Februar 2003 den Zuschlag erhielt. Nach wenigen
Monaten wurde Libeskind dem Hausarchitekt von Larry Silverstein, David
Childs vom Büro Skidmore Owings & Merrill, zur Seite gestellt. Dem Hochhausbauer Childs wurden schließlich die Kompetenzen als alleiniger Entwurfsarchitekt und Projektleiter übertragen, während Libeskind nur noch in
beratender Funktion fungiert.
Der Neubau der Hochhäuser und der Gedenkstätte wird seit 2004 verwirklicht. Das Ausgangsprojekt von Daniel Libeskind sah einen Kranz von
203
sechs Hochhäusern vor, die sich in der Art einer Treppe zu einer spitzen
Nadel in die Höhe schrauben (Abb. 6). Die Gebäudegruppe flankiert die
leeren Betonwannen der ehemaligen Twin Towers. Deren schrundige Betonwände sollten so belassen werden, wie sie nach dem Abtragen des Schutts und
der Ruinen hervortraten. Man kann die Hohlform als Ruinenrest der Türme
Abb. 6: Daniel Libeskind, Entwurf für das WTC, 2002, Rendering
204
selbst oder als eine Negativform von deren ehemaliger Existenz auffassen.
Damit bilden sie auch einen Reflex auf die ersten Ideen, die Türme als Ruinen zu bewahren und sie als Lichtarchitektur zu fingieren. Die Denkmalkonzeption greift mit dieser leeren Hohlform maßgeblich auf den Prozesscharakter des Ereignisses vom 11. September zurück. Denn das Denkmal verdankt
sich – so sollen wir glauben – nicht einer kreativen Kunstanstrengung, sondern die Katastrophe selbst hat den Gedenkort hervorgebracht. Der Ort der
Destruktion und der Relikte der Verschwundenen sollten sichtbar bleiben.
Das Kies und die Schuttreste, die am Boden des Betonkraters belassen werden sollten, wären mit der Asche von Toten vermischt gewesen. Hier gab es
vehementen Widerspruch von Seiten der Opferorganisationen, der das Vorhaben zu Fall brachte.
Während sich dieser Teil der Denkmalkonzeption gerade in seinem
Formreduktionismus als durchaus diskutabel dargestellt hätte, entgehen die
weiteren Elemente nicht einer banalen Rhetorik des patriotischen Symbolismus. Mit ihm wird dem Totengedenken eine Metaphorik des Optimismus
entgegengehalten. Das pfeilförmige Hochhaus wird 1776 Fuß (540 Meter)
hoch sein, wobei die Ziffer der Höhenbemessung an das Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung erinnern soll. Es stand freilich beim Entwurf Libeskinds noch im Wortsinne in den Sternen, was ein bedeutsames
historisches Datum mit einer Gebäudehöhe zu tun haben soll und wie der
Turm, dessen Gipfel die Gardens of the World mit der Nachschöpfung der
Weltklimazonen hätte aufnehmen sollen, technisch zu realisieren gewesen
wäre. Die geplante Pfeilform versteht der Architekt als eine direkte Reminiszenz an die Silhouette der Freiheitsstatue. Der Tower of Freedom ist so
in eigentümlicher semantischer Redundanz ein Denkmal des Denkmals der
Statue of Liberty. Auch zwei Plätze sind Bestandteil dieser urbanistisch bemessenen Bedeutungsmaschinerie. Euphemistisch als Keil des Lichts und als Park
der Helden benannt, sollten die Platzanlagen an jedem 11. September jeweils
an dem Moment, als das erste Flugzeug einschlug und als der zweite Turm
niedersank, ohne Schatten sein. Libeskind wurde unverzüglich nachgerechnet, dass sich diese Konstellation wegen der vorhandenen Randbebauung gar
nicht ergibt.
205
Der Grundstein für das von David Childs überarbeitete Projekt für den
Tower of Freedom wurde nach erheblichem Druck seitens der Stadt New York
und der Öffentlichkeit endlich im Jahr 2007 gelegt. Errichtet wird nun ein
sich nach oben verjüngender und verdrehender Büroturm auf rombenförmigem Grundriss. Über dem 60. Stockwerk schließt eine Aussichtsplattform
in 335 Metern Höhe den bewohnten Teil des Turmes ab. Darüber setzt sich
das Gebäude mit einem fast 200 Meter hohen halboffenen Aufbau fort, in
den Windturbinen zur Stromversorgung des Hochhauses installiert werden
sollen. Ein darüber aufgepflanzter Sendemast ragt als spitze Nadel bis in die
symbolische Höhe der 1776 Fuß hinauf. In der Childs-Version ist die große,
zum Himmel strebende triumphale architektonische Geste des Wolkenkratzers mit nationalen Konnotationen also noch geblieben. Aber ebenso unverkennbar ist im ikonologischen Gehalt des Projekts der Aspekt der Erinnerung
an das Attentat und an die Toten in den Hintergrund getreten gegenüber
schieren Renditeerwägungen sowie gegenüber dem Anspruch, dem Großbau
zu ökologischer Akzeptanz zu verhelfen. Der Ökologie- hat den Erinnerungsdiskurs abgelöst. Von Libeskinds ursprünglicher Kristallspirale aus Hochhäusern, die sich in stilistischem Einklang zum Tower of Freedom hinauf winden
sollten, ist fast nichts mehr übrig geblieben, nachdem 2006 die Entwürfe für
die Einzeltürme an verschiedene Architekten (Büros Norman Foster, Richard
Rogers und Fumihiko Maki) vergeben wurden.
Abb. 7: Peter Arad und Michael Walker, Reflecting Absence, Entwurf für die WTC
Memorial Plaza in New York, 2004, Rendering
206
Für den Gedächtnispark liegt seit Januar 2004 ein Entwurf von Michael
Arad und Peter Walker vor (Abb. 7). Der Gedenkort wird ergänzt um einen
Museumsbau, der vom Osloer Architekturbüro Snohetta gestaltet wird. Der
Memorial Plaza liegen die zwei quadratischen Becken der footprints der Twin
Towers zugrunde. Wasser fließt an den Beckenrändern herab und sammelt
sich in einer mittleren Vertiefung. Die Wandungen sind von unterirdischen
Wandelgängen umgeben, die zum Wasser hin offen sind und mit Schrift­tafeln
mit den Namen der Opfer ausgestattet werden. Die beträchtlichen Freiflächen
zwischen den footprints werden Pinienwäldchen zieren. Das Ganze ist zunächst
einmal eine radikale Abkehr von der Rhetorik des Libeskind-Entwurfs. Mit
den Schrifttafeln der Opfer sind aber die Anklänge an Soldatendenkmäler
offenkundig, allen voran natürlich das Vietnam-Denkmal in Washington. Das
meditative Flair der Anlage und die schlichte Tatsache, dass ein Gedenkort mit
einem Brunnen verbunden wird, zeigt Parallelen zur gegenwärtigen Gedenkpraxis, die heute an der Umgebung der Baustelle zu beobachten ist. Mehrere
von den Explosionen entwurzelte Bäume wurden denkmalhaft gefasst und
dienen als Gedenkorte. Auf eine naive, den Außenstehenden befremdende
Weise kommt die Metapher der Entwurzelung zum Zuge, und das abgestorbene Naturrelikt soll die abwesenden Toten stellvertretend vergegenwärtigen.
Es wäre zu überlegen, ob sich nicht auch noch eine solche memoriale Naturmetaphorik den Konventionen der Erinnerung an Kriegszerstörungen verdankt, die zum Beispiel durch zahllose Ruinenfotos, in denen tote Bäume als
Menetekel der Verwüstung in Szene gesetzt sind, tradiert werden.
Die Feuerwehrleute sind mittlerweile aus den Opferverbänden ausgeschert und haben sich mit einem eigenen Denkmal selbständig gemacht. Es
handelt sich um eine bronzene Umsetzung des Fotos der Feuerwehrleute in
den Ruinen des World Trade Centers, allerdings in monströs aufgeblähtem
Kolossalformat und kläglicher plastischer Umsetzung.20 Jenseits der schieren
Einfallslosigkeit mag man in diesem Vorhaben, bei dem die Entsprechung
zum Nachbau des «Iwo Jima»-Fotos mit dem Soldatendenkmal in Arlington
gesucht wurde, noch einmal das hartnäckige Beharren auf der Analogie zum
20 Stan Watts und Kim Company: To Lift a Nation, 9/11 Living Memorial, Emmitsburg
(Maryland), National Emergency Training Center. Statuengruppe aus Bronze, 2008.
207
Zweiten Weltkrieg als Deutungsrahmen für das Ereignis des 11. Septembers
erkennen.
Die hier beschriebene mediale Konfigurierung des Ereignisses ist als Teil
einer umfassenden Geschichtspolitik zu verstehen. Sie wurde für mehrere
Jahre zu deren zentralem Argument. Die Medienvermittlung wurde von der
amerikanischen Öffentlichkeit wie von den Regierungsinstanzen gleichermaßen getragen, wobei die Verteilung der Rollen in unterschiedlichen Phasen
kaum zu bestimmen ist. Denn das strategische Operieren mit Geschichtsdeutungen zur Legitimierung politischer Projekte findet als staatliches Regierungshandeln gerade bei der Bereitstellung von Bildproduktionen im Rahmen einer politischen Kommunikation und sozialen Mobilisierung statt, die
die gesamte Gesellschaft durchdringt. Geschichtspolitik zielt in recht breitem
Interesse auf die Stabilisierung von Gesellschaften in krisenhaften Übergängen nach Ereignissen, die unvermittelt hereinbrechen, aber langfristige strukturelle Folgen haben. Auffällig bleibt bei alledem die Tatsache, dass die so
verstandene Geschichtspolitik mit vergleichsweise eindimensionalen, aber
höchst effizient platzierten Bildformeln operierte.
Ansonsten ist das Urteil über die gegenwärtigen Bebauungspläne zwiespältig. Nach einigen Jahren lässt sich ein deutlicher Wandel in der Erinnerungskultur des 11. Septembers beobachten. Wenn nun die geschichtsträchtig-numinosen Künstlereingebungen, mit denen Libeskind in jeder Hinsicht
hoch hinaus wollte, dem Pragmatismus der Investment-Architektur von
David Childs und der Kundenfreundlichkeit des Memorial Site Platz gemacht
haben, so kann man darin zweifelsohne ein Indiz sehen, dass die jahrelange,
offizielle Nötigung zur Betroffenheit allmählich nachlässt. Das wäre die positive Einschätzung. Die despektierliche Lesart liefe darauf hinaus, dass das
aktuelle Kriegsgeschehen in Afghanistan und im Irak ganz in den Vordergrund gerückt ist. Die Militarisierung der Gesellschaft in den USA, die wir
nun seit Jahren in allen zivilen Lebensbereichen beobachten, und der von den
USA seit 2002 geführte global war on terror, der von der Bush-Administration
ganz unverblümt mit imperialen und ökonomischen Motiven geführt wird
und der als Militärstrategie erst im Jahr 2009 von Barack Obama für offiziell beendet erklärt wurde, bedürfen heute nicht mehr der visuellen Begründungen, die sich auf das Ereignis des 11. Septembers 2001 beziehen.
208
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211
Narration und (De-)Legitimation: Der zweite Irak-Krieg
im Kino
Martin Seel
Dieser Beitrag geht der Frage nach, ob und inwiefern fiktionale Kinofilme
unter heutigen Bedingungen die Rolle von Rechtfertigungsnarrativen übernehmen können. Beginnen werde ich mit einigen sehr knappen Bemerkungen
über den generellen Zusammenhang von Erzählung und Rechtfertigung
außerhalb und innerhalb der Künste. Danach werde ich einige Fragmente
der filmischen Thematisierung des zweiten Irak-Kriegs (oder, in einer anderen Terminologie, des dritten Golfkriegs) kommentieren. Schließen werde
ich mit vier Thesen über die Verbindung von Narration und Legitimation in
den einschlägigen Filmen.
I. Erzählung und Rechtfertigung
Seit Platons Zeiten, man denke nur an die Opposition (oder scheinbare
Opposition) zwischen Rhetorik und Dialektik oder an diejenige von Mythos
und Logos, ist ein innerer Zusammenhang von Erzählung und Rechtfertigung immer wieder bestritten worden. Rechtfertigung, nach dieser Vorstellung (bei der man sich allerdings hüten sollte, sie geradewegs Platon zuzuschreiben), ist eine Sache der Gründe und also des Argumentierens oder
Erklärens. Erzählung, nach dieser Vorstellung, ist eine Sache der Schilderung
dessen, wie etwas geschehen ist oder geschehen könnte, und also eines Ausmalens von Begebenheiten, das als solches nicht – oder doch nicht hinreichend rational – erklären oder rechtfertigen kann, warum etwas so geschah,
wie es geschah. Erzählungen hätten demnach bestenfalls einen explikativen
oder explorativen, nicht aber einen explanativen Status. Sie gehörten allenfalls einem context of discovery, nicht aber einem context of justification an.
213
Freilich gehört es zu den Prämissen des Forschungsverbunds, innerhalb
dessen meine Überlegungen entstanden sind, dass diese Vorstellung falsch ist.
Sie führt schon deshalb in die Irre, weil Erzählungen im Alltag wie in Wissenschaft und Politik Beziehungen zwischen Ereignissen herstellen können, die
durchaus zu erklären und/oder zu rechtfertigen vermögen, wie und warum
es zu Veränderungen einer bestimmten Art kam: zu der Peinlichkeit eines
verspäteten Erscheinens bei einer Konferenz oder zu der naturgeschichtlichen
Entwicklung einer neuen Spezies. Insbesondere dann, wenn Unerwartetes
und Unerwartbares bis hin zum schieren Zufall seine Hand im Spiel hat,
zumal in der Form, in der Individuen oder Kollektiven etwas zum Ereignis
wird, das die Koordinaten ihres bisherigen Begreifens und Handelns sprengt
(oder doch zu sprengen scheint) – insbesondere dann können Erzählungen
verständlich machen, oder es versuchen, wie eine Anzahl von Vorkommnissen
kausal und/oder motivational miteinander verbunden war. Sie bieten – unter
bestimmten Aspekten und bis zu einem gewissen Grad – Erklärungen dafür
an, wie das, was aufeinander folgte, auseinander erfolgen konnte. Dabei gibt
das Erzählen einen durchaus anderen Aufschluss als ein nomologisches Erklären, das das kontingent Erscheinende auf gesetzmäßige Verläufe zurückzuführen sucht. Denn, wie Michael Hampe in seiner Kleinen Geschichte des Naturgesetzbegriffs schreibt, «auch die Erzählung bewältigt Kontingenz, indem sie
Einmaliges und Einzelnes in einen Zusammenhang einbettet, doch wird dies
dadurch nicht zu einer Instanz von etwas Allgemeinem, sondern mit anderem Einzelnen verknüpft. Durch diese Verknüpfung wird die Veränderung,
die das Auftauchen oder Verschwinden des Einzelnen darstellt, nicht irreal
oder zum Epiphänomen, sondern zu einem Geschehnis in einem nachvollziehbaren Prozess, dessen Ausdehnung von der ‹Reichweite› der Erzählung
abhängt».1 Eine Erzählung, mit einem Wort, kann Veränderungen auf eine
spezifische Weise einsichtig machen – und somit auf ihre Weise Gründe dafür
angeben, warum etwas so geschah, wie es geschah. «Insofern», sagt Hampe
deshalb, «ist die Erzählung auch eine Art der Erklärung, aber eben keine, die
das Neue auf das Alte oder das Verschiedene auf das Immergleiche zurückführt, sondern eine, die durch genaue Beschreibung die Aufmerksamkeit so
1
214
Hampe (2007), 26.
lenkt, dass Sinnzusammenhänge, Übergänge, Plausibilitäten entstehen, die
nicht die Übergänge deduktiver Schlüsse sein müssen».2
Eine wissenschaftstheoretische Rehabilitierung der Erzählung auf diesen
Spuren reicht allerdings noch nicht aus, um die besondere Verbindung von
Erzählung und Rechtfertigung zu verstehen. Hierzu ist es nötig, zunächst die
Differenz zwischen Rechtfertigung und Erklärung ins Auge zu fassen. Denn
ungeachtet der unscharfen Ränder zwischen den beiden Begriffen sowie der
fließenden Übergänge zwischen den zugehörigen Praktiken, hat die Sache der
Rechtfertigung einen charakteristischen Akzent. Eine Rechtfertigung kann
nur aus einer tatsächlich oder advokatorisch eingenommenen Teilnehmerperspektive gegeben werden. Ob ein Wissenschaftler seine Hypothesen, ein
Politiker seine Strategien, ein Unternehmer seine Planungen oder ein alltäglich Handelnder sein Vorgehen verteidigt, gleichviel: sie alle rechtfertigen
aus jeweils ihrer Perspektive, was sie erkannt oder getan zu haben glauben.
Entsprechend verfährt eine Kritik an den Rechtfertigungen anderer. Die Kritiker bringen aus jeweils ihrer Sicht Gründe gegen die Annahmen und das
Selbstverständnis der anderen ins Spiel, oft auch, um nachzuweisen, dass
die Gegenseite eine irreführende Haltung zu der jeweiligen Sache hat. Im
Unterschied zu einer beobachtenden Erklärung von Vorgängen, in die man
selbst gar nicht involviert ist, schließt eine Rechtfertigung stets eine Festlegung
auf Standards mit ein, auf die man sich in ihrer Durchführung stützt. Wer
etwas rechtfertigt oder eine gegebene Rechtfertigung kritisiert, mit anderen
Worten, rechtfertigt immer auch sich – und damit die eigene Sicht auf das,
worum es geht. So sehr insbesondere eine Rechtfertigung des eigenen Handelns oder desjenigen anderer meist eine Erklärung darüber mit einschließt,
warum und inwieweit ihr Vollzug angemessen oder unangemessen, absichtlich oder unabsichtlich, planvoll oder zufällig war, ihre Pointe liegt stets auch
in einer direkten oder indirekten Affirmation der Perspektive, aus der heraus
sie erfolgt.
Hier kommt die narrative Rechtfertigung ins Spiel. Denn sie kann dort,
wo es um die Legitimation oder Delegitimation individuellen oder kollektiven Handelns geht, stärker als alle anderen Formen der Rechtfertigung,
2
Ebd., 26f.
215
zusammen mit einer Schilderung und Bewertung des jeweiligen Tuns und
Widerfahrens, die normativen Einstellungen kommunizieren, aus denen
heraus es sich ereignete. Während Erzählungen im allgemeinen faktische oder
auch fiktive Verläufe auf unterschiedlich komplexe Weise in einen kausal wie
motivational, sei es durchsichtig, sei es undurchsichtig gegliederten Zusammenhang bringen, leisten Rechtfertigungsnarrative mehr.3 Sie geben nicht nur
dem Erzählten, sondern auch der Erzählung eine besondere Zuspitzung. Sie
machen verständlich oder stellen infrage, wie recht oder gerecht in gegebenen
Situationen gehandelt wurde, und auch, wie viel Recht oder Unrecht den
aktiv wie passiv Beteiligten dabei widerfahren ist. Durch die Art, durch das
Wie der Erzählung lassen sie dabei – mit der Wahl ihrer Worte, in der Komposition von Anfang und Ende, im Verweilen bei bestimmten Ereignissen und im
Übergehen anderer, in der Verzögerung und Beschleunigung des Handlungsverlaufs und durch viele andere stilistische Mittel – ein spezifisches, auf die
eine oder andere Weise wertend gefärbtes Licht auf das Was des dargebotenen
Geschehens fallen. In diesem Modus artikulieren und modifizieren sie – und
transformieren gelegentlich – die Perspektive, aus der diejenigen normativen
Gründe für das individuelle und kollektive Handeln Kraft gewinnen sollen,
die aus der Sicht der jeweiligen Erzähler oder Erzähl-Instanzen vor allem zählen. Dies leisten Rechtfertigungsnarrative bereits im Alltag – umso mehr aber
in der Gestalt theologischer, historischer und politischer Großerzählungen
bis hin zu denen des Mythos und der Kunst. 4
3
4
216
Rechtfertigungsnarrative, so nehme ich an, stellen eine Unterklasse des Erzählens dar, die von
Erzählungen ohne (eindeutige) Rechtfertigungsdimension – wie etwa der Anekdote, dem Witz
oder in Kontexten des Small Talks erzählten Geschichten – unterschieden werden müssen.
Das komplexe Verhältnis von Sichtweisen und Gründen kann ich hier nicht eigens behandeln. Nur soviel: Gründe gewinnen ihre spezifische argumentative Kraft nur in jeweiligen
Kontexten ihres Gebrauchs, und damit zugleich im Kontext der kognitiven und normativen
Einstellungen, in dem sie vorgebracht werden. Sie sind in ihrer Gültigkeit aber nicht von
bestimmten solcher Sichtweisen (und erst recht nicht von bestimmten Formen ihrer narrativen, metaphorischen oder auf andere Weise ästhetischen bzw. künstlerischen Präsentation)
abhängig. Wenn dies zutrifft, leisten Rechtfertigungsnarrarive stets eine Arbeit an Kontexten
des Verstehens, aus denen heraus bestimmte normative Gründe eine besondere Kraft gewinnen können. Diese Einbettung praktischer Rationalität in ein oft latent bleibendes Geflecht
von Verweisungen ist vielleicht ihre entscheidende Leistung.
Oder eben, in jüngerer Zeit, in der Gestalt des Films. Auf Grund seiner
audio­visuellen Bewegtheit ist der Film in besonderer Weise zu erzählenden
Darbietungen disponiert – nicht nur in seinen fiktiven, sondern auch in seinen dokumentarischen Genres (wobei die Grenzen zwischen diesen nicht
selten fließend sind). Mehr noch als andere Erzählformen kann der Film die
Situationen, durch die er führt, von innen heraus entfalten, und dies nicht
zuletzt deshalb, weil sich alles, was in seinem Verlauf sichtbar und hörbar
wird, in einem Horizont von Räumen und Zeiten vollzieht, die dem Geschehen auf Leinwand oder Bildschirm entzogen bleiben. Auf diese Weise vermag
er die Wahrnehmung seiner Betrachter in eine virtuelle Welt zu führen –
in eine Welt freilich, die mit der realen in sehr unterschiedlichen Graden
verschwis­tert und in ebenso unterschiedlichen Maßen auf sie bezogen sein
kann.5 Diese Disposition befähigt das filmische Medium auch, Situationen
in besonderer Intensität aus der Perspektive der an ihnen Beteiligten zu präsentieren – oder aber, und meist zugleich, auf Situationen geschilderten Handelns und Widerfahrens eine Sicht zu eröffnen, und damit dem Publikum
nahe zu bringen, die von derjenigen der handelnden Figuren oder Charaktere
mehr oder weniger stark differiert. Dies ist einer der Gründe dafür, warum
zumal in bedeutenden Spielfilmen das in ihnen dramatisierte Geschehen zwar
einerseits verständlich gemacht, andererseits aber auch wieder verrätselt wird,
wie es in den großen künstlerischen Erzählungen eigentlich immer geschieht.
Eine Eigenart des filmischen Erzählens – wiederum: vor allem im Großgenre des Spielfilms – liegt überdies in seinem besonderen Zeitmodus. In
den meisten Modi des Erzählens ist das, was erzählt wird, zum Zeitpunkt
der Erzählung unwiderruflich vorbei. In der Ästhetik von Spielfilmen aber
verhält es sich oftmals anders – selbst dann, wenn die Handlung in vergangenen Zeiten angesiedelt ist. Denn die Kunst des filmischen Erzählens kulminiert häufig darin, das Erzählte so zu gestalten, als ob es gerade gegenwärtig
sei. Dadurch nämlich, dass die Zuschauer – zumal im Dunkel des Kinos –
dem Geschehen auf der Leinwand unvermeidlich unterliegen, bleibt alles,
was sich dort abspielt, von dem Hier und Jetzt des audiovisuellen Erscheinens abhängig, das einen starken Eindruck der Präsenz des Erscheinenden
5
Vgl. Seel (2008).
217
erzeugt – einschließlich der Unsichtbarkeiten und des Unhörbaren, von
denen es fortwährend umhüllt ist. Darin liegt eine besondere Kraft nicht
allein des Erzählens, sondern auch der Artikulation jeweiliger Perspektiven
durch das Erzählen – und damit der potentiellen Rechtfertigung dieser Perspektiven sowie der normativen Einschätzungen, die sie enthalten. Unter den
eher populären Künsten ist es daher das Kino, das – meist in Formen einer
exemplarischen Darbietung – eine vergleichsweise große Macht der Legitimation oder Delegitimation werthafter Einstellungen zu existentiellen, sozialen,
politischen oder moralischen Konstellationen und Konflikten in Geschichte,
Gegenwart (oder auch in einer möglichen Zukunft) entfaltet.6
II. Der zweite Irak-Krieg im Film
Nun aber zu der Präsenz des zweiten Irak-Kriegs in filmischen Erzählungen.
Mein erstes Beispiel allerdings stammt nicht – oder zumindest nicht auf den
ersten Blick – aus dem Kino. Am 1. Mai 2003, sechs Wochen nach Beginn
der unter Führung der USA erfolgten Invasion der sogenannten «Koalition
der Willigen» gegen das Regime des Saddam Hussein, trat der damalige Präsident George W. Bush auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln vor die Fernsehkameras und erklärte den Krieg für beendet. Mission accomplished, prangte
auf einem großen Banner an der Kommandobrücke des Schiffes – eine Botschaft, die freilich in der Zeit danach zu einem ironischen Schlagwort für das
Scheitern des alliierten «Kampfes gegen den Terror» wurde.
6
218
Hier wäre zusätzlich zu erörtern, inwiefern die Kontexte der Verwendung von Erzählformen und Erzählungen für ihren legitimatorischen Status entscheidend sind – nicht
allein, aber auch im Kino, wofür ich sogleich ein Beispiel geben werde. Ferner müssten
die potentiellen Verhältnisse ihrer wechselseitigen Verdrängung und Überlagerung, ihrer
Koexistenz, Konkurrenz und Konsistenz, sowie ihrer Aktualisierung und Re-Aktualisierung untersucht werden, die für ihren rechtfertigenden Wert und ihre diesbezügliche
Kraft oftmals ausschlaggebend sind. Schließlich wäre genauer zwischen faktualem und
fiktionalem Erzählen zu unterscheiden, einschließlich der speziellen Bedeutungen, die
diese Unterscheidung in der Produktion von Filmen gewinnt.
Dieser feierliche Auftritt des amerikanischen Präsidenten hatte ein spektakuläres Vorspiel, das in allen Nachrichtenbildern von diesem Tag einen
ebenso breiten Platz einnahm wie die Erklärung danach. Denn Bush landete
mit einem Kampf-Jet auf dem Flugzeugträger und entstieg diesem in der
Montur eines Armeepiloten, so als sei er unmittelbar aus dem Einsatzgebiet herbeigeeilt, um die frohe Botschaft zu verkünden. In jovialer Siegerpose
mischte er sich in dieser Verkleidung unter die Besatzung des Schiffes und
nahm deren Ovationen entgegen.7
Dass es sich hierbei um die Inszenierung eines möglichst weltweiten
Medienereignisses handelte, werden auch diejenigen erkannt haben (oder
hätten auch diejenigen erkennen können), die nicht so genau darüber im
Bilde waren, dass der jüngere Bush sich seinerzeit zeitweilig vor dem Militärdienst gedrückt hat, dass er im Unterschied zu seinem Vater nie dafür ausgebildet wurde, einen solchen Kampfjet zu fliegen, und dass der Flugzeugträger,
auf dem diese reichlich voreilige Siegesparty stattfand, nur einige Seemeilen
vor der amerikanischen Westküste unterwegs war. Zudem handelt es sich
bei diesem Empfang eines Präsidenten durch seine Untergebenen um ein filmisches Zitat – um eines jener Zitate, die gerade dann um so wirksamer sind,
je weniger es dem Publikum bewusst ist, dass hierbei auf Darstellungsformen
zurückgegriffen wurde, die ihm aus anderen Kontexten wohlvertraut sind.
Denn der Auftritt von George W. Bush auf der Abraham Lincoln ist ein kaum
verhülltes Remake des Finales aus dem Hollywood-Blockbuster Independence
Day von Roland Emmerich aus dem Jahr 1996. In der Rolle des Präsidenten
Thomas J. Whitmore führt dort Bill Pullman als Pilot eines Kampfflugzeugs
die Fliegerschwadron an, die das Mutterschiff der zerstörungswütigen Aliens
ausschalten soll (Freilich gelingt dies in der Filmhandlung letztlich nur durch
einen Kamikaze-Einsatz – und also ein Selbstmordattentat – eines anderen
Piloten, der aufgrund seines Vietnam-Traumas im Leben gescheitert war
und nun doch zum Helden wird). Am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag der
Vereinigten Staaten, gelingt die Befreiung auch des Rests der Welt von den
7
Die hier kommentierte Sequenz findet sich in dem Film Fahrenheit 9/11 (USA 2004,
R: Michael Moore), dessen polemischen verbalen und musikalischen Kommentar ich
aber unberücksichtigt lasse. – Meine Interpretation dieser Bildfolgen stützt sich auf eine
Zusammenarbeit mit Angela Keppler.
219
außerirdischen Mächten des Bösen – und der Präsident kehrt aus dem von
der Verdunklung durch die riesigen Ufos der Angreifer befreiten Himmel auf
die Erde zurück. In Fliegermontur begibt er sich durch das Gedränge seiner
begeisterten Mitstreiter zu seinem Hauptquartier.
Wie im Film, so macht dieser komparative Seitenblick deutlich, haben
die Regisseure des Bush-Auftritts ihren Präsidenten auf dem Flugzeugträger
in Siegerpose auftreten lassen. Darin waren Anspielungen auf viele weitere
Heldengeschichten des Kinos enthalten, etwa auf den Film Top Gun von
Tony Scott aus dem Jahr 1986, in dem Tom Cruise am Ende als umjubelter
Pilot auf einem ähnlichen Flugzeugträger landet, und nicht zuletzt auf den
Film Air Force One von Wolfgang Petersen aus dem Jahr 1997, in dem Harrison Ford einen höchst tatkräftigen Präsidenten im Anti-Terror-Kampf gibt.
Zwar ist die Ikonografie in diesem Film eine durchaus andere, immerhin
aber wurde die Lockheed S-3 Viking, der der reale Präsident am 1. Mai 2003
entstieg, kurzerhand auf den Namen Navy One getauft.
Über die politische Funktion dieser Anleihen beim populären Kino dürfte kaum ein Zweifel bestehen. Es ging darum, jene Bilder im kollektiven
Unterbewusstsein vor allem des amerikanischen Publikums zu löschen oder
doch zurückzudrängen, in denen nach den Anschlägen vom 11. September
2001 ein zunächst rat- und tatloser Präsident in der Rolle eines gedemütigten
Opfers erschien. Man denke an die Nachrichtenbilder, in denen ein paralysierter George W. bei einem Besuch einer amerikanischen Grundschule die
Nachricht der Attacken auf das World Trade Center empfing, oder an jene,
in denen er – in volksnaher Zivilkleidung – auf dessen Trümmern die Rettungsmannschaften (und mit ihnen die Nation) zu trösten und zu ermutigen
versuchte. Die Siegerposen anderthalb Jahre später sollten all dies vergessen
machen – und, kaum weniger wichtig, Material für die kommende Kampagne zur Wiederwahl im Jahr 2004 bereitstellen, das dann freilich wegen
der misslungenen Befriedung des Irak nicht zu gebrauchen war. Dennoch:
Hier wurde, wie schon durch den embedded journalism während der ersten
Phase des zweiten Irak-Kriegs, mit Bildpolitik Politik gemacht, mit dem von
der Bush-Administration unterschätzten Risiko freilich, dass sich eine solche
Bildpolitik über kurz oder lang auch gegen ihre Erfinder wenden kann.
220
Wie es in filmischen Nachrichtenbeiträgen auch ansonsten nicht unüblich ist, operierte diese Bildpolitik durchaus mit Elementen einer erzählenden
Darstellung – jedoch in diesem Fall auf eine geradezu ostentative Weise. Die
Parallelaktion der beiden Präsidenten in Independence Day einerseits und auf
der realpolitischen Bühne des Flugzeugträgers andererseits betten die letztere
in eine Tradition des kinematografischen Erzählens ein. Sobald dies erkannt
ist, fallen freilich auch die Unterschiede der beiden Inszenierungen auf. Während sich der fiktive Präsident, der gerade die Rettung des überlebenden Teils
der gesamten Erdbevölkerung befehligt hat, im Spielfilm in legerer Haltung
und Militärkleidung unter seine Getreuen mischt, stolziert George Bush der
Jüngere wie eine Werbefigur für Armeeausstattung durch die Reihen eines
bestellten Jubelvolkes – denn um einen politischen Werbefilm handelt es sich
hier durchaus. Zugleich aber reichen die Parallelen weiter. Denn sowohl die
Spielfilm-Sequenz als auch diejenige aus den Fernsehnachrichten handeln –
oder, wie in dem propagandistischen Auftritt von Bush, sollen han­deln –
von Zuständen nach der Gewalt. Um der positiven Botschaft eines Happy
Endings willen wurden deren verheerende Wirkungen sowohl im Spielfilm
als auch in den durch eine aufwendige präsidiale Inszenierung lancierten
Nachrichtenberichten ausgeblendet. Wie im Spielfilm: So wollte sich der Präsident der Vereinigten Staaten im Mai 2003 im Augenblick seines – wie sich
bald herausstellte: vermeintlichen – Sieges der Welt präsentieren. Darin lag
zugleich ein massiver Versuch der Rechtfertigung der amerikanischen – und
alliierten – Kriegspolitik in den Jahren nach dem 11.09.2001. Dem weltweiten Publikum sollte eine – je nach seiner Perspektive – optimistische oder
ernüchternde Sicht auf das Geschehen im Irak vermittelt werden.
Ein weiterer Unterschied lässt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen dem
Kino-Original und seiner propagandistischen Adaption sichtbar werden. Die
Formen kriegerischer Gewalt, die es in einem Spielfilm wie Independence Day
reichlich zu sehen gibt, haben mit realpolitischen Verwicklungen zunächst
einmal gar nichts zu tun. Hier wird Gewalt zu Unterhaltungszwecken lediglich imaginiert. Jedoch wird diese Imagination – wie in nicht wenigen anderen Fällen auch – mit einer durchaus ideologischen Affirmation der Einheit
und Stärke der Vereinigten Staaten und ihrer furchtlosen Führung verbunden. Hiervon lebt auch das Zitat im medialen Vorspiel der Siegesrede des spä221
teren Kriegsherren George W. Bush, das seinerseits, wie gesagt, eine direkte
Reaktion auf die Bilder von 9/11 darstellte. Zugleich aber wurde hier in der
Erklärung des Endes der Kampfaktionen ein Zustand des realen Weltlaufs
annonciert – eine Beschreibung der militärischen und politischen Situation
im Irak, die sich deshalb auch als einigermaßen irrig herausstellen konnte,
weswegen die Bilder vom 1. Mai 2003 bald darauf zu einem Dokument der
gravierenden Fehleinschätzungen der dortigen Lage wurden.
Und sie hat sich mittlerweile in unterschiedlichem Ausmaß gegen die
eindimensionale Regie der diesen Krieg anführenden Mächte gewendet.
Denn was im Irak seitdem geschah, vollzog sich eben nicht wie in den patriotischen oder propagandistischen Filmen, die von dem glorreichen Verlauf
eines Kampfes um Unabhängigkeit erzählen – weswegen es mittlerweile über
30 Kinofilme gibt, die auf direkte oder indirekte Weise das Trauma dieses
Krieges mit vorwiegend kritischer Intonation zu verarbeiten suchen.8
Jedoch: Nicht alle dieser Filme verhalten sich mehr oder weniger kritisch.
Es gibt immerhin einige Spielfilme, die sich einigermaßen apologetisch vor
allem mit den Folgen der Invasion in den Irak befassen.9 Einer von ihnen ist
der amerikanische Spielfilm Home of the Brave von Irwin Winkler aus dem
Jahr 2006. Wie die knappe Hälfte der in den USA seither produzierten Filme
über das Geschehen im Irak spielt die Handlung vorwiegend in den Staaten.
Erzählt wird die Geschichte von vier Heimkehrern von der Front im Nahen
Osten – einer Frau und drei Männern. Sie alle kommen stark traumatisiert
8
9
Hierzu zählen Spielfilme wie: Lions for Lambs (USA 2007, R: Robert Redford); Battle
for Haditha (UK 2007, R: Nick Broomfeld); Redacted (USA/CAN 2007, R: Brian De
Palma); In the Valley of Elah (USA 2007, R: Paul Haggis); The Hurt Locker (USA 2008,
R: Kathryn Bigelow); Generation Kill (USA 2008, HBO-Serie, P: David Simon / Ed
Burns); The Messenger (USA 2010, R: Oren Moverman); Green Zone (USA/UK 2010,
R: Paul Greengrass). Unter den dokumentarischen Filmen (alle mit eindeutig kritischer
Intonation) seien genannt: Weltverbesserer auf dem Schlachtfeld (GER 2007, R: Teresina
Moscatiello); Heavy Metal in Baghdad (USA/CAN 2007, R: Suroosh Alvi, Eddy Moretti);
Standard Operating Procedure (USA 2008, R: Errol Morris); Life After the Fall (UK/Irak
2008, R: Kasim Abid).
Z.B. Saving Jessica Lynch (USA 2003, R: Peter Markle); American Soldiers (CAN 2006, R:
Sidney J. Furie); The Lucky Ones (USA 2008, R: Neil Burger); Stop-Loss (USA 2008, R:
Kimberly Peirce).
222
nach Hause zurück – traumatisiert vor allem durch ihren allerletzten, sehr
verlustreichen Einsatz in den Straßen einer Stadt im Irak (Al Hayy). Der
schwarze Außenseiter dieser Gruppe dreht nach einer Weile durch und wird
in einer Auseinandersetzung mit der Polizei erschossen. Die Frau hingegen,
die ihren rechten Unterarm verloren hat, findet mit einem überaus netten
Kollegen ins Bett, der schwarze Chirurg findet eine ebenso attraktive wie
fürsorgliche – ebenfalls schwarze – Therapeutin, die ihm hilft, seine Konflikte in Beruf und Familie zu bewältigen. Das Trauma kann also überwunden werden. Die vierte Figur freilich entschließt sich gegen ihren ursprünglichen Willen für einen erneuten Einsatz im Irak. Der Film endet mit einem
längeren inneren Monolog dieses nicht gebrochenen, aber doch erschütterten
Helden, in dem er seinen Eltern, denen er dies von Angesicht zu Angesicht
nicht zu sagen vermag, gleichsam vor und für sich selbst erklärt, warum er
nicht anders kann, als sich erneut an einer ihm mittlerweile durchaus zweifelhaften Mission zu beteiligen. Diese innere Rede wird zu Bildern der Stationen seiner Reise zurück in den Irak, dem Training sowie dem Beginn des
ersten Einsatzes dort gesprochen. Der Film endet mit einem zunächst in
die letzte Szene eingeblendeten, dann auf schwarzem Grund erscheinenden
Machiavelli-Zitat: «Wars begin where you will but they do not end where you
please». Hier einige Auszüge aus diesem Monolog:
Dear mom and dad, I know you don’t understand why I reenlisted. It
is confusing and scary for all of us. I know that. But I have to go back.
I don’t wanna die and Jordan didn’t want to die either. And maybe
when we were getting over there the first time we didn’t know where
we were getting into. Maybe the leaders of our country didn’t know
where they were getting into. Maybe the people don’t want us there,
maybe this whole thing is just making it worse. But even after all
that I can’t stay behind, knowing there are soldiers over there getting
attacked every day and dying every day. I don’t feel like it’s wrong
with me for wanting to go back over there and help. (…) I hope this
can make sense to you, because it makes perfect sense to me. These
are my guys, and I need them, just as much as they need me. (…)
I’m going back, and I’m going back to the best job I know how (…).
223
Die Rechtfertigung des jungen Soldaten klingt gewiss ganz anders als
die siegesgewissen Töne seines Präsidenten im Mai des Jahres 2003 – dem
Jahr, in dem auch die Handlung des Films angesiedelt ist. Dennoch entfaltet
Home of the Brave eine durchaus apologetische Perspektive auf den zweiten
Irak-Krieg. Es lohnt sich, so legt sie nahe, und trägt für diejenigen, die es
aushalten, wenn auch mit Schmerzen, zur Charakterschulung bei, dem eigenen Land – und vor allem den eigenen Kumpels – unter Einsatz des eigenen
Lebens beizustehen, wie immer es um die Legitimität dieses Kampfes gegen
den Terror auch bestellt sei. Ein Übriges tut das abschließende MachiavelliZitat: Jedes Kriegsgeschehen ist nun einmal unwägbar – eine Unwägbarkeit,
die seinen Initiatoren nicht – oder doch nicht zur Gänze – zum Vorwurf
gemacht werden kann.
Eine derartige, wie immer durchwachsene affirmative Wende gibt es in
dem Spielfilm In the Valley of Elah von Paul Haggis aus dem Jahr 2007 nicht.
Wie in manch anderem der einschlägigen Filme geht die Story auch hier auf
eine wahre Begebenheit zurück. Er hat seinen Schauplatz ebenfalls fast ausschließlich in den USA. Die (von Tommy Lee Jones gespielte) Hauptfigur,
ein Vietnam-erprobter ehemaliger Militärpolizist, ist der Vater eines seit seiner Heimkehr aus dem Irak vermissten Soldaten. Er macht sich auf die Suche
nach diesem, und bald darauf, als sich herausstellt, dass sein Sohn grausam
ermordet wurde, auf die am Ende erfolgreiche Suche nach den Tätern. Es
waren nicht die üblichen farbigen Verdächtigen im Drogenmilieu, so stellt
sich nach etlichen Windungen und Wendungen heraus, sondern die eigenen – weißen – Kameraden, die ihn im Affekt erstochen und seinen Leichnam anschließend zerteilt und verbrannt haben. Das zentrale dramaturgische
Gelenk dieses Films aber sind die immer wieder – insgesamt 8 Mal – eingespielten, notdürftig restaurierten Ausschnitte von Aufnahmen mit der Handycam des Ermordeten, die nach und nach zwar nicht erkennen, aber doch
erahnen lassen, was zu der moralischen Degenerierung der jungen Soldaten
führte.
Mit nur wenig Übertreibung lässt sich sagen, dass in diesen Sequenzen –
es sind, von einigen Fotos abgesehen, die einzigen, in denen etwas vom Schauplatz der Kampfeinsätze im Irak sichtbar wird – die durch den gesamten Film
vermittelte Einstellung auf die dortigen Ereignisse kulminiert. Wir dürfen,
224
dies besagt diese Perspektive, den Bildern und sonstigen Botschaften nicht
trauen, die aus dem von den alliierten Truppen besetzten Land übermittelt
werden. Denn diese geben eine ebenso beschönigende wie trügerische Sicht
auf die Situation im Irak. Die verzerrten Aufnahmen werden so zu einer Allegorie des verzerrten, die tatsächlichen Vorgänge nicht wahrhabenwollenden
Blicks auf das, was in der Fremde wie daheim mit den an diesem Krieg Beteiligten geschieht. Zugleich bewahren sie einen künstlerischen Respekt vor der
Undarstellbarkeit der äußeren und inneren Grausamkeiten, von deren Folgen
die Geschichte dieses Films berichtet.
Durch diesen Gestus erhält der Titel des Films einen mindestens doppelten Sinn. Er spielt auf den im Alten Testament beschriebenen Kampf
zwischen den Philistern und den Männern Israels im Tal von Elah an, der
stellvertretend von David und Goliath ausgefochten wird. Der Titel hält
zum einen fest, wie angreifbar die überhebliche Großmacht USA bei ihrer
Kriegsführung ist. Zum andern aber, und für die Rhetorik dieses Films
weitaus wichtiger, ist es die Perspektive des David, die den Zuschauern dieses Films nahegelegt wird. «That’s how you fight monsters», sagt der alte
Mann, der nun auch seinen zweiten Sohn durch den Irak-Krieg verloren hat,
einem kleinen Jungen namens David, dem er eine verstörende Gute-NachtGeschichte erzählt. «You look him in the eye». Die Figur des David steht
unter diesem zweiten Aspekt nicht für die irakischen insurgents, sondern für
diejenigen, die – wie der anfangs noch regierungs- und armeegläubige Vater
des ermordeten Soldaten – den Monstern im eigenen Land ins Auge zu blicken vermögen. Zu diesen Monstern gehören, wie der Vater erkennen muss,
nicht allein die Kameraden, die an der Ermordung seines Sohnes beteiligt
waren, sowie diejenigen, die die jungen Soldaten in den Irak gesandt und
dort allein gelassen haben, sondern auch der eigene Sohn selbst, der unter der
Last der eigenen Schuld – denn er hat, den vorgeschriebenen Einsatzroutinen
folgend, einen kleinen Jungen überfahren – massive sadistische Neigungen
entwickelt hat. Der Krieg verroht alle, die an ihm beteiligt sind, und mit
ihnen die Gesellschaft, der sie angehören. Deswegen hisst der alte Militär am
Ende des Films die Flagge der Vereinigten Staaten umgekehrt – als Zeichen
eines militärischen und mehr noch zivilen Notstands.
225
III. Vier Thesen
1. In dem Spektrum der sei es (eher) dokumentarischen, sei es (eher) fiktionalen Auseinandersetzung des gegenwärtigen Kinos überwiegt insgesamt
eine kritische Perspektive auf das Geschehen im Irak. Zumal die US-amerikanischen Filme – und dies sind die allermeisten – führen zusammen mit
der Achtlosigkeit, Grausamkeit, Inhumanität und manchmal Absurdität der
militärischen Operationen im Irak eine mehr oder minder verstörende Selbstbefragung vor. Diese richtet sich weniger auf die Legitimität dieses Krieges
selbst, sondern auf die zerstörenden Folgen der Kriegsführung, die nicht nur
rechtliche und moralische Grundsätze, sondern vor allem die Integrität und
Selbstachtung von Opfern und Tätern betreffen.
2. Trotz der Heterogenität der filmischen Erzählweisen, durch die das
Geschehen im Irak und auf Seiten der Heimgekehrten in Fiktion und Dokumentation verarbeitet wird, lässt sich somit eine übergreifende Tendenz festhalten. Zu beobachten ist ein deutlicher Primat der Erschütterung gegenüber
der Etablierung normativer Perspektiven. Dem geläufigen Pro und Contra
angesichts der umstrittenen Rechtfertigung für den zweiten Irak-Krieg wird
eine Sicht – und nicht selten: eine Verschränkung von Sichtweisen – gegenübergestellt, die das gängige Pro und Contra oft gleichermaßen unterlaufen.
3. Die einschlägigen Filme tragen dazu bei, den Bereich des normativ Vertretbaren und nicht Vertretbaren anhand exemplarischer Geschichten imaginativ
auszuleuchten. Mit überwiegend kritischer Intonation wird die Situation seit
der alliierten Invasion in den Irak im Jahr 2003 in ihren vielfach verheerenden und traumatisierenden Folgen durchgespielt. Dabei überwiegt – mit
Ausnahmen, von denen ich eine kurz vorgeführt habe – eine Rechtfertigung
des Zweifels an der Berechtigung und stärker noch an der Durchführung dieses Krieges, mitsamt seinen Folgen sowohl für die Zivilbevölkerung als auch
für die militärischen Akteure zumal in den unteren Rängen.
4. Gerade dadurch, so steht zu vermuten, hat die Ästhetik des gegenwärtigen Kinos einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Modifikation und
226
Transformation weniger einer bestimmten normativer Ordnung, als des normativen Bewusstseins unserer Zeit – und dies nicht allein in einem nationalen,
sondern in einem globalen Rahmen. Sie stellt die Frage nach der Legitimität
dieses und vergleichbarer Kriege, und sie hält sie – wenigstens – offen.10
Literatur
Hampe, Michael. Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, Frankfurt​
a.M. 2007.
Seel, Martin. «Bewegtsein und Bewegung. Elemente einer Anthropologie des
Films». In: Neue Rundschau 4 (2008), S. 129–145.
10 Meine Überlegungen in diesem Beitrag haben stark profitiert von einem im Wintersemester 2009/2010 an der Goethe-Universität Frankfurt/M. gehaltenen Seminar zum gleichen
Thema; für ihre Unterstützung besonders danken möchte ich Daniel Feige, Frederike
Popp und Jochen Schuff.
227
«Se non è vero, è ben trovato». Geschichtsklitterung in
italienischen Doku-Soaps
Aram Mattioli
Es soll nun niemand kommen und sagen, man
müsse jedem Geschmack etwas bieten, jetzt, da
wir unterhalb jeglicher Geschmacksgrenze angekommen sind. Die Wahrheit ist, ganz im Gegenteil, dass die Krise des Kinos weniger ästhetischer
als intellektueller Natur ist. Worunter die heutigen
Filme vornehmlich leiden, ist Dummheit …1
In seiner Autobiographie Gefährliche Zeiten hielt Eric J. Hobsbawm vor ein
paar Jahren fest, dass die moderne Mediengesellschaft der Vergangenheit zu
einer beispiellosen Bedeutung und einem enormen Marktpotential verholfen
habe, um gleich warnend anzumerken: «Heutzutage wird mehr Geschichte
denn je von Leuten umgeschrieben oder erfunden, die nicht die wirkliche
Vergangenheit wollen, sondern eine, die ihren Zwecken dient. Wir leben
heute im großen Zeitalter der historischen Mythologie».2 Auf eine fast schon
unheimliche Weise trifft diese Beobachtung auf das Geschichtsfernsehen der
Gegenwart zu, für das nicht so sehr professionell ausgebildete Historiker,
sondern Regisseure und Redakteure verantwortlich zeichnen. Seitdem die
vierteilige US-Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss3 1979 weltweit eine neue Phase in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Deutschland einläutete, weil es ihr gelang, das monströse
Geschehen in der populären Form einer Familiengeschichte zu erzählen,
hat die durch das Fernsehen vermittelte Geschichte einen beispiellosen Aufschwung erlebt. Nirgendwo sonst erreichen gegenwärtig historische Themen
wahrscheinlich ein größeres Publikum als im Geschichtsfernsehen. Durch
1
2
3
Bazin (2009), 25f.
Hobsbawm (2003), 337.
Näheres dazu in Reichel (2007), 250–264; Hickethier (2009), 300–317, v.a. 307ff.
229
kein anderes Genre werden die Geschichtsbilder der Menschen und die Erinnerungskulturen ganzer Gesellschaften vermutlich nachhaltiger geprägt als
durch TV-Histotainment.4 Das ist in Italien, wo ein Großteil der Bürger ihre
Informationen ohnehin aus dem Fernsehen bezieht, noch weit ausgeprägter
der Fall als im übrigen Europa.5 Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen
steht die Frage, ob und gegebenenfalls wie die von der Rai produzierten und
ausgestrahlten Doku-Soaps die nationalen Selbstbeschreibungen und Identitätsdiskurse verändert haben. Um unzulässige Verallgemeinerungen zu vermeiden, wird die Miniserie Il cuore nel pozzo (2005) von Alberto Negrin einer
genauen und möglichst dichten Fallanalyse unterzogen, die aller Eindeutigkeit der Befunde zum Trotz nur vorläufige Ergebnisse generieren kann.
I. Historische Doku-Soaps in Italien
Wie anderswo in Westeuropa besetzten historische Doku-Soaps rasch auch in
den italienischen Fernsehprogrammen einen prominenten Platz. In den letzten
zehn Jahren verdrängten sie die zeitgeschichtlichen Thematiken gewidmeten
Spielfilme berühmter Regisseure (wie die von Roberto Rossellini, Francesco
Rosi oder Bernardo Bertolucci) aus der Primetime.6 Doku-Soaps mit historischem Hintergrund erwiesen sich als besonders geeignet, das große Publikum
für Fragen der Geschichte anzusprechen. Für diese neuen Quotengaranten war
und ist eine undurchschaubare Mischung von Fiktion und Fakten typisch und
die Tendenz, auf Emotionen statt auf Aufklärung zu setzen.7 In den neuen
4
5
6
7
Vgl. für Italien und Deutschland Grasso (2006); Anania (2008); Fischer / Wirtz (2008);
Cippitelli / Schwanebeck (2009).
Kritisch zur Rolle des Fernsehens im Italien Berlusconis etwa Ginsborg (2005), 42; Stille
(2006), 60ff.; Camilleri (2010), 35f. und Eco (2007), 130. «Zählt man die Auflagen aller
italienischen Zeitungen zusammen, kommt man auf eine lächerliche Zahl im Vergleich
zur Anzahl derer, die nur fernsehen. Es kommt darauf an, das Fernsehen zu kontrollieren,
dann mögen die Zeitungen schreiben, was sie wollen». Eine engagierte und meinungsstarke Annäherung an das Thema wagt der Dokumentarfilm Videocracy. When TV is the dream
reality becomes a nightmare (ITA 2009, R: Erik Gandini).
Vgl. Grasso (2000); und vor allem Anania (2003).
Vgl. Wirtz (2008), 15.
230
Formaten wird die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht mehr als
kritische Aufarbeitung betrieben, sondern kommt «hauptsächlich im Modus
des subjektiven Erlebens, des emotionalen Erzählens und der persönlichen
Erinnerung»8 daher. Dazu personalisieren, dramatisieren und emotionalisieren
die Soaps ungehemmt, indem sie etwa starken Frauen oder Kindern Hauptrollen einräumen. Stets machen sie einen Anspruch auf historische Authentizität
geltend und dienen letztlich doch nur der Unterhaltung. Der fernsehgerechten
Passform wegen ist der Anteil des Fiktionalen in ihnen stets hoch, ohne dass
die Programmmacher den Zuschauern reinen Wein über diese entscheidende
Tatsache einschenken würden.9 Die hier zu Tage tretende Nonchalance erklärt
sich wesentlich dadurch, dass diese neue Form des TV-Histotainment nur
solange funktioniert, wie die Zuschauer die Fiktion nicht als solche durchschauen und damit an die vermeintliche «Echtheit» des Dargestellten glauben.
Zeitgeschichtlichen Themen gewidmete Doku-Soaps wie Senza Confini
(2001), Maria José – l’ultima regina (2002), La fuga degli innocenti (2004),
Cefalonia (2005) und Il sangue dei vinti (2009) erreichten spielend ein Massenpublikum. Einige unter ihnen wie La guerra è finita (2002)10 von Lodovico Gasparini und Edda Ciano Mussolini (2005) von Giorgio Capitani, ganz
zu schweigen von Perlasca – un eroe italiano (2002) und Il cuore nel pozzo
(2005) – beide von Alberto Negrin – entpuppten sich als wahre Straßenfeger.
Der Perlasca-Zweiteiler, der im Januar 2002 anlässlich des zweiten HolocaustGedenktages ausgestrahlt wurde, erreichte eine rekordverdächtige Einschaltquote.11 Immerhin fast 11 bzw. 13 Millionen Italiener saßen an den beiden
Winterabenden vor den Bildschirmen – so viele wie vermutlich nie zuvor bei
einem Film zu einem zeitgeschichtlichen Thema.12 Eine beeindruckend hohe
Einschaltquote erreichte auch das Melodrama Il cuore nel pozzo (Das Herz
am Abgrund), das am 6. und 7. Februar 2005 im Hauptabendprogramm
8 Fischer (2008), 33.
9 Vgl. Wirtz (2008), 29.
10 Vgl. «La Guerra è finita, lunedì oltre 9 milioni davanti alla tv». In: La Repubblica,
8. Mai 2002, S. 42. Den zweiten Teil des Films verfolgten 8.655 Millionen Zuschauer
und Zuschauerinnen, was einer Quote von 31.84 Prozent entsprach.
11 Vgl. Marcus (2007), 125–137; Perra (2010).
12 Vgl. Grasso (2008), 581. Das entsprach einer Quote von 38.91 bzw. 43.81 Prozent.
231
über die Bildschirme flimmerte. Am ersten Abend saßen über 10 Millionen
Menschen vor ihren Fernsehgeräten, was einem Marktanteil von 36.6 Prozent entsprach.13 In diesen beiden Fällen zumindest kann man von medialen
Großereignissen sprechen.
Der erste starke Boom der italienischen Doku-Soaps fällt in die Zeit
der zweiten und dritten Regierung von Silvio Berlusconi (2001–2006).14
Bekanntlich steht Berlusconis Name unter anderem für den Aufstieg des Privatfernsehens und damit für eine seichte, politisch einlullende Unterhaltung,
der sich inzwischen auch die Rai-Sender angepasst haben.15 Lediglich Rai Tre
machte den Abschied vom Bildungsfernsehen nicht ganz so stark mit. Zudem
gelang es dem vom Mailänder Medienmagnaten angeführten Rechtsbündnis,
nach dem zweiten Wahlsieg von 2001 ihren Einfluss auf die Rai auszubauen, der sich auch in einem revisionistischen, das heißt anti-antifaschistischen
Umgang mit der Mussolini-Diktatur, dem Bürgerkrieg und der Resistenza
manifestierte.16 In der diskursiven Neuausrichtung der italienischen Erinnerungskultur wurde immer stärker die absolute Unvergleichbarkeit zwischen
nationalsozialistischem Deutschland und dem faschistischen Italien betont,
um die Mussolini-Diktatur positiv in die Kontinuität der Nationalgeschichte
einordnen zu können. Viele Exponenten des Berlusconi-Bündnisses erklärten
den alten Unterschied zwischen Faschismus und Antifaschismus für obsolet,
und denjenigen zwischen Demokratie und Totalitarismus für entscheidend.
Freilich lief diese Operation auf eine schleichende Aufwertung von Mussolinis angeblicher «Rosenwasserdiktatur» (Indro Montanelli) und auf eine weitere Diskreditierung der Resistenza und des bewaffneten Widerstands hinaus, der nach dem 8. September 1943 einen beachtlichen, wenn auch nicht
entscheidenden Beitrag zur Befreiung des Landes vom nazifascismo leistete.17
Nach dem Machtwechsel von 2001 griffen manche von der Rai produzierte Miniserien erinnerungskulturelle Themen der regierenden Rechten
auf. Mit dramaturgischem Geschick setzten diese nun die für das italieni13
14
15
16
17
Vgl. «Oltre 10 milioni per film sulle foibe». In: La Repubblica, 9. Februar 2005, S. 46.
Vgl. Rusconi u.a. (2010).
Vgl. Ginsborg (2005), 46f.; Feustel (2007), 95ff.
Vgl. Stille (2006), 311ff.
Ausführlich dazu jetzt Mattioli (2010).
232
sche Selbstverständnis wichtigen letzten 20 Monate des Zweiten Weltkriegs
in einer Perspektive ins Bild, die mit dem lange Zeit vorherrschenden Resis­
tenza-Narrativ brach.18 Prominent traten darin etwa «gute Faschisten» als
Judenretter und Beschützer von Waisenkindern auf. In Edda Ciano Mussolini
wird das «tragische Schicksal» der Diktatorentochter geschildert, die durch
die Arglist der Zeit zwischen ihren Vater und ihren Ehemann gerät, der
schließlich 1944 als eine Art Widerstandskämpfer auf Wunsch der «bösen
Deutschen» hingerichtet wird. In Cefalonia wird das schwere Massaker der
deutschen Wehrmacht an ihren früheren Waffenbrüdern in eingängigen Bildern aufgerollt, ganz ohne auf die italienische Rolle in der Besatzung Griechenlands einzutreten. La guerra è finita thematisiert den inneritalienischen
Bürgerkrieg zwischen 1943 und 1945, weckt Verständnis für die angeblich
ehrenwerten Motive der «ragazzi von Salò» und ruft zum Schluss ganz im
Sinne des rechten Erinnerungsdiskurses zur «nationalen Versöhnung» und
damit zu einem endgültigen Schlussstrich auf.
Kurz gesagt, mit aufwendigen Produktionen unterstützen die Rai-Sender
die im Gang befindliche Neuvermessung des kollektiven Gedächtnisses und
spielten in diesem Prozess sogar eine nicht unwichtige Rolle.19 In mani­fester
Weise kann man diese Tendenz in Alberto Negrins Zweiteiler Il cuore nel pozzo nachweisen. Trotz der gegenteiligen Beteuerung des Regisseurs, der glauben machen wollte, mit seinem Film lediglich eine bislang noch nie erzählte
Geschichte fernab jeder politischen Stellungnahme realisiert zu haben, handelte es sich bei diesem Streifen um einen eindeutigen Fall von TV-Revisionismus.20 Nicht nur dessen Inhalt, sondern auch dessen Entstehungsgeschichte lassen daran keinen Zweifel.
II. Die Foibe-Massaker als neuer nationaler Erinnerungsort
Ungeachtet der Tatsache, dass Italien vom 10. Juni 1940 bis zum 8. September 1943 als engster Verbündeter Deutschlands an Hitlers «Neuordnung
18 Vgl. ebd., 24–56.
19 Vgl. Anania (2003), 76.
20 Vgl. Alberto Negrin, Interview auf www.ilcuorenelpozzo.rai.it unter der Rubrik Intervista.
233
Europas» mitwirkte, sehen sich viele Italiener heute vorwiegend als Opfer
von dramatischen Ereignissen, die die deutsche Besetzung Nord- und Mittelitaliens seit dem Herbst 1943 über sie brachte. Die kollektive Erinnerung
an den Zweiten Weltkrieg wird durch die Erfahrung von materieller Not und
Angst, aber auch durch die alliierten Städtebombardements und die deutschen Repressalien an der Zivilbevölkerung bestimmt. Zu den nationalen
Tragödien des Zweiten Weltkriegs zählen viele mittlerweile auch die von
Tito-Partisanen in den Karstschlünden, den so genannten Foibe, umgebrachten Italiener und den sich bis 1954 hinziehenden Exodus von rund 300.000
Landsleuten aus Istrien und Dalmatien. Die genaue Zahl der Foibe-Opfer
lässt sich nicht mehr exakt bestimmen, weil nicht alle Leichname geborgen
werden konnten und zum Teil auch Akten fehlen. Die seriöse Forschung
schätzt, dass in den Karstschlünden bis zu 5.000 Menschen umkamen.21
Einige Historiker und Publizisten brachten jedoch eine überhöhte Opferzahl
von bis zu 20.000 Toten in Umlauf.22
Dass die Foibe-Massaker und die Abwanderung aus den ehemaligen
Ostgebieten nach 1989 zu einem nationalen Erinnerungsort aufstiegen, ging
auf die Initiative der Postfaschisten zurück. Bei diesem Thema gelang es der
Alleanza Nazionale die faschistische Tätergeschichte im Adria-Raum in eine
nationale Opfererzählung umzukehren. Allerdings ließ sich diese Operation
nur um den Preis durchführen, dass wesentliche Teile der Geschichte ausgeblendet wurden. Der Turiner Historiker Angelo Del Boca sprach in diesem
Zusammenhang zu Recht von «halbierter Erinnerung».23 Denn die Gewalt,
die die jugoslawische Partisanenbewegung seit Herbst 1943 an Teilen der italienischen Bevölkerung in Julisch Venetien, Istrien und Dalmatien verübte,
muss immer auch als Folge jener rassistisch motivierten Unterdrückungspolitik Beachtung finden, die Slowenen und Kroaten zuvor während der faschistischen Herrschaft erlitten hatten.
Wie die Wehrmacht und die SS in ihrer Zone zogen auch die italienischen Besatzer eine Spur von Tod und Verwüstung durch Jugoslawien. In
den Partisanengebieten brannten sie zahlreiche Dörfer und Häuser nieder,
21 Vgl. Oliva (2007), 56.
22 Vgl. Verginella (2007), 45; Scotti (2005) 151ff.
23 Vgl. Di Francesco (2006).
234
plünderten und bereicherten sich schamlos, nahmen ungezählte zivile Geiseln und exekutierten Tausende von Menschen, unabhängig davon, ob es sich
dabei um bewaffnete Kämpfer oder um unbeteiligte Dorfbewohner handelte.
Für Anschläge der «Rebellen» nahmen sie die zivile Bevölkerung systematisch
in Kollektivhaftung. Um dem Widerstand das Wasser abzugraben, wurden
allein in Slowenien 30.000 Zivilisten deportiert und ins System der italienischen Konzentrationslager verschleppt. Über ganz «Großitalien» verstreut,
existierten zwischen 1940 und 1943 mehr als 50 Konzentrationslager.24 In
ihnen internierte das Regime, wie die Forschung erst in den letzten Jahren
dokumentiert hat, nicht nur Antifaschisten und «feindliche Ausländer», sondern auch Angehörige unerwünschter Minderheiten.
Neben Lagern für Juden und «Zigeuner» entstanden auch solche für slawische Männer, Frauen und Kinder, etwa bei Gonars und Visco in Julisch
Venetien und bei Renicci in der Toskana. Mindestens sieben «Slawenlager»
richteten die neuen Herren im besetzten Jugoslawien ein. Dabei handelte
es sich meistens um improvisierte Zeltstädte, in denen es an allem mangelte: an Essen und Decken, aber auch an Matratzen, Waschgelegenheiten und
medizinischer Versorgung. Zwar handelte es sich bei den Lagern in Melada,
Zlarino, Mamula, Prevlaka, Buccari und Porto Re, deren Namen heute fast
niemand mehr kennt, nicht um Vernichtungslager. Dennoch war die Todesrate hoch. Der berüchtigste Lagerkomplex befand sich auf der Insel Rab. Hier
waren vorwiegend Bauern, Holzfäller, Arbeiter und Handwerker interniert. In
überfüllten Zelten völlig unzureichend untergebracht, starben dort innerhalb
eines Jahres mindestens 1.500, vielleicht sogar 3.000 der insgesamt 15.000
Insassen an den erlittenen Entbehrungen.25 Wie viele Tote die italienische
Okkupation in Jugoslawien insgesamt gefordert hat, ist umstritten. Der in
Turin lehrende Historiker Brunello Mantelli geht von mindestens 250.000
Opfern aus.26 Wenngleich sich die genaue Zahl nicht angeben lässt, steht fest,
dass die italienischen Streitkräfte in Jugoslawien, Albanien und Griechenland
schwere Kriegs- und Besatzungsverbrechen begingen. Jedenfalls stachelte die
brutale Besatzungsherrschaft den Hass gegen die Italiener mächtig an.
24 Vgl. Capogreco (2004).
25 Näheres dazu in Kersevan (2008).
26 Vgl. Mantelli (2000), 57.
235
Als die faschistische Diktatur zusammenbrach, unterschieden viele
Jugoslawen aufgrund des erlittenen Unrechts nicht mehr zwischen Italienern und Faschisten. Nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1943
brachte die Partisanenarmee von Marschall Tito in Istrien und Dalmatien
einige Hundert Italiener um, in dem sie diese aneinandergefesselt in Foibe
stürzten, wo sie elendiglich starben. Nachdem die jugoslawische Partisanenarmee im April 1945 Triest erreichte, das bis dahin unter deutscher Besatzung
gestanden hatte, kam es zu einer zweiten Abrechnungswelle. Schätzungen
zufolge kostete diese Säuberungswelle einigen Tausend Italienern das Leben.
Nach Schnellprozessen wurden diese oft in die Karstschlünde gestoßen. Die
Gewaltwelle endete am 9. Juni 1945. Nachdem der Pariser Friedensvertrag
vom 10. Februar 1947 die früheren italienischen Provinzen Pola, Fiume und
Zara sowie Teile des Gebiets um Triest und Görz Jugoslawien zuschlug, verschlechterten sich die Lebensbedingungen der dort lebenden Italiener. Bis
1954 gaben rund 300.000 von ihnen ihre Heimat auf und siedelten nach
Italien über, wo sie zunächst in 109 Lagern Aufnahme fanden.
Umstritten sind heute nicht so sehr die Fakten, sondern die Motive, weshalb die jugoslawische Partisanenarmee zahlreichen Italienern in Istrien und
Julisch Venetien nach dem Leben trachtete. Festzustehen scheint: Die infoibiati waren überwiegend Faschisten und kroatische Kollaborateure, obwohl es
auch unschuldige Italiener traf.27 Wissenschaftlich am überzeugendsten ist
die Deutung, dass es sich bei den Foibe-Massakern um politische Säuberungsaktionen handelte, die durch Revancheabsichten und nationalen Groll
motiviert waren.28 Damit steht nicht fest, dass es historisch korrekt ist, die
Exzesse als «ethnische Säuberungen» der jugoslawischen Kommunisten zu
deuten. «In diese Höhlen wurden nicht nur Italiener geworfen», betont die
an der Universität Ljubljana lehrende Historikerin Marta Verginella, «sondern auch Deutsche, Slowenen, Kroaten, einige sogar lebendig. Alle Krieg
führenden Parteien benutzten dieselben Höhlen, auch deutsche Truppen und
faschistische Einheiten der Republik von Salò».29
27 Vgl. Scotti (2005), 14f.
28 Vgl. Oliva (2007), 54.
29 Verginella (2007), 58.
236
Im Kalten Krieg breiteten sowohl die staatstragenden Christdemokraten
als auch die oppositionellen Kommunisten einen Mantel des Schweigens
über dieses dunkle Kapitel aus. Die christdemokratischen Nachkriegsregierungen hatten kein Interesse daran, an ihre politische Verantwortung für den
Pariser Friedensvertrag vom 10. Februar 1947 erinnert zu werden, der nach
Ansicht vieler Bürger die «Würde Italiens»30 verletzt hatte und als nationale
Schmach galt. Die Absicht, die Verantwortlichen für die Foibe-Massaker
vor Gericht zu stellen, hätte mit Bestimmtheit die Gegenforderung provoziert, zuerst die schweren italienischen Kriegs- und Besatzungsverbrechen
in Jugoslawien gerichtlich beurteilen zu lassen.31 Aus Gründen der Staatsräson zogen es die christdemokratischen Regierungschefs deshalb vor, keine
schlafenden Hunde zu wecken und die Beziehungen zum Nachbarn nicht
zusätzlich zu belasten. Umgekehrt warf die Angelegenheit auch für den PCI
die unangenehme Frage auf, wie er denn zu Titos Partisanenarmee gestanden
war.32
Während des Ost-West-Konflikts pflegten einzig einige Lokalhistoriker,
die überlebenden Flüchtlinge und die Neofaschisten die Erinnerung an die
Foibe und den Exodus aus Istrien und Dalmatien. Niemals verblasste sie in
den Grenzstädten Triest und Gorizia. Regelmäßig sahen sich die Flüchtlinge
auf ihren Treffen, auf denen sie der Ereignisse und ihrer Toten gedachten.33
Für sie stellten der Verlust der alten Heimat und der ungesühnte Massenmord
offene Wunden der Geschichte dar. Schon 1980 wurde die nahe von Triest
gelegene Foiba von Basovizza auf ihre Initiative hin zu einem Denkmal von
nationalem Interesse erklärt. Des Themas nahm sich früh schon der MSI an,
ohne damit bis zum Fall des Eisernen Vorhangs jedoch punkten zu können.
Bei den Neofaschisten spielten dafür weiter bestehende Territorialansprüche
gegenüber Jugoslawien und die Forderung nach Sühne für die von Titos Partisanen begangenen Verbrechen eine Rolle. Freilich instrumentalisierten sie
das Thema für ihre politischen Zwecke.
30
31
32
33
Lorenzini (2007), 107ff.
Vgl. Oliva (2005).
Vgl. Oliva (2007), 58.
Vgl. etwa Ballinger (2003), 140; und Mori (1987).
237
Nach dem Zerfall des kommunistischen Jugoslawiens änderten sich die
Rahmenbedingungen des Erinnerns grundlegend. Im September 1992 erhob
Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro die Foiba von Basovizza bei Triest zum
Nationaldenkmal und damit auf die höchst mögliche Erinnerungsstufe.34
Mitte der neunziger Jahre, rund um den 50. Jahrestag der tragischen Ereignisse, fanden erstmals größere Gedenkanlässe statt. Den Foibe wurde nun die
Bedeutung eines «nationalen Schreins»35 zugeschrieben. Die Erinnerung an
die Gräueltaten von Titos Partisanenarmee hörte auf, eine alleinige Domäne
der Opferkreise und der extremen Rechten zu sein. Auftrieb erhielt dieser
Prozess durch den linksdemokratischen Kammerpräsidenten Luciano Violante, der dem Thema seit seiner Wahl 1996 eine hohe Bedeutung zumaß.
Schon in seinen ersten Amtsmonaten verurteilte der Postkommunist – unter
dem Beifall der Rechten – die jahrzehntelange «Verschwörung des Schweigens». In der von den Siegern geschriebenen Geschichte und in einem Klima
der besonderen Nachsicht gegenüber Tito seien die Foibe, so Luciano Violante, während der Blockkonfrontation aus der nationalen Erinnerung getilgt
worden.36
In einer Diskussion mit Gianfranco Fini, die am 14. März 1998 in
Triest stattfand, ging der Kammerpräsident noch einen Schritt weiter. Den
Opfern der Foibe sei die nationale Anerkennung zu lange versagt geblieben.
Nun sei die Zeit gekommen, die Wunden der Geschichte zu schließen.
Die Foibe könnten Teil einer gemeinsam geteilten nationalen Erinnerung
werden.37 75 Historiker, darunter so bekannte wie Luciano Canfora, Enzo
Collotti und Claudio Pavone, kritisierten Violantes Vorstoß heftig, weil der
Kammerpräsident den Partisanen der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee
die alleinige Schuld an den Foibe-Massakern gab, ohne auf die historische
Verantwortung des Faschismus für den Krisenherd Adria hinzuweisen. Eine
geteilte Erinnerung, wie sie Mussolinis Erben vorschlagen, sei grundsätzlich
unmöglich. «Vergessen wir nie», stand im Protestschreiben der Historiker
zu lesen, «dass der wahre Unterschied zwischen Antifaschisten und Faschis34
35
36
37
Vgl. «Il monumento della Foiba di Basovizza» auf www.foibadibasovizza.it/in-breve.htm.
Ballinger (2003), 144.
Vgl. «Violante. Sulle Foibe congiura del silenzio». In: La Repubblica, 26. August 1996, S. 8.
Vgl. Longo (1998).
238
ten in der Tatsache bestand, dass Letztere faktisch ein System verteidigten,
das die Gaskammern und das Krematorium von Auschwitz produziert hatte, während Erstere diese vom Antlitz der Erde tilgen wollten».38
Trotz dieser Mahnung ließ die Rechte nicht locker. Aus der Regierungsverantwortung heraus intensivierte das Berlusconi-Bündnis seinen Kampf,
die dramatischen Ereignisse an der Nordostgrenze im kollektiven Gedächtnis
fest zu verankern. Als treibende Kraft erwiesen sich erneut die Postfaschisten
der AN, dabei unterstützt von Mandatsträgern von FI wie dem Triester Bürgermeister Roberto Dipiazza. Von der Tageszeitung La Stampa gefragt, was
für Filme er gerne künftig im staatlichen Fernsehen sehen würde, regte der
dafür zuständige Kommunikationsminister Maurizio Gasparri 2002 einen
Spielfilm über die «Tragödie der Foibe» an. Mit einer Dokumentation, in der
die Bergung von Skeletten gezeigt wird, würde nur Abscheu erregt. Um das
Massenpublikum zu erreichen, sei eine fiktive Geschichte, die das Schicksal
einer dieser armen Familien aus Istrien oder Dalmatien erzähle, weit wirkungsvoller. «Das sind große Tragödien. Wie die des Holocaust und die der
Anne Frank»39 – ergänzte der Minister, womit er die Foibe-Massaker mit
der Shoah in einem Atemzug nannte. Bereits geraume Zeit nach Gasparris
Wunsch gab die Rai bei Alberto Negrin einen Zweiteiler in Auftrag, der seine
rechtskonservativen Erwartungen mehr als nur erfüllte.
III. Ein krasser Fall von TV-Revisionismus
Negrins dreistündiger Fernsehfilm spielt 1944 auf der Halbinsel Istrien. Es
handelt sich um eine reine Fiktion, die sich sehr frei an den historischen Ereignissen orientiert. Genretypisch suggeriert der Streifen jedoch, dass sich alles
genauso zugetragen habe und bedient damit die Illusion von Authentizität.40
In simplester Schwarzweißzeichnung werden die jugoslawischen Partisanen
als slawokommunistische Bösewichte und die Italiener als bedauernswerte
38 «Foibe: Contro Violante un appello per la verità». In: Il Manifesto, 18. März 1998. Vgl.
auch «Scontro sulle foibe tra storici e Violante». In: La Repubblica, 19. März 1998, S. 12.
39 Martini (2002).
40 Eine kritische Analyse des Films findet sich in Verginella (2007), 44–54.
239
Opfer gezeichnet. Die Titokommunisten, die der deutschen Besatzungsherrschaft und ihren italienischen Helfershelfern bewaffneten Widerstand entgegensetzten, erscheinen darin als eine «Bande von Männern ohne Skrupel,
Mörder, Trunkenbolde, Landdiebe, Vergewaltiger, die nur von der willkür­
lichen Rache und vom Hass auf die Italiener getrieben werden»41 und zielstrebig bis nach Triest vorrücken. Um die Dramaturgie zu unterstützen, staffiert
Negrin diese mit Attributen wie Lederstiefeln und Schäferhunden aus, die in
Filmproduktionen über den Zweiten Weltkrieg üblicherweise dazu verwendet werden, um SS-Männer darzustellen.42 Der Held des Films heißt Ettore,
der als Salò-Milizionär zum Retter vieler italienischer Waisen wird, die ihre
Eltern in den Karstschlünden verloren haben. Er verkörpert den «guten
Faschisten» mit dem großen Herz, der wie der Waisenpriester Don Bruno
von tiefer Vaterlandsliebe und heroischer Opferbereitschaft angetrieben wird.
Das aus einer Kinderperspektive erzählte Rührstück reduziert Massenmord und Vertreibung auf die private Rache eines kleinen jugoslawischen
Kommandanten, der von einer italienischen Frau abgelehnt wird und im
Kampf um das gemeinsame Kind zur Bestie wird.43 Ein Rückblick auf die
Jahre faschistischer Unterdrückungspolitik in Istrien unterbleibt ebenso wie
ein solcher auf die Exzesse der deutschen Besatzung, so dass man von einer
verpassten Gelegenheit sprechen muss, die am Ende des Zweiten Weltkriegs
an Italienern begangenen Gräueltaten dem Publikum historisch auf wirklich
ernsthafte Weise zu erklären.44 In Slowenien und Kroatien löste dieser Fall von
TV-Revisionismus einen Sturm der Entrüstung aus. Der slowenische Schriftsteller Drago Jancar warf dem Film vor, alte Wunden aufzureißen und weit
entfernt von Wahrheitsliebe und «moralischer Vivisektion» zu sein. Negrin
hätte «ästhetischen und politischen Kitsch» produziert, der mehr zudecke als
erhelle. Er belaste das Verhältnis zwischen Nachbarn. Und mahnend fügte
er hinzu: «So wie das heutige Deutschland nicht der Erbe des nazistischen
Wahnsinns ist, so kann auch das heutige Italien nicht die Geisel der historischen faschistischen Verirrungen sein. Doch Italien muss seine Verbrechen
41
42
43
44
Ebd., 50.
Vgl. ebd., 54.
Vgl. Haas (2005).
Vgl. ebd.
240
kennen und verstehen, wenn es den Moloch des Nationalismus und der Verachtung des Nachbarn nicht noch einmal aus der Flasche lassen will».45
Der Zweiteiler erreichte nicht nur ein Riesenpublikum, er wirkte durch
seine eingängige Dramaturgie prägend auf den Erinnerungsdiskurs ein.
Bezeichnenderweise ließ ihn die Rai kurz vor dem ersten nationalen Gedenktag ausstrahlen, der am 10. Februar 2005 an die Foibe-Opfer und an den
istrisch-dalmatinischen Exodus erinnerte. Ein Jahr zuvor hatten die beiden
Kammern des Parlaments einen Gesetzesvorschlag des AN-Politikers Roberto Menia aus Triest gut geheißen. Die Deputiertenkammer stimmte der
Einführung eines Giorno del ricordo mit 502 zu 15 Stimmen bei 4 Enthaltungen deutlich zu.46 Einzig die beiden kommunistischen Kleinfraktionen
traten dagegen auf. Nach der Abstimmung jubilierten viele rechtsnationale
Abgeordnete und sprachen von einem «sehr schönen Akt des Parlaments»,
ja von «einer großen Anerkennung nach zu vielen Jahren des Vergessens».47
Innerhalb eines Jahrzehnts wanderten die Foibe-Massaker und der Exodus
aus Istrien und Dalmatien von der Peripherie ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatten. Mit der Einführung des Foibe-Gedenktages wurde 2004
nichts weniger als ein neuer nationaler Erinnerungsort etabliert.
Allerdings trug die Erinnerungsoffensive der Rechten kaum dazu bei, das
historische Wissen um die Vorgänge an der Nordostgrenze Italiens zu vertiefen.
Mehr und mehr wurden die Foibe im nationalen Erinnerungsdiskurs zu einem
«Ort des Martyriums der Italiener» und zu einem Synonym für einen lange
verleugneten Genozid der jugoslawischen Kommunisten umfunktioniert.48
Die neuen Meinungsmacher in Politik und Medien brachten weit überhöhte
Opferzahlen in Umlauf und schreckten nicht davor zurück, die Foibe-Massaker als Resultat einer vom Tito-Regime systematisch betriebenen «ethnischen
Säuberung» zu deuten. «Während Italien das Ende des Krieges erlebte», schrieb
das Nachrichtenmagazin Panorama im Sommer 2004 beispielsweise, «löschten
die jugoslawischen Partisanen mit dem roten Tito-Stern grausam ganze Famili45 Jancar (2006).
46 Vgl. «Foibe, una Giornata della memoria». In: La Repubblica, 12. Februar 2004, S. 27.
47 «Giorno del Ricordo per le foibe. Approvata la legge». In: La Repubblica, 17. März 2004,
S. 18.
48 Vgl. Verginella (2007), 54.
241
en aus, Männer und Frauen und mit ihnen oft Kinder, nur weil sie sich der Slawisierung der Gebiete erklärtermaßen oder bloß potenziell entgegenstellten».49
IV. Schluss
Aller gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz besteht die Hauptfunktion der
«Foibe»-Erzählung nicht darin, die tragischen Ereignisse in der multiethnischen
Grenzregion dem Vergessen zu entreißen, um damit das Bild der jüngeren
Vergangenheit vollständiger zu zeichnen. Dagegen wäre nichts einzuwenden.
Der regierenden Rechten ging und geht es darum, den Mythos von den italiani brava gente, die in den verlorenen Ostgebieten zu unschuldigen Opfern
einer kommunistischen Vergeltungsorgie geworden seien, auf neue Weise zu
beschwören und durch die Behauptung, dass es sich dabei um eine lange Zeit
verschwiegene nationale Tragödie handle, die Herzen zu rühren. Faschisten
und Salò-Milizionäre seien doch auch nur bravi ragazzi und antikommunis­
tische Patrioten gewesen, die endlich den Dank des Vaterlands verdienten,
und die Kommunisten die wahren Bestien – darauf läuft die rechte Umdeutung der Geschichte hinaus.50 Dass es sich dabei um eine sehr selektive und
einseitige Sicht auf die Ereignisse handelt, muss nicht eigens betont werden. Es
kann nicht der wissenschaftliche Wert dieser Doku-Soap sein, der Rai Uno am
10. Februar 2010 bewog, die Schmonzette ein zweites Mal auszustrahlen –
ohne damit dieses Mal wie noch 2005 eine öffentliche Kontroverse auszulösen.
Das Primetime-fähige Geschichtsfernsehen sagt auch im italienischen Fall
wenig über die Vergangenheit aus, die sie zu behandeln vorgibt. Interessieren
muss es uns jedoch im Hinblick auf das neue Selbstverständnis im Land und
die anti-antifaschistischen Imaginationen, die von einem immer beachtlicheren Teil der heutigen Italiener geteilt werden. So gesehen, erweisen sich die
zahlreichen von der Rai seit 2001 ausgestrahlten Doku-Soaps in der Tat als
wirkungsmächtiges Medium, das ein neues nationales Erinnerungsnarrativ
flankiert und zu seiner Festigung beigetragen hat.
49 «A Tivat, sul set di ‹Il cuore nel pozzo›». In: Panorama, 22. Juli 2004.
50 Vgl. Mattioli (2010), 99ff.
242
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244
Der «Hintersinn» der Bilder.
Embleme barocker Klosterbibliotheken:
Rätsel und Argument
Hans-Otto Mühleisen
I. Emblem als kunstvolles Denkspiel
Die Dichotomie im Verständnis der Bilder, einerseits dem auf sich selbst zeigenden Original und andererseits dem als Instrument genutzten Abbild, ist
ein Zugang der Moderne. Während Ersteres unabhängig von übergeordneten
Mustern sein soll, ist Letzteres abhängig von einer übergeordneten Wirklichkeit, in der Referenz dieses Projekts Bildverlust in der Wissensgesellschaft
also kein authentisches Bild, das man eher in Museen als Ort des kulturellen Gedächtnisses zu finden vermutet. Die bildliterarische Kunstform des
Emblems barocker Klosterbibliotheken scheint gegenüber dieser Dichotomie
widerständig zu sein. Geschaffen ist jedes einzelne als authentisches Unikat,
obwohl es in der Regel nach einer Vorlage entstand und ihm gleichzeitig der
Charakter des Instrumentalen eignet. Freilich gehören diese Embleme einer
Zeit an, in der – wenigstens in der Rückschau – Absichtslosigkeit noch kein
Kriterium von authentischer Kunst war. Es könnte jedoch auch sein, dass
die zentrale Dichotomie der Bildunterscheidung nicht nur eine Sonde für
moderne Zeiterscheinungen wie die Bilderflut ist, sondern zumindest seit
der Möglichkeit zur Druckgrafik eine durchgängige Zäsur benennt. Walter Benjamin, in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts beeindruckt durch
die Bilderflut seiner Zeit, durch Film und Foto, zitiert in seinem Essay Das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zu Beginn Paul
Valéry: «Man muss sich darauf gefasst machen, dass so große Neuerungen
die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch die Invention selbst
beeinflussen und schließlich vielleicht dazu gelangen werden, den Begriff der
245
Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern».1 Es könnte sein, dass
eine Relativierung der rigiden Abgrenzung von authentischer Kunst durch
eine Kunstform, für die Absichtslosigkeit kein Kriterium der Authentizität
war, auch Maßstäbe zur Wertung moderner Kunst in anderem Licht erscheinen lässt.
Drei Schritte werden im Folgenden an das Objekt «Bibliotheksemblem»
hinführen. Zunächst soll ein Überblick beispielhafter Funktionen der Kunst,
wie ihn Franz von Kutschera vor einiger Zeit vorgetragen hat, als hilfreiche
Einordnung der Emblematik genutzt werden.2 Eine der wesentlichen Funktionen der Kunst sei die Feier und Deutung des Lebens: Bildende Kunst und
Musik geben Freude und Trauer Ausdruck, machen Jahreszeiten anschaulich und begleiten Lebensabschnitte von der Geburt bis zu unterschiedlichen
Weisen des Sterbens. Eine zweite Funktion der Kunst ist die Erinnerung in
Gemälden, Skulpturen oder Installationen wie das Mahnmal, das in Berlin an
Gräuel der deutschen Geschichte erinnert. Kunst kann drittens unterhalten
und viertens in der Konstruktion von Gegenwelten emotional gefangen nehmen. Letzteres gilt in gleicher Weise für Architektur unterschiedlicher Zeiten
wie für Musiktheater oder Ballett. Die fünfte Funktion, die Vergegenwärtigung von politischen oder religiösen Ideen etwa in Schlössern, Kathedralen,
Triumphbögen oder Aufmarschplätzen rührt in vielen Teilen an Werbung,
und Propaganda, einer Funktion von Kunst, die für manche eben den Kunstcharakter in Frage stellt. Die Diskussion, welches Verständnis von Autonomie
das Merkmal von Kunst determiniert, soll hier nicht weiter geführt werden.
Nachvollziehbar ist jedenfalls die Position Franz von Kutscheras, dass mit der
Verabsolutierung der Autonomie, d.h. der Reduktion der Kunst auf ihren
ästhetischen Wert, diese für das allgemeine Leben bedeutungslos wird. Der
Kunstform der Emblematik, von der hier zu verhandeln ist, kommt gleichsam eine gattungsübergreifende Funktion zu, deren Kern die Vermittlung
von Wissen durch das Medium des intellektuellen Spiels der Mehrdeutigkeit
und dem Ziel der Belehrung ist. Diese kognitive Funktion, die des Verstandes
wie der Erfahrung bedarf, bekommt bei dem Emblem einer Klosterbiblio1
2
Benjamin (1963).
Zum Folgenden: Kutschera (2002).
246
thek des 18. Jahrhunderts eben durch den Raum der Gelehrsamkeit und die
den Klöstern widrigen Zeitumstände nochmals einen ganz eigenen Rang.3
Die Kunstform des Emblems, dies als ein zweiter Schritt der Hinführung,
geht auf antike Vorbilder bis hin zur Hieroglyphik als vermeintlicher Geheimsprache zurück. Als Geburtsstunde der kanonisierten Form des Emblems gilt
das von Jörg Breu illustrierte, in Augsburg 1531 erschienene und bis 1781
über 150mal neu aufgelegte Emblematum Liber des Mailänder Rechtsgelehrten und Humanisten Andreas Alciatus.4 Mit ihm wurden in Abgrenzung
von Devisen oder Impresen die drei Elemente «Imago», «Inscriptio» und
«Subscriptio» als kennzeichnende Merkmale des Emblems definiert.5 Die
Subscriptio, also die Auslegung ist fester, ja zentraler Bestandteil der Bücher,
die, wie z.B. Picinellis Mundus Symbolicus Emblemsammlungen enthalten
oder auch von Emblembücher, die der religiösen Unterweisung oder zur politischen Erziehung von Fürstenkindern dienen sollten.6 Hier wird die Inscriptio, also das Motto, mehr zur Überschrift und das Bildmotiv zur anregenden
Illustration.7 Anders ist dies bei der angewandten Emblematik, der die hier
betrachteten Bibliotheksembleme zugehören.8 Motto und Imago stehen
dabei in der Regel allein, während die auf den ersten Blick fehlende Interpretation die Gelegenheit bot, dem Besucher einer Bibliothek im Gespräch
über die Raffinesse der Beziehung von Wort und Bild den Sinn des Raumes
und Denkweisen eines Klosters näher zu bringen. Mit dem Emblem verbundene Begriffe wie das «offene Kunstwerk» oder der ihrer «zweiten Sprache»
indizieren deren Funktion als Ausgangspunkt eines belehrenden Diskurses,
in dem «der Mitteilungscharakter der Bilder Vorrang vor ihrer künstlerischen
Ausführung»9 hat.
3
4
5
6
7
8
9
Zur Einführung: Lechner (1977), 8f.
Hierzu das Kapitel Sinnbildkunst in Büchern der Frühen Neuzeit, in: Gier / Janota
(1991), 281–284.
Zum Entstehungszusammenhang: Buck (1971).
Mühleisen (1982).
Zur frühen Entwicklung der Emblematik verlässlich: Warncke (2005).
Weitgehend unstrittig ist in der Forschung die Trias des Emblems. Dazu Zymner (2002),
12: «Die wichtigsten Unterschiede zeigen sich aber immer dort, wo es um die Art und
Weise geht, in der die einzelnen Teile des Emblems miteinander zusammenhängen».
Bannasch (2007), 27.
247
Entscheidend dabei ist, dass weder das Bild noch die Inscriptio allein den
Sinn ausmachen und erkennen lassen, den der Inventor eines Emblems dem
Betrachter vermitteln wollte. Erst im wechselseitigen Verweis, also in einem
Bezug, der hinter den vordergründigen Ebenen von bildhafter Anschaulichkeit und wortgemäßem Verstehen liegt, entfaltet sich der Sinn, man könnte
auch sagen die Qualität dieses Kunstwerks.10 In diese «Hintersinnigkeit» einzudringen, setzt freilich die Einbeziehung weiterer Kriterien oder Ebenen
voraus. So können Sonne und Mond, Schiffe oder Muscheln je nach Ort, Kirche, Schloss11 oder eben Bibliothek, ebenso unterschiedlichen Sinn ergeben,
wie z.B. das Thema der Freiheit in den zweieinhalb Jahrhunderten, in denen
das Emblem in der Kunst fast allgegenwärtig war, mit ganz unterschiedlichen
Wortverbindungen ins Bild gesetzt werden konnte. Um das an einem Beispiel
zu konkretisieren: Die Darstellung einer Gartenanlage in der Imago eines
Emblems kann an sich bereits ein qualitätvolles barockes Kunstwerk sein.
Gerade Gartenbilder sind ein beliebtes Sujet der Barockzeit. Wenn jedoch
als Inscriptio darüber steht Varietate placet, erhält es seinen eigentlichen Sinn
als Aussage für eine Vielfalt, die den Menschen erfreut – und wenn dieses
Emblem nun in einer Klosterbibliothek angebracht ist, wird es zum Ausweis
der Vielfalt der hier versammelten Bücher und damit zum Argument gegen
den Vorwurf der Aufklärer von der Einfältigkeit des «Mönchtums». Für das
politische Emblem eines Rathauses oder Fürstensaales kann man ohne Frage
den Begriff «Propaganda»12 verwenden, für den klösterlichen Schauraum der
Bibliothek ist wenigstens der Ausdruck der Eigenwerbung nicht übertrieben.
Wenn die «Glückseligkeit des Staates» im Verständnis aufgeklärter Philosophie13 von Bildung und Erziehung abhing, konnte man hier seine Offenheit
für dieses Denken und seine Nützlichkeit für den Staat demonstrieren. Angesichts der unterschiedlichen Besucher einer Bibliothek, denen man die eigene
Denkweise demonstrieren wollte, war das Emblem ein besonders geeignetes
Medium, da es einerseits verständliche Belehrung für Gebildete und Unge10 Zu Verweiszusammenhängen vgl. Kemp (1981), 45.
11 Beispielhaft für die reiche Emblematik einer Kirche sei die ehemalige Augustiner-Chorherren-Kirche in Ranshofen, für ein Schloss, Eggenberg genannt.
12 Warncke (2005), 134–147.
13 Seibt (1771).
248
bildete war, man aber andererseits im Hinblick auf die «Qualität der Lehre»
den gemeinten Sinn differenziert vortragen konnte.14
Freilich lässt sich schon die Vielfalt einer Bibliothek ihrerseits auf ganz
unterschiedliche Weise in einem Emblem fassen, wie eine Pictura mit Musikinstrumenten und ähnlicher Überschrift zeigt.15 Bei Raum schmückenden
Elementen kann man grundsätzlich davon ausgehen, «dass diese sich auf den
Raum (seinen Sinn, seine Funktion, seine Tugenden), seine Benutzer (...)
und/oder die in ihm versammelten Gegenstände (hier die Bücher und die
durch sie vertretenen Wissenschaften) beziehen».16 Als Frage im Kontext
unserer Tagung: Verliert ein Kunstwerk seine Authentizität, wenn es durch
kontextuelle Einbindung zusätzlichen Sinn und Hintersinn erhält und schließlich als, modern gesprochen, Werbung oder Propaganda verwendet wird?
Kann es nicht auch wechselseitige Inspiration werden, wenn der Künstler den
Auftrag zu einem Gartenbild erhält, in dem insbesondere Vielfalt sichtbar
werden soll, und andererseits ein Autor, der über Pluralität und Beziehung
der Wissensbereiche schreibt, die systematische Anlage eines französischen
Gartens vor Augen hat? Im 18. Jh. gehörte die Chance, die das Emblem
auf zusätzliche Einsichten bot, zum enzyklopädischen Wissen: «Der Künstler
stellt in einem Emblem dem Auge Dinge vor, die eigentlich demselben nicht
vorgestellt werden können; er malt nicht sowohl für das Aug, als vielmehr
für den Verstand».17 Man verwendete daher den Begriff einer Gemäl-poesy.18
Als Gegenstand der Imago konnte dabei alles Natürliche genommen werden,
da es vom Schöpfer der Welt stammte und so in ihm grundsätzlich die Verweiskraft auf den Sinn der Schöpfung gesehen wurde. Damit waren zugleich
Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit inhärent. Bei der Inscriptio kam es darauf
14 Bannasch (2007), 243. Zu Übereinstimmung und Differenz in der Beziehung von Gegenstand und Bedeutung in der Geschichte des Emblems vom Humanismus zum Barock vgl.
Scholz (2002), Kap. III, 4, 335–367.
15 Grundsätzlich zum Emblem als «offenem Kunstwerk»: Zymner (2002).
16 Wischermann (2000), 19.
17 Deutsche Encyklopädie (1783), 321.
18 Lucas Jennis als Verleger im Vorwort zu Cramer (1624), A IIII: «Emblemata, durch welche als mit einem redenden Gemählte / unter einer schlechten Figur / allerhandt verborgene Lehren vorgestellet werden».
249
an, dass sie sowohl den Bezug zum Gegenstand des Bildes als auch zu dem
mit dem Bild gemeinten Sinn herstellte. Die Beziehung und damit auch das
Verstehen konnte ganz unterschiedliche Schwierigkeitsgrade haben: War das
Emblem zur politisch-moralischen Erziehung bestimmt, musste es möglichst
eingängig sein. War es dagegen Teil eines intellektuellen Spiels, indizierte dies
von vorneherein einen höheren Grad an Komplexität, um die Fähigkeit zu
intermedialem Transferdenken, zum originellen Kombinieren, auf die Probe
zu stellen. Das Emblem sollte einprägsam aber nicht eingängig sein. In jedem
Fall war die Verweiskraft eines Emblems nie abgeschlossen. Während man
die Frage, ob ein Bienenkorb «richtig» wiedergegeben sei19 und auch – trotz
allem künstlerischem Geschmackswandel – die Frage nach der ästhetischen
Qualität seiner Darstellung abschließend festschreiben kann, eignet der darüber hinaus gehenden Verweiskraft des Bienenkorbs insofern eine grundsätzliche Offenheit, als die mit ihm gemeinten Themen wie Fleiß, Ordnung,
Nützlichkeit aber auch die Warnung vor Gewaltanwendung ihrerseits einem
sich immer wieder ändernden gesellschaftlichen Diskurs unterliegen.
II. Die Bibliotheken von Ottobeuren, St. Peter auf dem Schwarzwald
und St. Peter in Salzburg
Im dritten Schritt werden drei Klosterbibliotheken entsprechend der Programmausführung in chronologischer Reihung vorgestellt, in deren Gesamt­
ikonographie die unten zu vergleichenden Embleme zwar eher marginal
erscheinen, und dennoch zu einem Schlüssel des Verständnisses für diesen
Raumtypus allgemein wie für die einzelne Bibliothek im Kontext der jeweiligen Abtei werden können. Die großen Stifte des 18. Jahrhunderts stehen
in der Folge einer weltlich-imperialen Architektur und stellen «gesellschaftsgeschichtlich gesehen, die Verbindung zwischen einer geistlichen Institution
mit Kirche im alten Stil und einer weltlichen Herrschaft» dar.20 Seit 1700
wird dem «Kloster-Kirchengebäude» in den Formen des Kaisersaales und
19 Anregend dazu: Boehm (2001).
20 Hierzu: Sedlmayer (1938), 139.
250
des repräsentativen Stiegenhauses quasi ein Fürstenschloss einverleibt. Mit
dem Schloss wächst in den «Stiften noch eine dritte Sphäre, die zwischen
der kirchlichen und kaiserlichen Sphäre vermittelt»: die Sphäre der Bildung,
der Künste und Wissenschaften. Sie findet ihren baulichen Ausdruck in der
Bibliothek, die zu jedem vollständigen Stift des neuen Typus gehört.21
Die Äbte, die die Bauten vorantrieben, waren mit den Machtspielen der
Adelsgesellschaft ebenso vertraut, wie sie das Medium politischer Ikonographie zu nutzen wussten. Diente der Kaisersaal als Ort repräsentativer Hofhaltung, so war die Bibliothek der Schauraum, mit dem man der gelehrten wie
der höfischen Welt Anschauungen und Standpunkte des Klosters demonstrieren konnte. Zum Verständnis solcher Bildprogramme sind neben den
klassischen Mitteln der Interpretation wie Stil und Inhalt auch der jeweils
intendierte Adressat und der ideengeschichtliche Moment wichtige Zugänge.
Diese Bibliotheken, oft der Stolz äbtlicher Bauherren, waren in der Regel
ohne Heizung, also keine Arbeitsräume, sondern vielmehr der Ort, an dem
sich das Kloster als wissenschaftlich aufgeschlossene Institution zeigen konnte. Als Hintergrund zum Verständnis der Ikonographie muss man zwei Dinge
auf jeden Fall im Blick behalten: zum einen sind diese Bildprogramme in der
Hochzeit der Aufklärung entstanden, die das «Mönchtum» quasi zum Lieblingsfeind erkoren hatte, so dass man die Texte eines Montesquieu, Voltaire
oder Rousseau als Folie mitdenken muss. Zum anderen war es wie zur Zeit
des Humanismus auch in der Epoche der Aufklärung in den Klöstern selbst
höchst umstritten, ob und wie viel Wissenschaft dem Klosterleben bekömmlich wäre. Während die einen etwa in der Tradition eines Trithemius Gebet
und Wissenschaft für das Klosterleben als gleich wichtig ansahen, meinten
andere, dass ein Studium den jungen Mönch für ein Klosterleben ungeeignet
werden ließe. Die Bibliothek als «Seelenapotheke» anzusehen, wie es über
deren Tür in St. Gallen steht, war sicher keine gemeinsame Überzeugung.
Das älteste der im Folgenden behandelten Bildprogramme ist das vor
1720 fertig gestellte der Bibliothek in der Allgäuer Benediktinerabtei Otto­
21 Zur Bedeutung des Emblems im Kontext des Verständnisses von Bildung, insbesondere
auch zur aufklärerischen und demokratisierenden Dimension des Emblems: Bannasch
(2007).
251
beuren.22 Sie gehört zum verbreiteten Typus der Saalbibliothek mit umlaufender Empore. Die für Süddeutschland noch dem früheren Barock zuzuordnende Bauzeit zeigt sich in der grundsätzlich rechteckigen, durch die
geschwungene Galerie nur überspielten Grundform sowie in der auf einzelne
Felder begrenzten Deckenmalerei. Das dementsprechend auf drei größere Flächen verteilte und einseitig zu lesende Bildprogramm der Decke beginnt im
Hauptbild mit einem Lamm Gottes als Sitz göttlicher Weisheit, neben und
unter dem in elf weiblichen Allegorien die von ihr inspirierten Künste und
Wissenschaften zu finden sind. Im unteren Teil des Bildes begegnet man der
Gegenseite, den erfolgreich bekämpften Irrlehrern und einem hlg. Benedikt,
der ein heidnisches Apolloheiligtum durch eines ersetzen konnte, das Johannes
dem Täufer gewidmet ist. In St. Peter wird dieses kämpferische Thema später
Teil des die Mönche belehrenden Benediktszyklus, aber nicht mehr Darstellung der Bibliothek sein. In den beiden ovalen Bildern seitlich davon sind
auf der einen Seite Verteidiger der Dreifaltigkeit, auf der anderen Verehrer
Mariens zusammengeführt. An der östlichen Schmalseite befindet sich eine
Inschrift des Bauherren und vermutlich auch Erfinder des Bildprogramms,
Abt Ruppert, die ein Schlüssel zum Verständnis des Raumes sein kann: Musis
Palatium, Religioni Monimentum, Sui Monumentum. Bemerkenswert ist, dass
die Bibliothek an erster Stelle ein Palast der Musen, erst dann ein Bollwerk der
Religion und schließlich Erinnerung an den Bauherren sein soll. Vorsichtig
interpretiert deutet sich hier, wie in dem Emblem mit Musikinstrumenten, im
Sinne der Aufklärung eine Öffnung zur Vielfalt von Wissenschaft und Kunst
an, die auch in dem in Ottobeuren kurz danach erbauten Theatersaal ihren
Ausdruck findet.23 Dennoch bleibt es ein gegenüber Irrlehren kämpferisches
Programm, wie man es ähnlich in der fast zeitgleichen Bibliothek von Metten
findet. Dort erhält der hlg. Hieronymus (nach der Legenda Aurea) eine Strafe,
weil er ein Ciceronianus und kein Christianus sei und dem hlg. Odo wird als
Bild für seine Vergillektüre ein Becher mit giftigem Gewürm gezeigt. Mit beiden Bildern wird somit nicht nur nachdrücklich vor dem Studium der Profan22 Wischermann (2000).
23 Auf die Sichtbarmachung der bleibenden Spannung zwischen weltlichem und göttlichem
Wissen hat Warncke (1992) auch für zeitgenössische Darstellungen der Bibliotheken verwiesen.
252
wissenschaften gewarnt, sondern mit der Wahl gerade dieser Heiligen auch die
Chance zur Überwindung der von weltlichem Wissen ausgehenden Gefahren
angezeigt.24 «Damit wird in dem Programm der Bibliothek zu Metten dem
frühaufklärerischen Gedankengut des 18. Jh. eine strikte Absage erteilt».25
Die Bibliothek der vormaligen Abtei St. Peter auf dem Schwarzwald,26
oberhalb der Küche27 idealtypisch zwischen Kirche und Fürstensaal gelegen,
ist kunstgeschichtlich ein Sonderfall, da sie nicht als Ausdruck geistiger und
politischer Strömungen in einem Zug gebaut und ausgestattet wurde. Vielmehr war sie während der Entstehung über ein Jahrzehnt lang eine Bauruine
und, folgt man den Archivalien, dem Umbau in Gastzimmer oft näher als ihrer
Vollendung in der heutigen Form als «schönstem Rokokoraum des Breisgaus».
Nachdem trotz aller Widrigkeiten die Weihe der Kirche nach erstaunlich kurzer
Bauzeit im September 1727 erfolgt war, brachte Abt Bürgi im November 1728
den Vorschlag für umfangreiche Bauvorhaben in das Kapitel ein, wozu nach
einem Plan von Peter Thumb auch die Bibliothek gehören sollte. Doch erst ein
Jahrzehnt später konnte der Abt unter Zustimmung des Konvents den Vertrag
mit ihm abschließen. Beim Tod Bürgis im Juli 1739 war erst der Rohbau der
Bibliothek, also die Außenmauern «ohne Fenster und Türen», geschützt von
einem vorläufigen Dach, fertig gestellt. Unter seinem Nachfolger blieb dies
eine Bauruine. Als dieser nach zehn Jahren starb, hatte sich der Wind gedreht.
Andere Klöster wie Wiblingen hatten ihre Bibliotheken fertig gestellt und nach
dem Amtsantritt von Maria Theresia waren aus Wien die Signale deutlicher
geworden, dass auf Dauer wohl nur die Klöster, die im Sinne der Aufklärung
nützlich und offen für neues Denken wären, fortexistieren könnten – und eben
Letzteres zu demonstrieren, war der Sinn einer Bibliothek als Schauraum.28
24
25
26
27
Wrangel (1983), 61.
Friedrich (1995), 43.
Mühleisen / Wischermann (1980), 69f.; Mühleisen (2011), 58–61.
Bei der Reise durch süddeutsche Barockbibliotheken hört man, dass diese Position an das
Übereinander von Bauch und Kopf erinnern solle.
28 Ganz dezidiert vertritt diese Position für das Admonter Bildprogramm: Mannewitz
(1992). Sein Argument, dass in Admont mit Aurora und Apoll neben der christlichen
Weisheit die Fülle des Wissens in der Antike verkörpert sei, lässt sich insofern auf St. Peter
übertragen, als sich hier die Antike in dem mit dem Bibliotheksaal korrespondierenden,
wenig entfernten Gartensaal von Schloss Ebnet findet. Vgl. Mühleisen (2003).
253
Die Wahl eines dementsprechenden Abtes war quasi zur Überlebensfrage
geworden.
Der 1749 – völlig ungewöhnlich – einstimmig im ersten Wahlgang
gewählte Abt Steyrer holte Peter Thumb zurück, der nun zeitgleich mit der
Birnau am Bodensee den rechteckigen Rohbau der Bibliothek mit einer
geschwungenen Galerie als authentischen Rokokoraum vollendete. Das ikonographische Programm der Bibliothek, das trotz mehrfacher Bearbeitung
der letzten Jahrzehnte in Details geheimnisvoll bleibt, ist in seiner Grundidee
und in vielen Teilaspekten in einer durch die Aufklärung dem Mönchtum
Abb. 1
254
gegenüber kritischen bis feindlichen Umwelt eine geniale Demonstration
klösterlichen Selbstverständnisses. Der Ausgangsgedanke des Bildprogramms
ist überliefert: «Der Vater der Lichter und der heilige Geist», als Quelle
göttlicher Weisheit. Von dort werden «den Verfassern des Alten und Neuen Testamentes wie auch den Vätern der Kirche ihre Bücher» eingegeben.
Im Gang durch die Zeit, hier durch den Raum, wird die Weisheit weitergegeben, bis sie sich in der untersten Reihe auch bei den hier porträtierten
Bauherren der Bibliothek, sowie Reformäbten unterschiedlicher Zeiten und
eben in den zwischen ihnen positionierten Emblemen wiederfindet. Eine
zweite Idee bestimmt dieses Programm ebenso konsequent. Der Grundgedanke der Aufklärung, dass man sich, um zur Fülle des Wissens zu kommen,
neuen Methoden und Wissensfeldern öffnen müsse, führt ebenso von oben
nach unten durch dieses Programm und findet den intellektuell anregendsten
Ausdruck in den acht Emblemen. In deren Mehrdeutigkeit wird ihre alte
Funktion der Vermittlung göttlicher Weisheit mit der Chance zur Präsentation modernen Denkens genial verknüpft.29 Dass der Aufklärung ein anderer
Stellenwert zukommt, wird vor allem daran deutlich, dass im st. petrischen
Programm keine Feinde vorkommen, die bekämpft werden müssen oder, wie
kurz danach wieder in Schussenried, auf dem Weg in die Hölle sind.
Die baugeschichtlich älteste der hier einbezogenen Bibliotheken ist die
1706/1707 neu gestaltete, aber erst um 1770 als letzte mit einem Bildprogramm ausgestattete der Erzabtei St. Peter in Salzburg (Abb. 1).30 Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie nicht als Gesamtkonzept neu gebaut wurde, sondern im Umbau vormaliger Noviziatsräume als Zellenbibliothek von sieben
aufeinander folgenden Zimmern entstand. Dem entspricht die Einteilung
der Wissensgebiete in I. Manuskripte und Libri Prohibiti, II. Philologie und
Grammatik, III. Philosophie, IV. Historia, V. Jurisprudenz, VI. Theologie,
VII. hlg. Schrift und Vätertexte. Ausgerechnet im ersten, einzig heizbaren
Raum waren Arbeitsplätze eingerichtet, wobei die verbotenen Bücher vormals mit durchsichtigen Drahtgittern verschlossen waren. Die Themen der
29 Bannasch (2007) hat für die Entwicklung des Emblems bis hin zur Verwendung als Illustration herausgestellt, dass sich in den Gegenständen der Pictura immer, wenn auch verschieden, göttliches Wissen wiederfinden lässt.
30 Hierzu die beste Literatur: Hahnl (1977).
255
Deckenbilder, damals «Oberbodenbilder» genannt, entsprachen den jeweiligen Wissensgebieten. Der Raum der verbotenen Bücher zeigt im Deckenbild die Allegorie der über den Drachen des Unglaubens triumphierenden
Kirche, die Furien der Zwietracht und einige von der Hölle verschlungene
Irrlehrer. Im Raum der Philologie findet man an der Decke die Allegorie
der alles Wissen umfassenden Universitas, wo neben Vertretern der Antike
sowie Instrumenten von Geographie und Astronomie auch Symbole von
Musik und bildender Kunst für ein umfassendes Wissen stehen. Auf dem
Bild im Raum der Philosophie steht eine bekrönte Frau vor einem auf einem
Thron sitzenden Mann, nach bisheriger Interpretation die hlg. Katharina, die
vor dem Kaiser die heidnischen Philosophen besiegt, angesichts des Patronats Katharinas für die Philosophie eine gut nachvollziehbare Deutung.
Aus der Bildkomposition lässt sich jedoch auch schließen, dass die Frau mit
dem Mann auf dem Thron und nicht mit den Gelehrten um sie herum im
Gespräch ist. Dann könnte es sich bei dieser Darstellung eher um die Prüfung König Salomons31 durch die Königin von Saba handeln, ein Ereignis,
in dem die Aufklärung den frühesten Nachweis sah, dass es neben der von
Gott gegebenen Weisheit der Propheten eine ebenso qualitätvolle Weisheit
der Welt, der autonomen «Selbstdenker» gebe. In einigen anderen Programmen (St. Peter, Schussenried, Ochsenhausen, Admont) taucht eben dieses
Thema auf und die zwei Schlüssel als Attribut der Philosophie weisen darauf
hin, dass mit ihr die Weisheit von Himmel und Erde eröffnet wird. Dieser,
der Aufklärung näher kommenden Interpretation wird für Salzburg auch
deswegen der Vorzug gegeben, weil hier z.B. auch die Lektüre Ciceros positiv
gesehen wird, die in konservativen Programmen wie in Metten als schädlich
dargestellt wird. Im Raum der Geschichte verwehrt Ambrosius als Bischof
von Mailand Kaiser Theodosius I, wegen dessen Blutbad von Thessaloniki
den Zugang zur Kathedrale. Im Deckenbild der Jurisprudenz findet man den
hlg. Ivo, einen Juristen, der sich für das Recht der Armen eingesetzt hat, und
im Raum der Theologie die Kirchenlehrer Hieronymus, Augustinus, Thomas
von Aquin und den Gelehrten Beda Venerabilis. Im Raum der hlg. Schrift
31 Zur zentralen Funktion König Salomons in einer Bibliotheksemblematik vgl. Lesky
(1970), 83f. und Abb. 36.
256
legt der zwölfjährige Jesus im Tempel von Jerusalem den Schriftgelehrten das
Erste Testament aus. Diesen sieben Themenbildern sind nun jeweils Embleme
zur Seite gestellt, von denen einige vergleichend in den Blick kommen sollen.
In einem kursorischen Vergleich der drei Gesamtprogramme wird man
im Laufe eines halben Jahrhunderts durchaus eine Öffnung gegenüber der
Vielfalt der Wissenschaften und Künste und zumindest auch in Ansätzen
gegenüber einer aufgeklärten Toleranz feststellen können. Dass dies nicht
eine einfache Entwicklung ist, zeigt sich etwa in dem Programm von Schussenried, wo das Judentum wieder unter die Ketzer eingereiht ist, während
es fünf Jahre zuvor im st. petrischen Programm als positives Attribut der
Geschichte erscheint.32
III. Muscheln, Bienenkorb, Granatäpfel, Brunnen und Mond (Abb. 2)
Mit dem Vergleich solcher Embleme, die jeweils in mindestens zwei der drei
ausgewählten Bibliotheken vorkommen, sollen nun unterschiedliche Formen
der kognitiven Funktion deutlich gemacht werden. Mit wenigen Hinweisen auf
mögliche Vorlagen kann die genaue Quelle nicht im Einzelnen nachgewiesen
werden. Eine kursorische Durchsicht der über 2.000 Embleme in dem 1702
von dem Jesuiten Boschius herausgegebenen Band ergab, dass sich darin alle
hier behandelten Bildgegenstände, einige, z.T. wenig veränderte Lemmata und
schließlich auch komplette Embleme nachweisen lassen.33 Sicher ist, dass die
Erfinder der Bildprogramme in ihren Bibliotheken unter den Hunderten von
Emblembüchern des 16. bis 18. Jahrhunderts einschlägige Literatur fanden.34
32 Für Admont hat Mannewitz (1989) das Konzept eines aufklärerischen Bildprogramms
überzeugend dargelegt: «Es war der ‹programmatische› Versuch, den Ansichten der Aufklärung und des Staates entgegenzukommen und dem scheinbaren Widerspruch zwischen Vernunft und Glaube im Vorfeld entgenzutreten» (ebd., 254).
33 Boschius (1702).
34 Nachgewiesen für St. Peter von Wischermann (1977), 121. Hinweis auf Emblemliteratur
in: Lechner (1977), 3. Die Frage, ob die Inventoren der jeweiligen Bibliotheksemblematik
sich vornehmlich an Emblembüchern eigener Ordensmitglieder (vgl. ebd., 7) orientierten, muss offen bleiben.
257
Ein Motiv, das sich in allen drei Bibliotheken, z.T. mehrfach findet, ist
die Perlmuschel. Gerade dieser Gegenstand hat in der Emblematik ein breites
Bedeutungsspektrum von der List einer Muschel, die Fische fängt oder den
Schnabel der Möwe hält, die sie aussaugen will, bis zur Empfängnis göttlicher Gnade, wenn der Strahl der Morgensonne auf sie trifft. In Ottobeuren
ist die Muschel an der Decke in zwei Emblemen nebeneinander präsent:
Im ersten ist sie nur soweit geöffnet, dass man das göttliche Geschenk der
Perle sehen, aber nicht entnehmen kann, im andern Bild sieht man die Perlen als Erfolg menschlicher Arbeit in den offenen Muscheln. Die Idee, dass
die von Gott gegebene Weisheit der Arbeit des Menschen bedarf, um für
ihn fruchtbar zu werden, lässt sich schon in der antiken Mythologie finden
und ist ein Thema eben gerade der Bibliotheken der Aufklärungszeit. Im
Emblem unter der Empore der Ottobeurer Bibliothek liegt die geschlossene
Muschel am Rand des Meeres, über dem auf einem Hügel eine Kapelle steht.
Das Schiff im Hintergrund ist wohl eher schmückendes Beiwerk, wenngleich
gerade das Segelschiff häufig ein emblematisches Motiv ist. Die Inscriptio
besagt Latet intus – Innen bleibt es verborgen, das Innere bleibt ein Geheimnis. Nimmt man als Vorbild das Motto bei Boschius Latent res eximiae, d.h.
dass die außergewöhnlichen Dinge verborgen bleiben, so wird man dieses
Emblem durchaus vieldeutig als Hinweis auf Grenzen wissenschaftlichen
Arbeitens verstehen können. Das Geheimnis des Innenraums könnte auch
auf die darüber sichtbare Kapelle anspielen.
Die Muscheln in St. Peter liegen dagegen in einem prächtigen Barockraum auf einem Tisch und das Motto Pretiosa latent, das auf die umhüllten
Kostbarkeiten verweist, scheint, wenn man mit ihnen die Bücher assoziiert,
geradezu als Einladung, sich an deren Enthüllung zu wagen. Wenn man die
acht st. petrischen Embleme insgesamt als Lob dieser Bibliothek deutet, wird
hier die Humilitas oder Modestia angesprochen, die Zurückhaltung des kostbaren Raumes im Gesamt des prächtigen barocken Klosterbaus. Und in der
Tat, geht man über den oberen Gang der Klausur, so lässt die im Vergleich
mit anderen Klöstern unscheinbare Tür den dahinter verborgenen Schatz
nicht ahnen. Die Muscheln können jedoch auch hier unmittelbar auf die
Bücher und die in ihnen verborgenen Kostbarkeiten verweisen, was sie der
Hochschätzung der Buchweisheit durch die Aufklärung näher brächte.
258
Abb. 2
259
In Salzburg findet man die im Meer liegende Perle im Raum der hlg.
Schrift und der Kirchenväter. Das ganz ähnliche Motto Intus Pretiosa recondit, wird sich, folgt man Alfred Hahnl,35 auf die in diesem Raum versammelten Bücher der hlg. Schrift beziehen: «Nur wer sie öffnet, wird den Schatz
gewinnen, der darin verborgen ist». Nimmt man die Sonnenembleme auf
der Gegenseite hinzu, gewinnt man eine Verbindung von Sonnenaufgang als
Hervorkommen göttlicher Gnade zu der von ihr beschienenen Kostbarkeit
der hlg Schrift in der Muschel. Schon der Vergleich des an sich einfachen
Muschelmotivs dazu noch mit ganz ähnlichen Inschriften, in den drei Räumen, macht die Raffinesse der emblematischen Vieldeutigkeit sichtbar. Nicht
Details der Pictura, sondern der Ort im Raum und das Gesamtkonzept einer
Emblematik führen zu einem angemessenen Verständnis, das jedoch immer
wieder neu zu diskutieren ist.
In zwei Bibliotheken, in Ottobeuren und St. Peter, findet man jeweils
einen Bienenkorb auf einem tischähnlichen Gestell. Biene und Bienenkorb
gehören sicher zu den vielfältigst verwendeten Bildmotiven.36 Das reicht von
der Warnung, dass wenn man anderen Übles zufügt, man selbst darunter
am meisten leidet – Bienen sterben bekanntlich nach dem Stechen – über
die Warnung, dass beim Gewinn des Honigs wegen der Gefahr gestochen
zu werden, Süßes mit Bitterem vermischt sei – Dulcia Mixta Malis, – bis zur
politischen Verwendung als Mahnung an den Fürsten, dass man die mittleren Ratschläge fliehen soll (Abb. 3) – wenn man an den Honig will, ist
falsche Milde unangebracht: Man muss den Korb schon ganz eintauchen,
sonst wehren sich die Bienen in einer Weise, dass man nicht nur nicht an den
Honig kommt, sondern auch noch gestochen wird.37 In der Bibliothek von
Ottobeuren wird mit diesem Motiv der sprichwörtliche Bienenfleiß angemahnt: Hinc procul ignavi – hier ist man von Faulheit weit entfernt.38 Mit
diesem recht einfachen, an Volksweisheit orientierten Emblem wird sowohl
35 Hahnl (1977), 34.
36 Schon in einem der ältesten Embleme mit einem Bienenkorb wird dieser zum Bild wechselseitigen Nutzens: Camerarius (2009), 312f. und 570–572.
37 Mühleisen (1982), 39–41.
38 Möglicherweise sind die Inskriptionen in Ottobeuren entstanden in Anlehnung an:
Boschius (1702).
260
Abb. 3
der Raum als Ort des Fleißes wie auch dessen Nutzer dazu gemahnt und dafür
gelobt. Das Vorbild bei Boschius enthält eine ähnliche Mahnung: Discedite
Segnes – Geht weg vom Trägen. In der Bibliothek von St. Peter, wo neben
dem Bienenkorb eine Landschaft zu sehen ist, deutet die Inscriptio eine ganz
andere Richtung des Verstehens an: Distendunt Nectare Cellas – Prall füllen sie die Vorratskammern mit Honig.39 Dieses aus der Georgica von Vergil
39 Für die Beschreibung der Embleme von St. Peter: Wischermann (1977).
261
stammende Motto bezieht sich also nicht auf die Benutzer, sondern bringt
in der Verbindung mit der Pictura eine Tugend dieses Raumes zur Anschauung: Wie die Bienen den Honig in Waben sammeln, so trägt das Kloster die
Bücher in den Regalen zusammen, nicht für sich selbst, sondern für alle, die
das zu nutzen wissen. In der Verbindung von Motto und Bild wird somit
einer der Hauptvorwürfe der Aufklärer, die Selbstsucht des Mönchtums,
zurückgewiesen und die eigene Uneigennützigkeit herausgestellt.
Ein auf den ersten Blick schwieriger zu verstehender Gegenstand ist der in
St. Peter und in Salzburg zu findende Granatapfel. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts als emblematisches Motiv bekannt, bezieht sich die mit ihm intendierte Aussage traditionell auf seinen eigenartigen doppelten Geschmack. So
kann er zum grundsätzlichen Bild menschlichen Lebens werden: «Es gibt
für das menschliche Leben keine reine Freude, es mischt sich bald irgendein
Schmerz hinein». In der Bibliothek von St. Peter liegen mehrere geöffnete
Granatäpfel auf einem Tisch wiederum in einem prächtigen Barockraum. Das
fast wörtlich aus Picinellis Mundus Symbolicus übernommene Motto Nulli Sua
Munera Claudunt will sagen, dass, der Granatapfel niemandem seine Gaben
vorenthält, die nach der Auffassung der Zeit süß und bitter waren. Mit diesem
Emblem sind gleich zwei Vorwürfe der Aufklärer widerlegt und zugleich Versprechen abgegeben, das eine, dass hier nicht nur die apologetische, sondern
eben auch die bittere Literatur gesammelt wird und dass diese Büchersammlung im Sinne einer Liberalitas für niemanden verschlossen bleiben soll.
In Salzburg befindet sich der einzelne, ebenfalls offene Granatapfel im
Raum der Philosophie (Abb. 4). Die dazu gehörende Inscriptio Vulneribus
Profundit Opes – Durch die Wunden lässt er die Schätze hervorströmen,
ist nach der bisherigen Deutung ein Hinweis auf Christus, in dem nach
dem Kolosserbrief alle Schätze der Welt verborgen sind. Nimmt man freilich das Deckenbild mit der Königin von Saba als Verweis auf den Wert
auch der weltlichen Philosophie und erinnert man sich an die Allegorie der
Philosophie mit den zwei Pfeilen, so könnte sich hier andeuten, dass das
Eindringen auch in die weltliche Philosophie der Aufklärung zwar Wunden
schafft, zugleich aber neue Schätze eröffnet. Nimmt man dazu noch in den
Blick, dass in diesem Raum der kurz zuvor verstorbene Aufklärer Christan
Wolff positiv dargestellt ist, wird man der Ikonographie in diesem Raum
262
vielleicht eine andere, etwas irdischere und aufgeklärtere Richtung als bislang geben können.
Dies wird auch unterstrichen, wenn man die Salzburger Brunnenembleme
zu verstehen sucht. Wiederum ist der Brunnen ein Motiv, das seit der Mitte
des 16. Jahrhunderts zum Standardrepertoire der Emblematik gehört. Auch
dieses Bild konnte in seiner Geschichte ganz unterschiedliche Bedeutungen
verkörpern, vom «Heylbrunnen»,40 von dem Glück und Gesundheit ausgehen, oder der Stärkung der Begabung durch immer wieder neues Schöpfen
aus dieser Quelle bis zum Motiv für die Dummheit, wenn einer einen neuen
Brunnen gräbt und nicht darauf achtet, dass es daneben schon längst einen
gibt – ein Motiv, mit dem man in einer Bibliothek sicher auch manche wissenschaftliche Arbeit anschaulich machen könnte. Während der Brunnen in
Kirchen ein Mariensymbol (Bsp. Oberthingau) ist, kann er wie in der Emblematik der Kirche hlg. Geist in Neuburg a.D. selbst zum Bild für den Heiligen
Geist als Quelle der sieben Gaben werden.41 Die dafür gewählte, der st. petrischen ähnlichen Inscriptio FONS OMNIBUS UNUS – eine Quelle für alle,
könnte ebenso als Motto des Brunnenemblems einer Bibliothek stehen – nur
bekommt es dort durch den räumlichen Kontext und den spezifischen Adressatenkreis eine andere Bedeutung. In einem der ältesten Embleme mit einem
Ziehbrunnen wird dieser mit dem Motto motu clarior (durch Bewegung reiner) «als Sinnbild für die Notwendigkeit gedeutet, den Geist durch ständige
Übung zu schulen»,42 um ihn klar wie das Wasser zu halten.
Abb. 4
40 Cramer (1624), Pars II, Emblem XI.
41 Warncke (2005), 131–133.
42 Camerarius (2009), 26f. sowie 425f.
263
Abb. 5
Der Springbrunnen von Salzburg im Raum der Philosophie steht in
einem Formalgarten, darüber das Motto Erigor et Mundor – Ich werde aufgerichtet und gereinigt (Abb. 5). Könnte es nicht sein, dass man statt an den
sündigen, von Christus aufgerichteten Menschen in diesem Brunnen ein Bild
der neuen Philosophie sehen kann, die von dem gegenüber dargestellten Philosophen aufgerichtet und im Wortsinn entschuldigt wurde? Und, könnte es
nicht sein, dass gerade in Salzburg, wo die Universität der Benediktiner auch
mit Naturwissenschaften für ein modernes Denken stand, dieser Brunnen
für den Typus einer «katholischen Aufklärung» steht: aufgerichtet, gereinigt
und als Leben spendende Quelle für einen Garten nach französischem Vorbild, also dem Land, wo die Aufklärung am weitesten fortgeschritten war?
Auch das zweite Brunnenemblem von Salzburg, im Raum der Geschichte ist
einer wissenschaftlich-weltlichen Deutung zugänglich. Wenn mit dem Mot264
to Refert Quo Fonte Bibatur zwar die Warnung vor falscher Lektüre verbunden sein kann, so lässt sich doch nicht in Abrede stellen, dass dies auch eine
Aufforderung sein kann, sich auch in der Geschichte der richtigen Quellen
zu bedienen, also der schon aus dem Humanismus herrührenden Option zu
folgen.
Gegenüber diesen sicher mehrdeutigen in Salzburg ist das zwanzig Jahre
früher konzipierte st. petrische Brunnenemblem im Kontext der bisherigen
Argumentation eher leicht zu entschlüsseln (Abb. 6). Hier steht der Springbrunnen, der aus mehreren Röhren Wasser gibt, vor dem Barockbau und das
Motto Se Se Sitientibus Offert ist eine klare Einladung, dass diese Bibliothek
für jeden Wissensdurstigen ebenso offen steht, wie der Brunnen vor dem
barocken Schlosskloster, der in der Realität kurz zuvor aufgestellt worden
war. Das Emblem, das in der Tradition von Picinelli für die Hospitalitas, die
Gastfreundschaft steht, weist ebenso eindeutig den Vorwurf der Aufklärer
zurück, dass die Klöster nur für sich sorgten und handelten.
Abb. 6
265
Ein letztes Motiv, das unter allen drei Bibliotheken eine vergleichende
Deutung zulässt, ist der Vollmond, der in seinen Deutungsmöglichkeiten
quasi natürlich vom religiösen Symbol über die Liebe bis zur Politik reicht.
Der Inventor von Ottobeuren hat das Motto Acceptum Communicat Orbi
wörtlich aus dem Emblembuch von J. W. Zincgreff (1501) übernommen,
wo das von der Sonne an den Mond gegebene und von diesem der Erde
vermittelte Licht als Weitergabe der Gnade durch Christus gedeutet wird.
Dies wird so auch für das frühe Programm in Ottobeuren zu übernehmen
sein. Man könnte dies als Variante auch als die göttliche Weisheit (Sonne)
deuten, die über das Buch der Welt (Mond) vermittelt wird. In St. Peter wird
aus dem Vollmond mit dem Motto Plena Sibi Ac Aliis, wiederum eine Aussage über die Bibliothek – bei Boschius ist dies ein Emblem für die Jungfrau
Maria. Wenn der Mond für sich selbst voll ist, behält er das Licht nicht für
sich, sondern gibt es an die Welt ab – ebenso ist es mit der Bibliothek, die das
Licht der Weisheit, das in ihren Büchern steckt, an die anderen weiter gibt.
Bedenkt man, dass das Grundthema dieses Raumes das Licht der Weisheit
ist, in der göttliche Sapientia und Licht der Aufklärung zusammen kommen,
ist diese Idee hier nochmals ganz subtil aufgenommen: die Fülle des Lichts
schließt keine Bereiche aus.
Der Mond in Salzburg leuchtet im Raum der Handschriften und der
verbotenen Bücher mit der Inschrift: In Tenebris Lucet und wird damit als
leuchtendes Gegenbild gegen die häretischen Schriften gedeutet (Abb. 7).
Doch so ganz klar wird nicht, wer hier wem in der Dunkelheit leuchtet, zumal
im gegenüberliegenden Emblem ein Morgenstern den neuen Tag ankündigt.
Gerade wenn für die Texte Vorlagen in Dies Irae gefunden werden, könnte es
nicht auch sein, dass diese beiden Embleme, der Mond und der Morgenstern,
so etwas wie Gegenbilder sind und in der Dunkelheit der verbotenen Bücher
zu Vorboten einer neuen, helleren Zeit werden? Embleme sollen schließlich
verbergen und entbergen. «Die eigentliche Aussage des Emblems (...) bleibe
immer dem Adressaten überlassen. Mit seiner Eigenleistung sei er geradezu
am Emblem beteiligt, und selbstverständlich sei der Witz der Sache umso
größer, je mehr Geist vom Adressaten gefordert werde».43
43 Zymner (2002), 21.
266
Abb. 7
Als ein Ergebnis dieses Vergleichs kann man auf jeden Fall festhalten, dass
nicht nur Inscriptio und Pictura einen Zugang zur Deutung eines Emblems
geben, sondern dass der Kontext des jeweiligen Raumes und hier insbesondere dessen generelles ikonographisches Thema unterschiedliche Zugänge der
Interpretation eröffnen. Auf diese Weise lassen sich über dieses Medium Rückschlüsse nicht nur auf Denkweisen des jeweiligen Klosters, sondern in größerem Rahmen auch Entwicklungsverläufe übergreifender Denkströmungen
aufspüren.44 In einer Bibliothek ist alles enthalten, wie ein Emblem im ersten
Raum in Salzburg erzählt, man kann sich in ihr auf eine Entdeckungsreise
begeben. In einem Emblem des letzten Raumes ist ein Mönch dargestellt, der
eben dies getan und sich durch die Lektüre verändert hat (Abb. 8). Wenn auf
seinem Schreibtisch ein Globus mit astronomischem Gerät steht, scheint das
ein typisch emblematischer Hinweis zu sein, dass man auch dieses Programm
aufgeklärter interpretieren kann, als es auf den ersten Blick erscheint.
44 Gregor Lechner OSB machte darauf aufmerksam, dass die Bildprogramme der Bibliotheken gerade durch Konstanz und Differenz zur sensiblen Sonde für den Gang von Denkweisen werden. Siehe Lechner (1996).
267
Abb. 8
Auch wenn die Kunst des Emblems in der hier vorgestellten Form eine
Zeiterscheinung vor allem des 16. bis 18. Jahrhunderts war, so können dennoch die mit ihr aufgeworfenen Fragen auch dem aktuellen Diskurs über Originalität, Authentizität oder Funktionalität von Kunstwerken Impulse geben.
Wenn der Mond hier kein Mond ist, sondern für eine Bibliothek steht, bieten
sich Vergleiche mit der Moderne, etwa Joseph Beuys an. Die Installation der
«Schlitten», die offenkundig den Kombi fluchtartig verlassen – er nannte sie
Mäuse – lässt unmittelbare Assoziationen zu einem Emblem über Guillaume
de la Perrière aus dem Jahr 1553 über den Schmeichler zu, mit dem zusammen die Ratten das einstürzende Haus verlassen. Man sagte über die Kunstwerke von Beuys, dass sie zum Denken verführen und letztlich immer auch
ein Beitrag zum Gesellschaftsdiskurs sein wollten. Eben das wollten auch die
268
Embleme barocker Klosterbibliotheken sein, Rätsel und Argument. Die hier
angedeutete Möglichkeit, ein Emblem unterschiedlich verstehen zu können,
kann nicht nur zu einer differenzierteren Auseinandersetzung mit der Aufklärung anregen, sondern lässt es in «seiner Entwicklung von allegorischen
zu concettistisch-spielerischen Deutungsmodi»45 geradewegs zum modernen
Kunstwerk werden.46
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45 Zymner (2002), 24.
46 Warncke (2005), 167: «Im spielerischen Bemühen, die Sprache der Kunstwerke als Angebot zu begreifen, ihre Mitteilungen aufzufinden und weiterzudenken, bezeugten die Zeitgenossen ihren Respekt vor dem Bilde als einem eigenen Medium der Erkenntnis».
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